Urteil des BGH vom 20.10.2011

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
1 StR 41/09
vom
20. Oktober 2011
Nachschlagewerk: ja
BGHSt:
ja
BGHR:
ja
Veröffentlichung:
ja
_____________________
AO § 370 Abs. 1; UStG § 4 Nr. 1 Buchstabe b, § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Abs. 3
Zur Versagung der Befreiung einer innergemeinschaftlichen Lieferung (§ 6a
UStG) von der Umsatzsteuer bei der Verschleierung der Identität des wahren
Erwerbers, um diesem die Hinterziehung der im Bestimmungsland für den Er-
werb geschuldeten Umsatzsteuer zu ermöglichen (im Anschluss an die Vor-
abentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache
R durch Urteil vom 7. Dezember 2010, C-285/09).
BGH, Beschluss vom 20. Oktober 2011 - 1 StR 41/09 - LG Mannheim
in der Strafsache
gegen
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wegen Steuerhinterziehung
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Oktober 2011 beschlos-
sen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Mannheim vom 17. September 2008 wird als unbegründet ver-
worfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Steuerhinterziehung in
zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Hiergegen
wendet sich der Angeklagte mit seiner Revision, mit der er die Verletzung for-
mellen und materiellen Rechts rügt. Das Rechtsmittel hat keinen Erfolg; die
Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen
Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).
Auch die rechtliche Würdigung des Landgerichts hält rechtlicher Nachprüfung
stand, der Angeklagte habe sich gemäß § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO der Steuerhin-
terziehung schuldig gemacht, weil er in den Umsatzsteuerjahreserklärungen der
P. GmbH für die Jahre 2002 und 2003 steuerpflichtige Lieferungen (I.) von
Gebrauchtwagen an Fahrzeughändler in Portugal vorsätzlich (II.) als steuerfrei
behandelt habe.
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I.
Die verfahrensgegenständlichen Fahrzeuglieferungen waren umsatz-
steuerpflichtig, weil der Angeklagte nach den vom Landgericht rechtsfehlerfrei
getroffenen Urteilsfeststellungen in einem „ausgeklügelten System“ (UA S. 8)
unter Verwendung unrichtiger Belege, die er auch in die Buchhaltung der P.
GmbH aufnahm, die wirklichen portugiesischen Erwerber der Fahrzeuge ver-
schleierte und diese damit bei der Umgehung der Erwerbsbesteuerung in Por-
tugal unterstützte.
1. Innergemeinschaftliche Lieferungen sind unter den Voraussetzungen
des § 6a UStG steuerfrei (§ 4 Nr. 1 Buchstabe b UStG).
a) Die Steuerfreiheit für die innergemeinschaftliche Lieferung setzt ge-
mäß § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG voraus, dass der Unternehmer oder der
Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet
befördert oder versendet. Darüber hinaus bestehen bei Lieferungen (abgese-
hen von den Fällen der Lieferung neuer Fahrzeuge) weitere, in der Person des
Erwerbers zu erfüllende Voraussetzungen. Nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
Buchst. a und b UStG muss es sich beim Abnehmer der Lieferung entweder
um einen Unternehmer, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unterneh-
men erworben hat, oder um eine juristische Person handeln, die nicht Unter-
nehmer ist oder die den Gegenstand der Lieferung nicht für ihr Unternehmen
erworben hat. Der Erwerb des Gegenstands der Lieferung muss nach § 6a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG in allen Fällen beim Abnehmer in einem anderen Mit-
gliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterliegen.
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b) Die Steuerfreiheit beruhte im verfahrensgegenständlichen Zeitraum
auf Art. 28c Teil A Buchst. a Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie des Rates
vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaa-
ten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) in der durch
die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fas-
sung. Danach „befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur
Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden
Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehung, Steuerumgehung
und Missbrauch festlegen: a) die Lieferungen von Gegenständen im Sinne des
Artikels 5, die durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre
Rechnung nach Orten außerhalb des in Artikel 3 bezeichneten Gebietes, aber
innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, wenn diese Liefe-
rungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige
juristische Person bewirkt werden, der/die als solcher/solche in einem anderen
Mitgliedstaat als dem des Beginns des Versands oder der Beförderung der Ge-
genstände handelt.“
2. Die Voraussetzungen einer Steuerbefreiung nach § 6a UStG lagen
hier nicht vor, weil der Angeklagte hinsichtlich der nach Portugal gelieferten
Gebrauchtwagen die Identität der wahren Erwerber verschleiert hatte, um die-
sen dort eine Mehrwertsteuerhinterziehung zu ermöglichen. Die Versagung der
Steuerbefreiung beruht auf zwei nebeneinander bestehenden Gründen:
Durch die Verschleierung der Abnehmer - und zwar kollusiv mit diesen -
zum Zwecke der Umsatzsteuerhinterziehung fehlte es für die Steuerbefreiung
bereits an den in § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG enthaltenen Befreiungsvoraus-
setzungen. Es lag nämlich eine beiderseitige Täuschung durch Lieferanten und
Abnehmer vor (a). Eine Befreiung von der deutschen Umsatzsteuer kam dar-
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über hinaus auch deshalb nicht in Betracht, weil der Angeklagte zudem einsei-
tig - unbeschadet der Tatbeiträge der Abnehmer - gegen die sich aus § 6a
Abs. 3 UStG i.V.m. § 17a, § 17c UStDV ergebenden Anforderungen an den
Buch- und Belegnachweis verstoßen hatte, um den wahren Erwerbern in Por-
tugal eine Umsatzsteuerhinterziehung zu ermöglichen. Wegen der zu diesem
Zweck vorgenommenen Verschleierung der Identität der Erwerber war es ihm
verwehrt, sich später darauf zu berufen, dass eine innergemeinschaftliche Lie-
ferung tatsächlich stattgefunden hatte. In einem solchen Fall reicht bereits eine
einseitige Täuschung durch den Lieferanten (b). Dieses Ergebnis steht im Ein-
klang mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, die in Umsetzung des
Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 7. Dezember 2010
(Rechtssache R, C-285/09, NJW 2011, 203) ergangen ist (vgl. BFH, Urteile
vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901, vom 17. Februar 2011
- V R 28/10 - BFHE 233, 311 und vom 17. Februar 2011 - V R 30/10, wistra
2011, 354).
a) Der erste Versagungsgrund - beiderseitige kollusive Täuschung - be-
ruht darauf, dass die sich aus § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG ergebende Vo-
raussetzung für die Steuerfreiheit einer innergemeinschaftlichen Lieferung hier
schon deshalb nicht vorliegt, weil der Angeklagte kollusiv mit dem Abnehmer
zusammenwirkte.
aa) Schon nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats stellte die
Lieferung von Gegenständen durch einen inländischen Unternehmer an einen
Unternehmer im übrigen Gemeinschaftsgebiet dann keine steuerfreie innerge-
meinschaftliche Lieferung im Sinne des § 6a UStG dar, wenn der inländische
Unternehmer in kollusivem Zusammenwirken mit dem Abnehmer die Lieferung
an einen Zwischenhändler vortäuschte, um dem Abnehmer die Hinterziehung
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von Umsatzsteuern zu ermöglichen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. November
2008 - 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45 Rn. 4, vom 19. August 2009 - 1 StR
206/09, BGHSt 54, 133). Der Senat ist dabei davon ausgegangen, dass es in
solchen Fällen an der Befreiungsvoraussetzung des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3
UStG fehle, weil diese Vorschrift gemeinschaftsrechtlich dahin auszulegen sei,
dass der Erwerb des Gegenstands einer Lieferung beim Abnehmer dann nicht
den Vorschriften der Umsatzbesteuerung in einem anderen Mitgliedstaat im
Sinne der Vorschrift unterliegt, wenn die im Bestimmungsland vorgesehene
Erwerbsbesteuerung der konkreten Lieferung nach dem übereinstimmenden
Willen von Unternehmer und Abnehmer durch Verschleierungsmaßnahmen
und falsche Angaben gezielt umgangen werden soll, um dem Unternehmer
oder dem Abnehmer einen ungerechtfertigten Steuervorteil zu verschaffen
(BGH, Beschluss vom 20. November 2008 - 1 StR 354/08, BGHSt 53, 45
Rn. 13). Anderes gilt, wenn die Verschleierungsmaßnahme anderen Zwecken
dient (BGH aaO Rn. 13).
bb) Nachdem das Finanzgericht Baden-Württemberg Zweifel an der
Richtigkeit dieser Rechtsprechung geäußert hatte (Beschluss vom 11. März
2009 - 1 V 4305/08, diesem folgend BFH, Beschluss vom 29. Juli 2009 - XI B
24/09, BFHE 226, 449), hat der Senat gemäß Art. 234 Abs. 3 EG (jetzt Art. 267
Abs. 3 AEUV) im vorliegenden Verfahren dem Gerichtshof der Europäischen
Gemeinschaften (jetzt: Gerichtshof der Europäischen Union; nachfolgend: Ge-
richtshof) mit Beschluss vom 7. Juli 2009 (wistra 2009, 441) folgende Fragen
zur Vorabentscheidung über die Auslegung des Art. 28c Teil A Buchstabe a
der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage vor-
gelegt:
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„Ist Art. 28c Teil A Buchstabe a der Sechsten Richtlinie in dem
Sinne auszulegen, dass einer Lieferung von Gegenständen im
Sinne dieser Vorschrift die Befreiung von der Mehrwertsteuer zu
versagen ist, wenn die Lieferung zwar tatsächlich ausgeführt wor-
den ist, aber aufgrund objektiver Umstände feststeht, dass der
steuerpflichtige Verkäufer
a) wusste, dass er sich mit der Lieferung an einem Warenumsatz
beteiligt, der darauf angelegt ist, Mehrwertsteuer zu hinterzie-
hen, oder
b) Handlungen vorgenommen hat, die darauf abzielten, die Per-
son des wahren Erwerbers zu verschleiern, um diesem oder
einem Dritten zu ermöglichen, Mehrwertsteuer zu hinterzie-
hen?“
cc) Mit Urteil vom 7. Dezember 2010 (Rechtssache R, C-285/09,
NJW 2011, 203) hat der Gerichtshof auf das Vorabentscheidungsersuchen hin
für Recht erkannt:
„Unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, wenn al-
so eine innergemeinschaftliche Lieferung von Gegenständen tat-
sächlich stattgefunden hat, der Lieferer jedoch bei der Lieferung
die Identität des wahren Erwerbers verschleiert hat, um diesem
zu ermöglichen, die Mehrwertsteuer zu hinterziehen, kann der
Ausgangsmitgliedstaat der innergemeinschaftlichen Lieferung
aufgrund der ihm nach dem ersten Satzteil von Art. 28c Teil A
Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom
17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehr-
wertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungs-
grundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom
17. Oktober 2000 geänderten Fassung zustehenden Befugnisse
die Mehrwertsteuerbefreiung für diesen Umsatz versagen.“
Der Gerichtshof führt in diesem Urteil weiter aus (Rn. 52), dass dann,
wenn ernsthafte Gründe für die Annahme bestehen, dass der mit der fraglichen
Lieferung zusammenhängende innergemeinschaftliche Erwerb im Bestim-
mungsmitgliedstaat der Zahlung der Mehrwertsteuer entgehen könnte, der
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Ausgangsmitgliedstaat dem Lieferer der Gegenstände die Befreiung sogar ver-
weigern muss (also nicht nur verweigern kann), um zu vermeiden, dass der
fragliche Umsatz jeglicher Besteuerung entgeht (EuGH aaO Rn. 52). Denn
nach dem Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems werde die-
se Steuer auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, abzüglich der
Mehrwertsteuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belas-
tet worden sind (EuGH aaO). Dieser gemeinschaftsrechtlich gebotenen Ausle-
gung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG stehen nach der Rechtsprechung
des Gerichtshofs weder die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und
der Rechtssicherheit noch die Grundsätze des Vertrauensschutzes und der
Verhältnismäßigkeit entgegen. Denn ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich
an einer Steuerhinterziehung beteiligt und das Funktionieren des gemeinsamen
Mehrwertsteuersystems gefährdet, kann sich nicht mit Erfolg auf diese Grund-
sätze berufen (EuGH aaO Rn. 53 f.).
dd) Die Anwendung dieser Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall
ergibt: Das Landgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Steuerbe-
freiung des § 6a UStG bei den verfahrensgegenständlichen Gebrauchtwagen-
lieferungen nicht eingreift. Denn ausgehend von den vom Landgericht getroffe-
nen Feststellungen bestehen die vom Gerichtshof vorausgesetzten „ernsthaften
Gründe“ für die Annahme, dass wegen der vom Angeklagten zur Unterstützung
der wahren Erwerber - kollusiv mit diesen - vorgenommenen Verschleierungs-
handlungen der mit den fraglichen Lieferungen zusammenhängende Erwerb im
Bestimmungsland der Zahlung der Mehrwertsteuer entgehen könnte. Maßgeb-
lich für die Steuerbefreiung sind der zwischen innergemeinschaftlicher Liefe-
rung und innergemeinschaftlichem Erwerb bestehende Besteuerungszusam-
menhang und die damit bezweckte Verlagerung des Steueraufkommens auf
den Bestimmungsmitgliedstaat durch die dort beim Abnehmer als Steuer-
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schuldner vorzunehmende Besteuerung, die es nicht zulässt, die Steuerfreiheit
trotz absichtlicher Täuschung über die Person des Abnehmers (Erwerbers) in
Anspruch zu nehmen (vgl. BFH, Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR
2011, 1901 Rn. 24).
Die vom Gerichtshof vorgenommene gemeinschaftsrechtliche Auslegung
der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG bestimmt auch die Auslegung des auf
dieser Richtlinie beruhenden Befreiungstatbestandes des § 6a UStG. Danach
besteht unter den Umständen des vorliegenden Sachverhalts auch ausgehend
von den Tatbestandsvoraussetzungen des § 6a UStG für die verfahrensgegen-
ständlichen Lieferungen keine Steuerbefreiung. Denn die vom Angeklagten
vorgenommenen Verschleierungshandlungen führten dazu, dass im Bestim-
mungsland der Lieferungen faktisch keine Besteuerung des Erwerbs der Fahr-
zeuge stattfinden konnte (vgl. auch Lohse, NStZ 2011, 165, 166), der Erwerb
der Fahrzeuge mithin nicht im Sinne von § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG als
beim Abnehmer im anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteue-
rung unterliegend angesehen werden kann.
ee) Der Wortlaut der deutschen steuerrechtlichen Vorschriften ist ein
ausreichender Anknüpfungspunkt für die gemeinschaftsrechtlich gebotene Aus-
legung auch des Steuerstrafrechts. Denn nach § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG
liegt eine steuerbefreite innergemeinschaftliche Lieferung nur dann vor, wenn
der Erwerb des Gegenstands der Lieferung beim Abnehmer der Lieferung in
einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unter-
liegt. In dieser Vorschrift kommen der vom Gerichtshof hervorgehobene Be-
steuerungszusammenhang zwischen innergemeinschaftlicher Lieferung und
innergemeinschaftlichem Erwerb (EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2010 in der
Rechtssache R, C-285/09, NJW 2011, 203 Rn. 38) und die damit bezweckte
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Verlagerung des Steueraufkommens auf den Bestimmungsmitgliedstaat durch
die dort beim Abnehmer als Steuerschuldner vorzunehmende Besteuerung
zum Ausdruck. Deshalb ist es nicht zulässig, die Steuerfreiheit nach § 6a UStG
trotz absichtlicher Täuschung über die Person des Erwerbers in Anspruch zu
nehmen (vgl. BFH, Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901).
Damit wird die vom Senat im Beschluss vom 20. November 2008 (Verfahren
1 StR 354/08, BGHSt 53, 45 Rn. 13) vorgenommene Auslegung des § 6a
Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG von der gemeinschaftsrechtlich gebotenen Auslegung
der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG getragen.
ff) Diese Auslegung des § 6a UStG durch den Senat steht nach der
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch im Einklang mit den An-
forderungen des Art. 103 Abs. 2 GG. Denn das - von systematischen Erwägun-
gen getragene - Verständnis des § 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG, dass der Er-
werb beim Abnehmer den Vorschriften der Umsatzbesteuerung tatsächlich un-
terworfen wird - was nicht der Fall wäre, wenn der Abnehmer die Erwerbsbe-
steuerung gezielt umgeht -, ist nach dem Wortlaut dieser Vorschrift möglich
(BVerfG - Kammer - Beschluss vom 16. Juni 2011 - 2 BvR 542/09).
b) Eine Befreiung der verfahrensgegenständlichen Fahrzeuglieferungen
nach Portugal von der deutschen Umsatzsteuer schied hier - neben dem ersten
Versagungsgrund - auch deshalb aus, weil der Angeklagte, und zwar schon
einseitig, gegen die sich aus § 6a Abs. 3 UStG i.V.m. § 17a, § 17c UStDV er-
gebenden Anforderungen an den Buch- und Belegnachweis verstoßen hatte,
um den wahren Erwerbern in Portugal eine Umsatzsteuerhinterziehung zu er-
möglichen.
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aa) Die Lieferungen nach Portugal, die unter Verstoß gegen die auf dem
ersten Satzteil des Art. 28c Teil A der Richtlinie 77/388/EWG beruhenden
Pflichten zum Beleg- und Buchnachweis durchgeführt wurden, rechtfertigten
gemeinschaftsrechtlich eine Steuerbefreiung nicht, wie sich insbesondere unter
Heranziehung der vom Gerichtshof in den Rechtssachen Collée (EuGH, Urteil
vom 27. September 2007 - C-146/05, Slg 2007, I-7861, DStR 2007, 1811) und
R (Urteil vom 7. Dezember 2010 - C-285/09, NJW 2011, 203) vorgenommenen
Auslegung der Richtlinie 77/388/EWG ergibt.
(1) Bei einem Verstoß des Lieferanten gegen die Pflichten zum Buch-
und Belegnachweis gilt nach dieser Rechtsprechung im Grundsatz: Der Unter-
nehmer kann gemäß Art. 28c Teil A der Richtlinie 77/388/EWG eine innerge-
meinschaftliche Lieferung grundsätzlich dann als steuerfrei erfassen, wenn er
die bestehenden gesetzlichen Nachweispflichten erfüllt. Kommt er demgegen-
über den Nachweispflichten nicht oder nur unvollständig nach oder erweisen
sich die Nachweisangaben bei einer Überprüfung als unzutreffend oder beste-
hen zumindest berechtigte Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit der Angaben,
die der Unternehmer nicht ausräumt, ist die Lieferung steuerpflichtig (vgl. BFH,
Urteil vom 17. Februar 2011 - V R 30/10, wistra 2011, 354 Rn. 19). Denn dann
ist der Nachweis der Steuerfreiheit vom Unternehmer nicht erbracht.
(2) Eine Ausnahme von diesem Grundsatz besteht nach der Rechtspre-
chung des Gerichtshofs in der Rechtssache Collée (aaO Rn. 31) dann, wenn
trotz derartiger Nachweismängel feststeht, dass die Voraussetzungen der
Steuerfreiheit erfüllt sind (vgl. BFH aaO Rn. 19 mwN). Diese Ausnahme greift
aber nicht ein, wenn der Verstoß gegen die Nachweispflichten den „sicheren
Nachweis“ - also den zweifelsfrei objektiven Nachweis - verhinderte, dass die
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materiellen Voraussetzungen der Steuerfreiheit erfüllt werden (vgl. BFH aaO
Rn. 19). Dann verbleibt es bei dem Grundsatz der Steuerpflicht.
(3) Darüber hinaus verbleibt es auch dann bei der Steuerpflicht, wenn
- obwohl die Voraussetzungen für die Steuerfreiheit objektiv vorliegen - der
Steuerpflichtige unter Verstoß gegen die auf dem ersten Satzteil des Art. 28c
Teil A der Richtlinie 77/388/EWG beruhenden Pflichten zum Buch- und Beleg-
nachweis die Identität des Erwerbers verschleiert, um diesem im Bestim-
mungsmitgliedstaat eine Mehrwertsteuerhinterziehung zu ermöglichen (vgl.
BFH, Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901 Rn. 22 mwN).
Bei dieser Einschränkung der Steuerbefreiung handelt es sich nicht um
eine vom Gerichtshof durch das Urteil in der Rechtssache R nachträglich vor-
genommene Korrektur der Rechtsprechung aus dem Verfahren in der Rechts-
sache Collée. Vielmehr kam diese Einschränkung bereits in der Rechtssache
Collée in der Formulierung zum Ausdruck, dass dem nationalen Gericht die
Prüfung obliege, „ob die Verschleierung ... Züge einer Mehrwertsteuerhinterzie-
hung" habe (Rechtssache Collée aaO Rn. 38). Allerdings hatte der Gerichtshof
in der Rechtssache R Anlass, in der deutschen Rechtsprechung und Literatur
entstandene Zweifel zu beseitigen, die sich daraus ergaben, dass der Rechts-
sache Collée ein Sachverhalt zugrunde lag, der weder eine Steuerhinterzie-
hung noch deren Ermöglichung zum Gegenstand hatte. Denn der Unternehmer
in der Rechtssache Collée hatte nicht aufgrund unzutreffender Angaben die
Steuerfreiheit beansprucht, sondern aus einem vom Steuerrecht gänzlich un-
abhängigen Grund Verschleierungshandlungen begangen. Ziel seiner Hand-
lungen war allein die Umgehung einer Gebietsbeschränkung des Herstellers
des verkauften Gegenstandes. Nur aus diesem Grund hatte er zunächst eine
steuerpflichtige Inlandslieferung erklärt und erst nach Aufdeckung des wahren
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Sachverhalts die Steuerfreiheit der objektiv vorliegenden innergemeinschaftli-
chen Lieferung beansprucht (vgl. BFH, Urteil vom 17. Februar 2011 - V R
30/10, wistra 2011, 354 Rn. 19).
In der Rechtssache R hat der Gerichtshof die Grenzen, in denen Verstö-
ße gegen die Nachweispflichten die Steuerbefreiung einer innergemeinschaftli-
chen Lieferung nicht gefährden, deutlich hervorgehoben. Er hat dabei aus-
drücklich darauf hingewiesen, dass die Verweigerung der Steuerbefreiung in
einem Fall, in dem eine nach nationalem Recht vorgesehene Verpflichtung
nicht eingehalten wurde - etwa die Verpflichtung der Angabe des Empfängers
einer innergemeinschaftlichen Lieferung - eine abschreckende Wirkung hat, die
die Durchsetzung dieser Verpflichtung gewährleisten und Steuerhinterziehun-
gen oder
–umgehungen verhüten soll (EuGH, Urteil vom 7. Dezember 2010,
Rechtssache R, C-285/09, NJW 2011, 203 Rn. 50). Hierbei hat der Gerichtshof
betont, dass die Vorlage von Scheinrechnungen oder die Übermittlung unrichti-
ger Angaben sowie sonstige Manipulationen die genaue Erhebung der Steuer
verhindern und das ordnungsgemäße Funktionieren des gemeinsamen Mehr-
wertsteuersystems in Frage stellen könne. Derartige Handlungen wögen umso
schwerer, wenn sie - wie hier - im Rahmen der Übergangsregelung für die Be-
steuerung innergemeinschaftlicher Umsätze begangen werden, die auf Bewei-
sen beruht, die von den Steuerpflichtigen zu erbringen sind (EuGH aaO
Rn. 48). Eine solche Vorgehensweise trägt daher - in der Terminologie des Ge-
richtshofs -
„Züge einer Mehrwertsteuerhinterziehung“ und steht deshalb wegen
missbräuchlichen Verhaltens einer Berufung auf Gemeinschaftsrecht entgegen
(vgl. EuGH, Urteil vom 27. September 2007 in der Rechtssache Collée
- C-146/05, Slg 2007, I-7861, DStR 2007, 1811 Rn. 38; Urteil vom 6. Juli 2006
in den Rechtssachen C-439/04 und C-440/04 - Kittel und Recolta Recycling,
Slg 2006, I-6161, DStR 2006, 1274 Rn. 54).
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(4) So verhält es sich auch hier. Der Angeklagte verhinderte zum einen
durch das Verschweigen seiner tatsächlichen Abnehmer den „sicheren Nach-
weis", dass die materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung erfüllt waren.
Zum anderen verschleierte er deren Identität, um ihnen im Bestimmungsmit-
gliedstaat eine Mehrwertsteuerhinterziehung zu ermöglichen (vgl. auch BFH,
Urteil vom 11. August 2011 - V R 50/09, DStR 2011, 1901). Auf die - hier zu
verneinende (s.o.) - Frage, ob die Voraussetzungen einer innergemeinschaftli-
chen Liefer
ung „objektiv" vorlagen, käme es daher im vorliegenden Fall nicht
einmal an.
bb) Diese gemeinschaftsrechtlich gebotene Auslegung der Richtlinie
77/388/EWG ist auch bei der Auslegung der nationalen Vorschrift des § 6a
UStG zu beachten. Die Beschränkung der Steuerbefreiung auf die Fälle, in de-
nen die in § 6a Abs. 1 und Abs. 2 UStG beschriebenen Voraussetzungen einer
innergemeinschaftlichen Lieferung vom Unternehmer nach Maßgabe der Vor-
schriften über den Buch- und Belegnachweis in § 17a, § 17c UStDV nachge-
wiesen sind, ist in § 6a Abs. 3 UStG ausdrücklich gesetzlich bestimmt. Damit
sind auch insoweit die sich aus Art. 103 Abs. 2 GG ergebenden Bestimmtheits-
anforderungen erfüllt.
II.
Das Landgericht hat ohne Rechtsfehler festgestellt, dass der Angeklagte
vorsätzlich gehandelt hat (zu den Anforderungen an den Tatvorsatz bei Steuer-
hinterziehung vgl. auch BGH, Urteil vom 8. September 2011 - 1 StR 38/11). Die
Einlassung des Angeklagten, sein Ziel sei ausschließlich die Verhinderung der
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Erwerbsbesteuerung in Portugal, nicht aber die Verkürzung in Deutschland ge-
wesen, hat das Landgericht rechtsfehlerfrei als widerlegt angesehen.
Nack Wahl Hebenstreit
Jäger Sander