Urteil des BGH vom 13.09.2018

Leitsatzentscheidung

ECLI:DE:BGH:2018:130918BVZB231.17.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 231/17
vom
13. September 2018
in der Abschiebungshaftsache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
AufenthG § 72 Abs. 4 Satz 1
Auch bei einem nach § 154 f StPO eingestellten Verfahren bedarf es des Ein-
vernehmens der Staatsanwaltschaft nach § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG.
BGH, Beschluss vom 13. September 2018 - V ZB 231/17 - LG Kleve
AG Kleve
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 13. September 2018 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterin Weinland und die Richter
Dr. Kazele, Dr. Göbel und Dr. Hamdorf
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss
der 4. Zivilkammer des Landgerichts Kleve vom 12. Oktober 2017
aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Behandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das
Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Der Gegenstan
dswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.
Gründe:
I.
Der Betroffene ist marokkanischer Staatsangehöriger. Er reiste Anfang
2016 nach Deutschland ein und stellte unter einem Aliasnamen einen Asylan-
trag. Dieser wurde als offensichtlich unbegründet abgelehnt und die Abschie-
bung angedroht. Ende 2017 wurde der Betroffene in den Niederlanden aufge-
griffen und nach Deutschland überstellt. Mit Beschluss vom 17. Mai 2017 hat
das Amtsgericht Haft bis zum 31. Juli 2017 zur Sicherung der Abschiebung des
Betroffenen angeordnet. Die nach seiner Abschiebung nach Marokko am
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10. August 2017 auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung ge-
richtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbe-
schwerde verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter.
II.
Nach Ansicht des Beschwerdegerichts ist die Haftanordnung rechtmäßig.
Es liege der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m.
§ 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG vor.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Der Haftrichter und das
Beschwerdegericht haben nicht aufgeklärt (§ 26 FamFG), ob § 72 Abs. 4
AufenthG der Abschiebung des Betroffenen entgegenstand.
1. Ein Ausländer, gegen den öffentliche Klage erhoben oder ein straf-
rechtliches Ermittlungsverfahren eingeleitet ist, darf nach § 72 Abs. 4 Satz 1
AufenthG - von den Ausnahmen gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5 AufenthG ab-
gesehen - nur im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft abge-
schoben werden. Fehlt das Einvernehmen, scheidet die Anordnung der Haft zur
Sicherung der Abschiebung eines Ausländers aus (Senat, Beschluss vom
27. September 2017 - V ZB 26/17, juris Rn. 4 mwN).
2. Ob § 72 Abs. 4 Satz 1 FamFG einer Abschiebung des Betroffenen
entgegenstand, haben der Haftrichter und das Beschwerdegericht nur unzu-
reichend geprüft. Die Haftanordnung verhält sich zur Frage des Einvernehmens
der Staatsanwaltschaft oder dessen Entbehrlichkeit nicht. Das Beschwerdege-
richt führt lediglich aus, es sei weder dargetan noch ersichtlich, dass die Vo-
raussetzungen für die Notwendigkeit des Einvernehmens der Staatsanwalt-
schaft vorliegen. Ob es sich tatsächlich so verhielt, hätten der Haftrichter und
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das Beschwerdegericht anhand der über den Betroffenen geführten Ausländer-
akte prüfen müssen (vgl. Senat, Beschluss vom 12. Oktober 2016 - V ZB 8/15,
juris Rn. 15). Die Prüfung hätte ergeben, dass sich - worauf die Rechtsbe-
schwerde zu Recht hinweist - in der Ausländerakte ein Schreiben der Staats-
anwaltschaft Bielefeld vom 24. April 2017 befindet, in dem diese mitteilt, dass
sie ein gegen den Betroffenen wegen Diebstahls geführtes Ermittlungsverfah-
ren nach § 154f StPO eingestellt habe. Auch ein nach dieser Vorschrift einge-
stelltes Verfahren ist von dem Zustimmungserfordernis nach § 172 Abs. 4
FamFG erfasst. Bei der Einstellung nach § 154f StPO handelt es sich um eine
nur vorläufige Einstellung des Verfahrens vor Erhebung der öffentlichen Klage
wegen längerer Abwesenheit des Beschuldigten oder eines anderen in seiner
Person liegenden Hindernisses. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft sind
lediglich unterbrochen und werden bei Wegfall des Hindernisses fortgesetzt
(vgl. KK-StPO/Diemer, StPO, 7. Aufl., § 154f Rn. 1). Angesichts des nur vorläu-
figen Charakters bedarf es daher auch bei einem nach § 154f StPO eingestell-
ten Verfahren für eine Abschiebung des Betroffenen des Einvernehmens der
Staatsanwaltschaft (vgl. NK-AuslR/R. Hofmann, AufenthG, 2. Aufl., § 72
Rn. 34), es sei denn, es liegt eine Ausnahme gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5
AufenthG vor.
IV.
Der angefochtene Beschluss ist aufzuheben (§ 74 Abs. 5 FamFG). Der
Senat kann nicht in der Sache selbst entscheiden, da weitere Sachverhaltser-
mittlungen erforderlich sind. Die Sache ist daher an das Beschwerdegericht zu-
rückzuverweisen (§ 74 Abs. 6 Satz 2 FamFG). Dieses wird aufzuklären haben,
ob das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft mit der Abschiebung des Be-
troffenen vorlag oder ob es ausnahmsweise gemäß § 72 Abs. 4 Satz 3 bis 5
AufenthG entbehrlich war. Dabei ist zu beachten, dass eine
„begleitende“ Straf-
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tat im Sinne von § 72 Abs. 4 Sätze 4 und 5 AufenthG nur vorliegt, wenn zwi-
schen der Straftat mit geringem Unrechtsgehalt und einer Straftat nach § 95
AufenthG oder § 9 FreizügigG/EU ein inhaltlicher Zusammenhang besteht (vgl.
hierzu Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 - V ZB 179/15, zur Veröffentlichung
vorgesehen). Die gebotene Gewährung des rechtlichen Gehörs zu den von
dem Beschwerdegericht zu treffenden Feststellungen kann dadurch erfolgen,
dass dem Verfahrensbevollmächtigten des Betroffenen Gelegenheit zur Stel-
lungnahme eingeräumt wird (vgl. Senat Beschluss vom 27. September 2017
- V ZB 26/17, juris Rn. 9).
Stresemann Weinland Kazele
Göbel Hamdorf
Vorinstanzen:
AG Kleve, Entscheidung vom 17.05.2017 - 22 XIV (B) 18/17 -
LG Kleve, Entscheidung vom 12.10.2017 - 4 T 129/17 -