Urteil des BGH vom 08.10.2002

BGH (fenster, einlassung, treppenhaus, wohnung, sturz, verurteilung, freiheitsstrafe, grund, stpo, gesamtstrafe)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 166/02
vom
8. Oktober 2002
in der Strafsache
gegen
wegen Mordes u.a.
- 2 -
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 8. Oktober 2002 gemäß § 349
Abs. 2 und 4 StPO beschlossen:
1.
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Dessau vom 8. November 2001 mit den
Feststellungen aufgehoben
a)
soweit der Angeklagte wegen Mordes und wegen
gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden ist,
b)
im Ausspruch über die Gesamtstrafe und
c)
soweit der Vorwegvollzug von 16 Jahren Freiheits-
strafe angeordnet worden ist.
2.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zustän-
dige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3.
Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes, Raubes in Tatein-
heit mit Körperverletzung, gefährlicher Körperverletzung, Körperverletzung und
wegen Diebstahls unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus dem Urteil des
Amtsgerichts Wittenberg vom 21.05.2001 unter Auflösung der dortigen Ge-
- 3 -
samtstrafe zu einer „lebenslänglichen Freiheitsstrafe" (richtig: als Gesamtstra-
fe) verurteilt. Ferner hat es die Unterbringung des Angeklagten in einer Entzie-
hungsanstalt sowie den Vorwegvollzug von 16 Jahren Freiheitsstrafe angeord-
net. Den Mitangeklagten Mario S. hat es - insoweit ist das Urteil rechts-
kräftig - wegen Diebstahls und gefährlicher Körperverletzung zu einer Gesamt-
freiheitsstrafe verurteilt und von dem Vorwurf des Mordes aus tatsächlichen
Gründen freigesprochen.
Der Angeklagte rügt mit seiner Revision die Verletzung sachlichen
Rechts; er beanstandet insbesondere die seiner Verurteilung wegen Mordes
zugrundeliegende Beweiswürdigung. Das Rechtsmittel hat teilweise Erfolg; im
übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verurteilung des Angeklagten im Fall II 2 hat keinen Bestand, weil
sie, soweit es den Schuldspruch wegen Mordes betrifft, auf einer rechtsfehler-
haften Beweiswürdigung beruht.
a) Das Landgericht hat zum Tatgeschehen im wesentlichen folgende
Feststellungen getroffen:
Nachdem der Mitangeklagte S. die Wohnungstür eingetreten hatte,
drangen der Angeklagte und Mario S. gegen 3.00 Uhr in die in der 6. Eta-
ge gelegene Wohnung des Geschädigten Sven R. ein, weil Sven R. we-
gen einer vermeintlich in der Tatnacht zuvor gegen den Angeklagten und Mario
S. erstattenen Strafanzeige "einen Denkzettel" bekommen sollte. Der An-
geklagte stürzte sich auf den im Bett liegenden Sven R. und schlug auf ihn
ein. Der Mitangeklagte S. packte dessen in den Wohnung nächtigenden
- 4 -
Freund Marian K. , der in einem Schlafsack neben Sven R. lag, am Sweat-
shirt. Er forderte Marian K. auf, sich ruhig zu verhalten, was dieser tat. Mehr-
fach drohte der Angeklagte, er werde Marian K. und den Sven R. aus dem
Fenster werfen. Der Mitangeklagte S. hielt dies für einen Scherz, sah sich
jedoch veranlaßt, das Fenster zu öffnen. Der Angeklagte ließ von Sven R.
ab, der „kurzzeitig“ das Bewußtsein verloren hatte. Nachdem Sven R. das
Bewußtsein wiedererlangt hatte, flüchtete er aus seiner Wohnung. Mario
S. verfolgte ihn bis ins Treppenhaus. Als er sah, daß Sven R. erheblich
verletzt war, ließ er von ihm ab und ging in seine neben der des Sven R.
liegende Wohnung.
Der Angeklagte, dessen Hände mit Sven R. s Blut verschmiert waren,
ergriff Marian K. , wodurch großflächige Blutanwischungen an dessen Sweat-
shirt gelangten, und warf ihn um 3.12 Uhr aus dem Fenster. Danach verfolgte
er Sven R. , der um Hilfe rufend in der 5. Etage an die Türen der Wohnun-
gen klopfte, und versetzte ihm weitere Schläge.
b) In der Hauptverhandlung haben der Angeklagte und Mario S. –
denen in der Anklage gemeinschaftlicher Mord zur Last gelegt worden war –
sich gegenseitig der als Alleintäter begangenen Tötung des Marian K. bezich-
tigt. Jeder von ihnen hat behauptet, er habe Sven R. im Treppenhaus ver-
folgt, während zugleich ohne sein Wissen der andere Marian K. aus dem
Fenster geworfen habe.
c) Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten - im wesentli-
chen auf Grund der Angaben des Mitangeklagten S. - als widerlegt ange-
sehen. In einem solchen Falle, in dem Aussage gegen Aussage steht, müssen
- 5 -
die Urteilsgründe erkennen lassen, daß der TatR. alle Umstände, welche
die Entscheidung zu Gunsten des einen oder anderen Angeklagten zu beein-
flussen geeignet sind, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen (vgl.
BGHR StPO § 261 Mitangeklagte 2 m. w. N.) und rechtsfehlerfrei gewürdigt
hat. Diesen Anforderungen genügt das angefochtene Urteil nicht:
aa) Das Landgericht ist der Auffassung, auf Grund der Angaben des
Zeugen R. sei erwiesen, daß Marian K. bis zu seinem Sturz aus dem Fen-
ster auf dem Bett in seinem Schlafsack gelegen habe und vom Angeklagten
nicht angefaßt worden sei, so daß es zu den Antragungen von Blut des Sven
R. an dem Sweatshirt des Getöteten nur dadurch gekommen sein könne,
daß der Angeklagte Marian K. gepackt und aus dem Fenster gestoßen habe
(UA 71/72). Diese Erwägungen begegnen schon deshalb rechtlichen Beden-
ken, weil das Landgericht bei der Würdigung der Aussage des Zeugen nicht
bedacht hat, daß dieser kurzzeitig bewußtlos war und daß seine Aussage des-
halb nur eingeschränkten Beweiswert hat. Soweit es die Widerlegung der Ein-
lassung des Angeklagten ergänzend darauf gestützt hat, daß die Leiche nur
Verletzungen aufgewiesen habe, die auf den Sturz zurückzuführen seien
(UA 72), hat das Landgericht zudem außer acht gelassen, daß dieser Befund
der Einlassung des Angeklagten nicht widerspricht.
bb) Die Einlassung des Angeklagten, er habe Sven R. sogleich ver-
folgt, ist nach Auffassung des Landgerichts durch die Aussage des Zeugen
R. widerlegt, er habe unmittelbar beim Wegrennen bemerkt, daß er verfolgt
werde. Dies sei wiederum in Einklang zu bringen mit der Einlassung des Mit-
angeklagten S. , der den Angeklagten hätte bemerken müssen, wenn die-
ser direkt hinter Sven R. hergerannt wäre (UA 55/56). Diese Erwägungen
- 6 -
lassen besorgen, daß das Landgericht einem Kreisschluß erlegen ist. Da Sven
R. lediglich bekundet hat, daß er verfolgt wurde, nicht aber von wem, wider-
spricht seine Aussage der des Angeklagten nicht. Die Glaubhaftigkeit der Ein-
lassung des Mitangeklagten S. , er habe Sven R. verfolgt, wird mithin
mit den eigenen Angaben S. s begründet, er habe von einer Verfolgung
durch den Angeklagten nichts bemerkt.
Gleiches gilt auch für die Erwägung, es sei folgerichtig, daß der Mitan-
geklagte S. unmittelbar hinter Sven R. hergerannt sei, da der Mitange-
klagte S. sich – nach seiner Einlassung (UA 45) - für Marian K. nicht in-
teressiert habe (UA 56).
Soweit das Landgericht die Annahme, der Angeklagte sei nicht „unmit-
telbar“ (UA 59) hinter Sven R. hergelaufen, auch auf die zwischen dem von
zwei Zeugen durch die Fenster ihrer Wohnungen beobachteten Sturz des Ma-
rian K. und dem Auftreten von Lärm im Treppenhaus liegenden Zeitspannen
stützt (UA 58 ff.), sind die Urteilsausführungen unklar und widersprüchlich. Die
nach Auffassung des Landgerichts glaubwürdige Zeugin L. hat bekundet, im
Treppenhaus sei Lärm gewesen, als um 3.12 Uhr ein Schatten, eine lange
schwarze Gestalt, am Fenster vorbeigeflogen sei. Insoweit hat das Landgericht
übersehen, daß sich diese Wahrnehmungen der Zeugin, die meinte, der Lärm
könne von mehreren die Treppe herunterlaufenden Personen verursacht wor-
den sein (UA 57/58), ohne weiteres mit der Einlassung des Angeklagten ver-
einbaren lassen, er habe Sven R. sogleich verfolgt. Dies gilt auch, soweit
diese Zeugin bekundet hat, nach dem Sturz der Person habe es „noch einmal
richtig Krach“ im Treppenhaus gegeben. Im übrigen ist das Landgericht, ohne
diesen Widerspruch aufzulösen, abweichend von der Aussage der Zeugin
- 7 -
L. auf Grund der Aussagen anderer Zeugen zu dem Ergebnis gelangt, der
Lärm im Treppenhaus sei erst aufgetreten, nachdem Marian K. aus dem Fen-
ster gestürzt worden sei (UA 60/62).
Wegen des engen zeitlichen und situativen Zusammenhangs hebt der
Senat auch die - aufgrund der getroffenen Feststellungen rechtsfehlerfreie -
Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung auf, um dem neuen Tatrich-
ter Gelegenheit zu widerspruchsfreien Sachverhaltsfeststellungen zu geben.
2. Die Aufhebung der Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes und
wegen gefährlicher Körperverletzung zieht die Aufhebung auch der Gesamt-
strafe sowie der Anordnung des Vorwegvollzuges von 16 Jahren Freiheitsstrafe
nach sich. Letztere hält im übrigen auch aus den in der Antragsschrift des Ge-
neralbundesanwalts vom 30. April 2002 angeführten Gründen, auf die Bezug
genommen wird, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Tepperwien Maatz Athing
Ernemann Sost-Scheible