Urteil des BGH vom 12.09.2018

Urteil vom 12.09.2018

ECLI:DE:BGH:2018:120918BIVZB1.18.0
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IV ZB 1/18
vom
12. September 2018
in dem Rechtsstreit
- 2 -
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Vorsitzende
Richterin Mayen, den Richter Felsch, die Richterin Harsdorf -Gebhardt,
die Richter Lehmann und Dr. Götz
am 12. September 2018
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde des Klägers gegen den Beschluss
des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom
6. Dezember 2017 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
Gegenstandswert: bis 500 € (vgl. BGH, Beschluss vom
18. September 2008 - V ZB 40/08, NJW 2008, 3572
Rn. 21)
Gründe:
I. Der Kläger hielt bei der Beklagten eine private Kranken - und ei-
ne Pflegeversicherung. Die Beklagte erklärte die Anfechtung wegen a rg-
listiger Täuschung sowie hilfsweise die Kündigung und den Rücktritt. Mit
seiner beim Landgericht erhobenen Klage begehrt der Kläger unter a n-
derem die Feststellung des Fortbestehens der Krankenversicherung und
der Pflegeversicherung. Das Landgericht hat den Rechtsstreit hinsicht-
lich der beantragten Feststellung, dass die private Pflegeversicherung
fortbesteht, abgetrennt. Insoweit hat es den Rechtsweg zu dem Zivilg e-
richt für unzulässig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht
Leipzig verwiesen. Die dagegen vom Kläger eingelegte sofortige Be-
1
- 3 -
schwerde hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der zugela s-
senen Rechtsbeschwerde verfolgt der Kläger sein Ziel, eine Sachen t-
scheidung im Rechtsweg vor den ordentlichen Gerichten herbeizuführen,
weiter.
II. Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ZPO, § 17a Abs. 4 Satz 4
GVG statthafte und auch im Übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist
nicht begründet.
1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts, dessen Entsche i-
dung unter anderem in NJW -RR 2018, 221 veröffentlicht ist, geht es hin-
sichtlich der Pflegeversicherung um Streitfragen nach dem SGB XI, die
dem Sozialgericht zugewiesen sind. Die Beendigung des privaten Pfl e-
geversicherungsvertrages sei in § 110 Abs. 4 SGB XI geregelt. Damit
seien zumindest die hilfsweise ausgesprochenen Kündigungs- und Rück-
trittserklärungen Gegenstand des SGB XI. Auch hinsichtlich der Anfech-
tung spielten Erwägungen des SGB XI eine wesentliche Rolle. Es er-
scheine darüber hinaus nicht sachdienlich, Rechtsstreitigkeiten in Bezug
auf eine private Pflegeversicherung danach aufzuspalten, ob eine A n-
fechtung, ein Rücktritt oder eine Kündigung erklärt wurde.
2. Das hält rechtlicher Nachprüfung stand.
a) Nach § 51 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Satz 1 SGG entscheiden die Ge-
richte der Sozialgerichtsbarkeit auch über privatrechtliche Streitigkeiten
in Angelegenheiten der privaten Pflegeversicherung nach dem Sozialge-
setzbuch - Elftes Buch (SGB XI). Dazu zählen die Rechtsstreitigkeiten
zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer über priva t-
rechtliche Pflegeversicherungsverhältnisse (vgl. BT -Drucks 14/5943,
2
3
4
5
- 4 -
S. 24; BVerfG NVwZ 2008, 772 [juris Rn. 49]; BSGE 79, 80 = VersR
1998, 486 [juris Rn. 10 ff.]; BSG VersR 2007, 1074 Rn. 9; OLG Celle,
Beschluss vom 3. Juli 2018 - 8 W 24/18, juris; OLG Stuttgart r+s 2017,
111; KG VersR 2016, 138; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/
Schmidt, SGG 12. Aufl. § 51 Rn. 27; jurisPK-SGG/Flint, § 51 Rn. 151 ff.
[Stand: 17. August 2018]; Hommel in Peters/Sautter/Wolff, SGG § 51
Rn. 433 [Stand: November 2017]; Koch in Kasseler Kommentar zum So-
zialversicherungsrecht § 110 SGB XI Rn. 27 [Stand: Mai 2018]; Philipp in
LPK-SGB XI, 4. Aufl. Verfahren und Rechtsschutz: SGB XI und SGB XII
Rn. 72; HK-VVG/Rogler, 3. Aufl. § 192 Rn. 43; Langheid/Rixecker/
Muschner, VVG 5. Aufl. § 192 Rn. 42a; MünchKomm-VVG/Boetius,
2. Aufl. Vorbemerkung zu §§ 192 bis 208 Rn. 491; Reinhard in Looschel-
ders/Pohlmann, VVG 3. Aufl. § 192 Rn. 54; Weber in Bach/Moser, Pri-
vate Krankenversicherung 5. Aufl. Teil H Rn. 58; Voit in Prölss/Martin,
VVG 30. Aufl. § 192 Rn. 219; Stormberg in Beckmann/Matusche-Beck-
mann, Versicherungsrechts-Handbuch 3. Aufl. § 44 Rn. 239a; Felsch, r+s
2017, 602 [Anm. zu LG Köln r+s 2017, 601]). Nach der neueren Rech t-
sprechung des Bundessozialgerichts kommt es für die Rechtswegzuwei-
sung entscheidend darauf an, ob die Vorschriften, die zur Klärung der
streitigen Rechtsfragen heranzuziehen und auszulegen sind, zumindest
im Grundsatz im SGB XI geregelt sind (BSG NZS 2007, 34 Rn. 4).
b) Danach haben die Vorinstanzen zu Recht den Rechtsweg zu
den Sozialgerichten als eröffnet angesehen. Anders als die Rechtsb e-
schwerde meint, sind die ordentlichen Gerichte nicht deshalb zuständig,
weil eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung im Streit steht.
Die private Pflegeversicherung ist wie die soziale Pflegeversiche-
rung im SGB XI durch öffentlich-rechtliche Vorschriften des Sozialrechts
geregelt. Zwischen beiden Zweigen besteht ein enger Zusammenhang
6
7
- 5 -
(vgl. § 23 Abs. 1 SGB XI). Der Inhalt der mit privaten Versicherern abzu-
schließenden, unter Kontrahierungszwang stehenden Pflegeversich e-
rungsverträge ist im SGB XI im Wesentlichen zwingend gesetzlich vorge-
schrieben und damit der autonomen Gestaltung der Vertragsparteien
entzogen (BSGE 79, 80 = VersR 1998, 486 [juris Rn. 11 ff.]). Rücktritts-
und Kündigungsrechte des Versicherers sind nach § 110 Abs. 4 SGB XI
ausgeschlossen, solange der Kontrahierungszwang besteht.
Bei der Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen dem Versich e-
rungsnehmer und dem Versicherer über ein privates Pflegeversi che-
rungsverhältnis sind stets die den Versicherungsvertrag beherrschenden
Vorschriften des SGB XI heranzuziehen und auszulegen. Das gilt auch
dann, wenn unmittelbar Allgemeine Versicherungsbedingungen oder
Vorschriften des Zivilrechts (etwa des Bürgerlichen Gesetzbuches oder
des Versicherungsvertragsgesetzes) im Streit stehen. Die einheitliche
Zuweisung aller Streitigkeiten nach dem SGB XI an die Gerichte der So-
zialgerichtsbarkeit kann dazu führen, dass diese in Angelegenheiten der
privaten Pflegeversicherung auch über die richtige Anwendung privat-
rechtlicher Vorschriften zu entscheiden haben (BSGE 79, 80 = VersR
1998, 486 [juris Rn. 25]; vgl. auch BSG VersR 2007, 1074 Rn. 9 f.; OLG
Stuttgart r+s 2017, 111 Rn. 15; KG VersR 2016, 138 f. [juris Rn. 4]; OLG
Celle, Beschluss vom 3. Juli 2018 - 8 W 24/18, juris Rn. 6).
So liegt es hier. Ob eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung
wirksam war, richtet sich zwar zunächst nach zivilrechtlichen Vorschri f-
ten (u.a. § 22 VVG, §§ 123 f. BGB). Wenn es um einen Pflegeversiche-
rungsvertrag geht, sind aber stets auch die öffentlich -rechtlichen Vor-
schriften des SGB XI zu prüfen, insbesondere der Kontrahierungszwang
nach § 23 Abs. 1 SGB XI und die Beschränkungen des Kündigungs - und
Rücktrittsrechts nach § 110 Abs. 4 SGB XI, die zu einer abweichenden
8
9
- 6 -
rechtlichen Beurteilung führen können. Rechtsstreitigkeiten zwischen
den Vertragsparteien eines privaten Pflegeversicherungsvertrages über
den Fortbestand des Vertrages sind deshalb gemäß § 51 Abs. 2 Satz 2
i.V.m. Satz 1 SGG einheitlich den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit
zugewiesen, unabhängig davon, ob im Einzelfall eine Kündigung, ein
Rücktritt oder eine Anfechtung in Rede steht und in welchem Stufenve r-
hältnis gegebenenfalls mehrere dieser Gestaltungsrechte ausgeübt wu r-
den (Koch in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht § 110
SGB XI Rn. 27 [Stand: Mai 2018]; Vieweg in Udsching/ Schütze, SGB XI
5. Aufl. § 110 Rn. 26; jurisPK-SGG/Flint, § 51 Rn. 157, 157.1 [Stand:
17. August 2018]; Hommel in Peters/Sautter/Wolff, SGG § 51 Rn. 433
[Stand: November 2017]).
- 7 -
Soweit der Senat bereits zum Ausschluss der Kündigung einer
Pflegeversicherung nach § 110 SGB XI Stellung genommen hat (Senats-
urteil vom 7. Dezember 2011 - IV ZR 105/11, BGHZ 192, 67 Rn. 28 ff.),
beruhte dies auf § 17a Abs. 5 GVG und lässt keine abweichende Auffas-
sung zur Rechtswegzuweisung erkennen.
Mayen Felsch Harsdorf -Gebhardt
Lehmann Dr. Götz
Vorinstanzen:
LG Leipzig, Entscheidung vom 11.10.2017 - 3 O 2034/17 -
OLG Dresden, Entscheidung vom 06.12.2017 - 4 W 1038/17 -
10