Urteil des BGH vom 14.03.2017

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 51/07
vom
29. Mai 2008
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: ja
BGHR: ja
InsO §§ 94, 114 Abs. 2; SGB I § 52
Ermächtigt ein Sozialleistungsträger, bevor über das Vermögen des Leistungsbe-
rechtigten das Insolvenzverfahren eröffnet wird, einen zweiten Leistungsträger, seine
Ansprüche mit der dem zweiten Leistungsträger obliegenden Geldleistung zu ver-
rechnen, ist diese Ermächtigung in der Insolvenz des Leistungsberechtigten grund-
sätzlich wirksam.
BGH, Beschluss vom 29. Mai 2008 - IX ZB 51/07 - LG Bad Kreuznach
AG Bad Kreuznach
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Ganter, die Richter Prof. Dr. Gehrlein und Vill, die Richterin Lohmann und
den Richter Dr. Fischer
am 29. Mai 2008
beschlossen:
Auf die Rechtsmittel der weiteren Beteiligten werden der Be-
schluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Bad Kreuznach vom
1. März 2007 und der Beschluss des Amtsgerichts Bad Kreuznach
vom 6. Oktober 2006 aufgehoben.
Der Antrag auf Ersetzung der Zustimmung der weiteren Beteiligten
zu dem vom Schuldner vorgelegten Schuldenbereinigungsplan
wird zurückgewiesen.
Die Kosten der Rechtsmittelverfahren werden dem Schuldner auf-
erlegt.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird
auf 556,80 € festgesetzt.
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Gründe:
I.
Der Schuldner stellte am 1. Juni 2006 einen Antrag auf Eröffnung eines
Verbraucherinsolvenzverfahrens und legte einen Schuldenbereinigungsplan
vor, der für alle Gläubiger eine Befriedigungsquote von 20,58 % vorsieht. Die
weitere Beteiligte sowie zwei andere Gläubiger haben dem Plan nicht zuge-
stimmt.
1
Die weitere Beteiligte hat geltend gemacht, einer Ersetzung ihrer Zu-
stimmung stehe § 309 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO entgegen. Sie - die weitere Be-
teiligte - werde durch den Plan wirtschaftlich schlechter gestellt als bei einer
Durchführung des Insolvenzverfahrens mit anschließender Erteilung der Rest-
schuldbefreiung. Gegen den Schuldner bestehe wegen überbezahlter Arbeitslo-
senhilfe eine Forderung in Höhe von 556,80 €. Diese Forderung werde gemäß
§ 52 i.V.m. § 51 Abs. 2 SGB I in Höhe von monatlich 20 € mit dem derzeit an
den Schuldner ausgezahlten Arbeitslosengeld II verrechnet. Die Verrechnungs-
befugnis bleibe auch in der Insolvenz des Zahlungsempfängers wirksam.
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Auf Antrag des Schuldners hat das Amtsgericht - Insolvenzgericht - mit
Beschluss vom 6. Oktober 2006 die fehlenden Zustimmungen ersetzt. Die so-
fortige Beschwerde der weiteren Beteiligten hat das Landgericht mit Beschluss
vom 1. März 2007 zurückgewiesen. Dagegen wendet sich die weitere Beteiligte
mit ihrer Rechtsbeschwerde.
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II.
Das statthafte (§§ 7, 6, 309 Abs. 3 Satz 1 InsO, § 567 Abs. 2, § 574
Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO) Rechtsmittel ist zulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO). Es führt
zur Aufhebung der instanzgerichtlichen Entscheidungen und Zurückweisung
des Antrags. Die weitere Beteiligte wird durch den Schuldenbereinigungsplan
voraussichtlich wirtschaftlich schlechter gestellt als bei Durchführung des Insol-
venzverfahrens und Erteilung der Restschuldbefreiung (§ 309 Abs. 1 Satz 2
Nr. 2 InsO). In dem zuletzt genannten Fall könnte die Forderung auf Rückzah-
lung von Arbeitslosenhilfe mit dem Arbeitslosengeld II weiter verrechnet wer-
den. Der Plan sieht eine derartige Befugnis nicht vor.
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1. Der Anspruch auf Rückzahlung überbezahlter Arbeitslosenhilfe wird
nicht gegen den Anspruch auf Arbeitslosengeld II aufgerechnet, sondern mit
diesem verrechnet. Es fehlt an der Gegenseitigkeit der Forderungen, weil die in
Rede stehenden Sozialleistungen von verschiedenen Leistungsträgern gewährt
werden. Die dem Schuldner überbezahlte Arbeitslosenhilfe war eine aus Steu-
ermitteln finanzierte, von der weiteren Beteiligten (Bundesagentur für Arbeit) im
Auftrage des Bundes ausgezahlte Sozialleistung. Demgegenüber wird das dem
Schuldner nunmehr gezahlte Arbeitslosengeld II (§§ 19, 24 SGB II) von den
Agenturen für Arbeit und den Kommunen, entweder in Arbeitsgemeinschaften
oder in getrennter Trägerschaft, aufgebracht. Der Leistungsträger, der das Ar-
beitslosengeld II auszahlt, ist - jedenfalls außerhalb der Insolvenz - gemäß § 52
SGB I zur Verrechnung befugt. Danach kann der für eine Geldleistung zustän-
dige Leistungsträger mit Ermächtigung eines anderen Leistungsträgers dessen
Ansprüche gegen den Berechtigten mit der ihm obliegenden Geldleistung ver-
rechnen, soweit nach § 51 SGB I die Aufrechnung zulässig ist. Nach § 51
Abs. 2 SGB I kann der zuständige Leistungsträger mit Ansprüchen auf Erstat-
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tung zu Unrecht erbrachter Sozialleistungen gegen die Ansprüche auf laufende
Geldleistungen bis zu deren Hälfte aufrechnen, wenn der Leistungsberechtigte
nicht nachweist, dass er dadurch hilfebedürftig im Sinne der Vorschriften des
Zwölften Buches über die Hilfe zum Lebensunterhalt oder der Grundsicherung
für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch wird. Zu den Voraussetzungen die-
ser Ausnahme hat der Schuldner nichts vorgetragen, ist auch nichts ersichtlich.
2. Nach dem Inhalt der sozialrechtlichen Regelungen ist der Leistungs-
träger zur Verrechnung auch dann befugt, wenn über das Vermögen des Leis-
tungsberechtigten ein Insolvenzverfahren eröffnet ist. § 114 Abs. 2 InsO ist un-
mittelbar anwendbar, weil § 52 SGB I die Verrechnung der Aufrechnung der
Sache nach gleich stellt, somit § 94 InsO analog eingreift. Nach § 114 Abs. 2
InsO kann der Verpflichtete gegen die Forderung auf Bezüge aus einem Dienst-
verhältnis oder an deren Stelle tretende laufende Bezüge für die Zeit vor Ablauf
von zwei Jahren nach dem Ende des zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens
laufenden Kalendermonats eine Forderung aufrechnen, die ihm gegen den
Schuldner zusteht.
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a) Ob der in § 114 Abs. 2 InsO vorgesehene Schutz einer Aufrechnungs-
lage den Schutz einer Verrechnungslage nach § 52 SGB I umfasst, ist bislang
umstritten.
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In der insolvenzrechtlichen Rechtsprechung und dem einschlägigen
Schrifttum wird die Frage teilweise verneint (BayObLG NZI 2001, 367 ff; OLG
Karlsruhe NZI 2001, 662 f; LG Göttingen NZI 2001, 267; Blersch in Breutigam/
Blersch/Goetsch, InsO § 96 Rn. 10; Graf-Schlicker/Pöhlmann, InsO § 114
Rn. 14; Günther DZWIR 2001, 306 ff; Häsemeyer in Kölner Schrift zur Insol-
venzordnung 2. Aufl. S. 655 f Rn. 32; Mohrbutter DZWIR 2001, 328 ff; G. Pape
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EWiR 2001, 593 f; Peitsch, Die Insolvenzaufrechnung, Diss. Hamburg 2001
S. 115 f; Wenzel ZInsO 2006, 169, 171 f; Windel KTS 2004, 563 ff). Auch die
Vorinstanzen im vorliegenden Verfahren haben sich dieser Auffassung ange-
schlossen. Andere meinen, die Verrechnungslage nach § 52 SGB I sei eben-
falls insolvenzrechtlich geschützt (Diepenbrock ZInsO 2004, 950 ff; Gottwald,
Insolvenzrechts-Handbuch 3. Aufl. § 45 Rn. 7a; Hmbk-InsO/Ahrendt, 2. Aufl.
§ 114 Rn. 7; Hess, Insolvenzecht § 114 Rn. 21 ff; HK-InsO/Irschlinger, 4. Aufl.
§ 114 Rn. 4; Kübler/Prütting/Lüke, InsO § 96 Rn. 37; MünchKomm-InsO/
Brandes, 2. Aufl. § 96 Rn. 25; MünchKomm-InsO/Löwisch/Caspers, aaO § 114
Rn. 30; Nerlich/Römermann/Wittkowski, InsO § 96 Rn. 15).
In Rechtsprechung und Schrifttum zum Sozialrecht wird die Frage ganz
überwiegend bejaht (BSGE 92, 1 ff; Gagel EWiR 2004, 927 f; Pflüger in Schle-
gel/Voelzke, SGB I § 52 Rn. 45; Plagemann EWiR 2002, 357, 358; Wannagat/
Jung, SGB I § 52 Rn. 11; a.A. - noch aus der Zeit vor Ergehen des BSG-Ur-
teils - SG Münster ZIP 2002, 448, 449; Mrozynski, SGB I 3. Aufl. § 52 Rn. 10).
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b) Der in § 114 Abs. 2 InsO vorgesehene Schutz einer Aufrechnungslage
umfasst den Schutz einer Verrechnungslage nach § 52 SGB I.
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aa) Die Vertreter der Gegenmeinung berufen sich zu Unrecht auf den
Wortlaut des § 114 Abs. 2 InsO. Dort verwende das Gesetz nur den Begriff
"aufrechnen"; an anderer Stelle hingegen - etwa in § 96 Abs. 2 InsO - spreche
es von "Verrechnung". Eine Bestimmung, welche die Verrechnung der Aufrech-
nung gleichstelle, fehle.
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In den Fällen des § 52 SGB I ist die Vorschrift des § 114 Abs. 2 InsO
unmittelbar anwendbar, weil mit dem Bundessozialgericht (BSGE 92, 1, 5) da-
von auszugehen ist, dass die sozialrechtliche Verrechnung vom Aufrechnungs-
begriff der Insolvenzordnung erfasst wird. § 94 InsO ist auf die sozialrechtliche
Verrechnung analog anzuwenden.
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Dies ist nicht dadurch ausgeschlossen, dass das Gesetz in § 94 InsO nur
von Aufrechnung spricht, in § 96 Abs. 2 Satz 1 InsO jedoch den Begriff der
"Verrechnung" verwendet. Durch diese nachträglich in die Insolvenzordnung
eingefügte Vorschrift wurde die Aufrechnungsbefugnis in der Insolvenz nach
Maßgabe des Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 98/26/EG des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 19. Mai 1998 über die Wirksamkeit von Abrechnun-
gen in Zahlungs- sowie Wertpapierliefer- und Abrechnungssystemen erweitert.
Diese Regelung steht in keinem Zusammenhang mit § 52 SGB I und § 114
Abs. 2 InsO (zutreffend Diepenbrock ZInsO 2004, 950, 953).
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§ 52 SGB I enthält eine spezialgesetzliche Regelung, welche die Ver-
rechnung der Aufrechnung im Sinne des § 94 InsO gleichstellt. Sie ist im Jahre
1975 eingeführt worden, nachdem das Bundessozialgericht Aufrechnungen der
Leistungsträger mit Forderungen anderer Leistungsträger, soweit sie nicht aus-
drücklich gesetzlich zugelassen waren, mangels Gegenseitigkeit der Forderun-
gen (§ 387 BGB) für unzulässig erklärt hatte (BSGE 15, 36 ff). In der neueren
Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSGE 67, 143, 155 f; 92, 1, 5) und
im sozialrechtlichen Schrifttum (Giese, SGB I § 52 Rn. 3, 5; Heinze in SRH,
3. Aufl. B 8 Rn. 221, 236; Wannagat/Jung, aaO § 52 Rn. 11) wird die Auffas-
sung vertreten, § 52 SGB I erweitere die "Aufrechnungsmöglichkeiten", die so-
zialrechtliche Verrechnung sei ein Sonderfall der Aufrechnung (einschränkend
Timme in LPK-SGB I, § 52 Rn. 2: "Bei der Verrechnung handelt es sich um ein
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ähnliches Selbstvollstreckungsinstrument wie die Aufrechnung"; Seewald in
Kasseler Kommentar, SGB I § 52 Rn. 2: "… stellt praktisch eine Aufrechnung
dar"; ebenso von Maydell in GK-SGB I, 3. Aufl. § 52 Rn. 2). Jedenfalls erweitert
die Vorschrift die Möglichkeit der Leistungsträger, Ansprüche des Leistungsbe-
rechtigten wie bei einer Aufrechnung durch Gegenansprüche zu kompensieren.
Gerechtfertigt wird diese Erweiterung nach der Gesetzesbegründung mit der
Erwägung, dass im Sozialrecht angesichts derselben oder ähnlichen Zielset-
zung aller Sozialleistungen, der Verpflichtung aller Leistungsträger zur engen
Zusammenarbeit und des Strebens nach Verwaltungsvereinfachung auf die
Gegenseitigkeit der "aufgerechneten" Forderungen verzichtet werden könne
(BT-Drucks. 7/868, S. 32).
bb) Dem Gesetzgeber der Insolvenzordnung war das Problem nicht un-
bekannt. Das Bundessozialgericht hatte bereits im Jahr 1990 zum Recht der
Konkursordnung entschieden, eine bereits vor Konkurseröffnung gegebene
Verrechnungslage sei konkursfest (BSGE 67, 143, 153; vgl. ferner BSG ZIP
1995, 400, 402; LSG Nordrhein-Westfalen DB 1993, 43; die abweichende Ent-
scheidung des LSG Niedersachsen NdsRpfl. 1993, 22, 23 setzt sich damit nicht
auseinander). Aus der Amtlichen Begründung zum Regierungsentwurf der In-
solvenzordnung lässt sich entnehmen, dass die Rechtsprechung des Bundes-
sozialgerichts nicht angetastet werden sollte.
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Zwar findet sich in den Materialien zu § 114 InsO dazu nichts. Zu § 108
RegE-InsO, der später inhaltlich unverändert als § 96 Abs. 1 InsO Gesetz ge-
worden ist, heißt es jedoch in der Amtlichen Begründung (BT-Drucks. 12/2443,
S. 141):
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"Die Aufrechnung durch einen Insolvenzgläubiger soll zunächst
dann nicht möglich sein, wenn die Gegenforderung erst nach der
Verfahrenseröffnung begründet worden ist (Nummer 1) oder wenn
der Gläubiger die Forderung erst nach der Verfahrenseröffnung
erworben hat (Nummer 2). In beiden Fällen konnte der Gläubiger
bei der Verfahrenseröffnung noch nicht darauf vertrauen, dass er
seine Forderung im Wege der Aufrechnung werde durchsetzen
können. Für die nähere Auslegung dieser Regelungen kann auf
Rechtsprechung und Lehre zu § 55 Nr. 1, 2 KO verwiesen werden.
Dies gilt beispielsweise für die Frage, ob § 108 Nr. 2 des Entwurfs
in dem Fall eingreift, daß nach der Eröffnung des Insolvenzverfah-
rens ein Sozialleistungsträger, der eine Forderung gegen den
Schuldner hat, einen anderen Leistungsträger nach § 52 SGB I
ermächtigt, diese Forderung mit der Leistungspflicht des anderen
Leistungsträgers gegenüber dem Schuldner zu verrechnen. Wie
zum geltenden Konkursrecht kann man hier die Auffassung vertre-
ten, daß der Gedanke der Einheit der Sozialleistungsträger, der
§ 52 SGB I zugrunde liegt, dem Aufrechnungsverbot des § 108
Nr. 2 des Entwurfs vorgeht."
Daraus ergibt sich zwar - wie den Vertretern der Gegenauffassung
(BayObLG NZI 2001, 367, 368; Windel KTS 2004, 563, 564) zugestanden wer-
den muss - nicht der gesetzgeberische Wille, die Frage in einem bestimmten
Sinne zu entscheiden. Jedenfalls wird ohne jede Einschränkung auf die als ver-
tretbar ("… kann man hier die Auffassung vertreten") bezeichnete Rechtspre-
chung zum geltenden Konkursrecht verwiesen, "daß der Gedanke der Einheit
der Sozialleistungsträger, der § 52 SGB I zugrunde liegt, dem Aufrechnungs-
verbot des § 108 Nr. 2 des Entwurfs vorgeht." Offensichtlich sah sich der Ge-
setzentwurf hier in der Kontinuität des Rechts. Dass "dieser Ansatz erkennbar
nicht weiter verfolgt worden" sei (Wenzel ZInsO 2006, 169, 172), trifft nicht zu.
Das Gesetz ist entsprechend dem Entwurf verabschiedet worden. Auch § 87
InsO enthält (entgegen Wenzel aaO) keine Aussage des Gesetzgebers, die
dem für "vertretbar" angesehenen Vorrang des § 52 SGB I entgegensteht.
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Denn diese Vorschrift war ebenfalls bereits (als § 98 RegE-InsO) in dem Ent-
wurf vorgesehen.
Aus den soeben zitierten Materialien ergibt sich ein Weiteres: Wenn
"§ 52 SGB I … dem Aufrechnungsverbot des § 108 Nr. 2 des Entwurfs vorgeht",
so kann das nur in dem Sinne verstanden werden, dass § 52 SGB I zumindest
- wenn nicht gar eine Aufrechnungslage, so doch - eine Lage begründet, die
einer Aufrechnungslage gleichwertig ist. Denn ein Aufrechnungsverbot setzt
eine Aufrechnungslage voraus, ansonsten wäre es überflüssig (zutreffend
BSGE 92, 1, 9).
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cc) Sinn und Zweck der Regelung, welche die Aufrechnung in der Insol-
venzordnung erfahren hat, verbieten nicht die Anerkennung einer Verrech-
nungslage, die bereits vor Insolvenzeröffnung bestand und vom Gesetz einer
Aufrechnungslage gleich geachtet wird.
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(1) Die Insolvenzordnung will Aufrechnungslagen schützen, die bereits
im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung bestanden (§ 94 InsO). Wer zu diesem
Zeitpunkt berechtigterweise darauf vertrauen durfte, gegen eine Forderung des
Schuldners aufrechnen zu dürfen, soll in diesem Vertrauen nicht enttäuscht
werden. Ordnet das Gesetz an, dass der nachmalige Insolvenzgläubiger die
gegen ihn gerichtete Forderung auch durch Verrechnung mit der Forderung
eines Dritten tilgen kann, ist das Vertrauen des Insolvenzgläubigers in ver-
gleichbarer Weise schutzwürdig.
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Allerdings hat der Senat entschieden, bei einer auf eine Konzernverrech-
nungsklausel gestützten Aufrechnung entstehe die Aufrechnungslage nicht, be-
vor die Aufrechnung erklärt worden sei (BGHZ 160, 107, 110; ebenso schon zur
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Konkursordnung BGHZ 81, 15, 19 f). Erst jetzt träten die zwei Forderungen ein-
ander aufrechenbar gegenüber. Konzernverrechnungsklauseln
ähneln der Verrechnungsbefugnis nach § 52 SGB I insofern, als beide Male auf
das Erfordernis der Gegenseitigkeit verzichtet wird, bei jenen aufgrund einer
vertraglichen Vereinbarung, bei dieser kraft gesetzlicher Anordnung.
Der hier zur Entscheidung stehende Sachverhalt unterscheidet sich je-
doch von den Fällen der Konzernverrechnungsklausel in einem entscheidenden
Punkt: Die Verrechnungslage besteht schon geraume Zeit. Die Verrechnungen
werden auch tatsächlich bereits vorgenommen. Das Verfahren ist bis jetzt noch
nicht eröffnet. Dies begründet das Vertrauen der weiteren Beteiligten, die durch
das Gesetz angeordnete und bereits praktizierte Verrechnungsmöglichkeit wer-
de nach der Insolvenzeröffnung weiter anerkannt.
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Dass man es in Gestalt der Verrechnungsbefugnis des § 52 SGB I und
der Konzernverrechnungsklauseln mit - insolvenzrechtlich gesehen - gleich-
rangigen Erscheinungen zu tun habe, die wertungsmäßig einheitlich zu beurtei-
len seien (so Windel KTS 2004, 563, 564), trifft auch sonst nicht zu. Konzern-
verrechnungsklauseln sind nicht insolvenzfest, weil mit ihnen die Aufrech-
nungsmöglichkeiten - zum Nachteil der anderen Gläubiger - vervielfacht werden
können (BGH, Urt. v. 6. Dezember 1990 - IX ZR 44/90, NJW 1991, 1060, 1061).
Mit der Aufrechnungsermächtigung an ein anderes Konzernunternehmen behält
sich der Forderungsinhaber vor, gegebenenfalls seinerseits aufrechnen zu kön-
nen. Eine solche Vervielfachung der "Aufrechnungs"-möglichkeiten ist hier nicht
zu befürchten (zutreffend BSGE 92, 1, 7). Falls der Leistungsträger, der ge-
genwärtig das Arbeitslosengeld II auszahlt, nicht imstande ist, die Forderung
des anderen Leistungsträgers, also der weiteren Beteiligten, zu verrechnen,
kann dies niemand. Insbesondere kann dies die weitere Beteiligte selbst nicht,
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denn sie zahlt das Arbeitslosengeld II nicht aus. Da im vorliegenden Fall die
"Aufrechnungs"-möglichkeiten nicht vervielfacht werden, versagt auch das vom
Senat im Hinblick auf die Konzernverrechnungsklauseln verwendete Argument,
deren Zulassung stehe in einem Spannungsverhältnis zu Art. 33 Nr. 17 EGIn-
sO, mit dem der Konzernvorbehalt auf Verkäuferseite für nichtig erklärt wurde
(vgl. jetzt § 449 Abs. 3 BGB).
Im Übrigen hat der Senat seine Rechtsprechung zu den Konzernver-
rechnungsklauseln maßgeblich darauf gestützt, diese hätten unter der Geltung
der Konkursordnung nicht zu einer wirksamen Aufrechnung geführt, der Gene-
se der Insolvenzordnung könne nicht der Wille des Gesetzgebers entnommen
werden, daran etwas zu ändern (BGHZ 160, 107, 108, 110). Das muss dann
- wie oben unter bb ausgeführt - auch umgekehrt gelten.
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(2) Das Vertrauen der weiteren Beteiligten in die Insolvenzfestigkeit ihrer
Verrechnungsbefugnis wäre nur dann unberechtigt, wenn die Insolvenzordnung
Vorschriften enthielte, welche für die Zeit nach der Verfahrenseröffnung die ge-
setzliche Verrechnungsmöglichkeit nach § 52 SGB I eindeutig ausschlössen.
Dies ist nicht der Fall.
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Es ist bereits oben unter aa dargelegt worden, dass die Verwendung des
Begriffs "aufrechnen" in §§ 94, 114 Abs. 2 InsO einer Anwendung auf die sozi-
alrechtliche Verrechnung nicht entgegensteht.
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Drittaufrechnungs- oder Verrechnungsbefugnisse sind auch nicht von
vornherein aus dem Schutz des § 94 InsO ausgenommen (so jedoch Windel
KTS 2004, 305, 310 ff ders. KTS 2004, 563, 565; Reher ZInsO 2004, 900,
902 f). Hinsichtlich der Konzernverrechnungsklauseln hat der Senat die vertrag-
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liche Abbedingung des Gegenseitigkeitserfordernisses nicht an § 94 InsO, son-
dern an der entsprechenden Anwendung des § 96 Abs. 1 Nr. 2 InsO scheitern
lassen (BGHZ 160, 107, 112).
Des Weiteren widerspricht die Anerkennung der Verrechnungsmöglich-
keit nicht dem die Insolvenzordnung beherrschenden Grundsatz der Gläubiger-
gleichbehandlung. Allerdings sind die Privilegien der öffentlichen Hand, die in
der Konkursordnung noch Gültigkeit hatten, in der Insolvenzordnung weitge-
hend abgeschafft, zumindest stark eingeschränkt worden (darauf verweisen
BayObLG NZI 2001, 367, 368; LG Göttingen NZI 2001, 267; vgl. jetzt aber
§ 28e Abs. 1 SGB IV in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Vierten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze, BT-Drucks. 16/6540). Für die
sich aus § 52 SGB I ergebende Befugnis ist eine derartige Einschränkung je-
doch nicht erkennbar. Soweit die Ansicht vertreten worden ist, es wäre Aufgabe
des Gesetzgebers gewesen, die Fortgeltung dieser Befugnis in der Insolvenz
des Leistungsberechtigten anzuordnen (BayObLG NZI 2001, 367 f), vermag der
Senat dem nicht zu folgen. Es hätte umgekehrt nahe gelegen, dass der Ge-
setzgeber es ausgesprochen hätte, wenn die von § 52 SGB I verliehene Befug-
nis in der Insolvenz nicht hätte gelten sollen.
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Deutlich wird dies durch einen Vergleich mit den Absonderungsrechten,
denen die Aufrechnungsbefugnis ähnelt (BGHZ 160, 107, 111). Auch die Aner-
kennung von Absonderungsrechten widerspricht dem Gläubigergleichbehand-
lungsgrundsatz. Es gibt jedoch eine Reihe von zur abgesonderten Befriedigung
berechtigenden Rechtspositionen, die in der Insolvenzordnung nur dem Typus
nach oder überhaupt nicht geregelt sind (zu letzteren zählen etwa die Ansprü-
che aus einer Versicherung für fremde Rechnung oder das Befriedigungsrecht
des Kommissionärs, vgl. MünchKomm-InsO/Ganter, aaO vor §§ 49 bis 52
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Rn. 16). Die Insolvenzordnung enthält insofern keine abschließende Regelung,
sondern nur eine institutionelle Garantie der Absonderungsrechte (Münch-
Komm-InsO/Ganter, aaO vor §§ 49 bis 52 Rn. 9, 13). Ebenso wie diese Rechts-
positionen in der Insolvenzordnung nicht eigens genannt sein müssen, um in-
solvenzrechtlich Bestand zu haben, kann auch nicht verlangt werden, dass die
Verrechnungsbefugnis nach § 52 SGB I, weil sie dem Gläubigergleichbehand-
lungsgrundsatz zuwiderläuft, in der Insolvenzordnung ausdrücklich anerkannt
wird. Damit wird zugleich das Argument widerlegt, nach Einleitung eines Insol-
venzeröffnungsverfahrens hätten die eine bevorzugte Befriedigung einschrän-
kenden Bestimmungen der Insolvenzordnung spezialgesetzlichen Vorrang (so
jedoch BayObLG NZI 2001, 367, 368; Häsemeyer aaO).
In diesem Zusammenhang gewinnt ferner Bedeutung, dass die Insol-
venzordnung teilweise - auch und gerade auf dem Gebiet der Aufrechnung -
den Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung weiter eingeschränkt hat als zu-
vor die Konkursordnung. Sie verfolgt auch nicht das Ziel, "den Erhalt von Auf-
rechnungslagen im Insolvenzverfahren auf das unbedingt notwendige Maß zu
beschränken" (so G. Pape EWiR 2001, 593, 594). So bestimmt § 94 InsO nun-
mehr ausdrücklich, dass nicht nur eine Aufrechnungslage kraft Gesetzes, son-
dern auch eine vertraglich vereinbarte insolvenzrechtlich Bestand hat. Außer-
dem erweitert § 114 Abs. 2 InsO die Aufrechnungsmöglichkeit, die nach dem
früheren Recht durch § 55 Nr. 1 KO ausgeschlossen gewesen wäre. Eine Er-
weiterung der Aufrechnungsmöglichkeit - die sonst durch § 96 Abs. 1 Nr. 1
InsO ausgeschlossen wäre - enthält auch die Vorschrift des § 110 Abs. 3 Satz 1
InsO (BGH, Urt. v. 21. Dezember 2006 - IX ZR 7/06, NZI 2007, 164, 165). Ei-
nem Ziel, das es - zumindest in der geltend gemachten Unbedingtheit - nicht
gibt, kann die insolvenzrechtliche Anerkennung der sozialrechtlichen Verrech-
nungsmöglichkeit nicht widersprechen. Allerdings bezweckt die Insolvenzord-
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- 15 -
nung, zu größeren Verteilungsmassen beizutragen (MünchKomm-InsO/
Ganter, aaO § 1 Rn. 21). Dies kann jedoch nicht durch Umwertung von Rechten
geschehen (MünchKomm-InsO/Ganter, aaO § 1 Rn. 48). Zwangseingriffe in
gesicherte Rechtspositionen sind unzulässig.
dd) Da nur § 94 - und nicht § 114 Abs. 2 - InsO analog angewendet wird,
versagt das Argument, als Ausnahmevorschrift sei § 114 Abs. 2 InsO keiner
ausdehnenden Anwendung fähig (in diesem Sinne Mohrbutter aaO S. 329).
§ 94 InsO ist keine Ausnahmevorschrift.
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ee) Ebenso wenig stichhaltig ist die Erwägung, die Zulassung der sozial-
rechtlichen Verrechnung in der Insolvenz lasse den Fiskus wegen der Verfah-
renskosten leer ausgehen (Th. Fischer ZVI 2004, 415). Zum einen erhält der
Sozialleistungsträger, der von seiner Verrechnungsmöglichkeit Gebrauch
macht, nicht notwendig den gesamten pfändbaren Betrag des Einkommens des
Schuldners. Zum andern droht dem Fiskus ein Ausfall nur, wenn er dem
Schuldner die Verfahrenskosten gestundet und so die Eröffnung des Verfah-
rens ermöglicht hat. Die Stundungsregelung soll künftig entfallen (vgl. den am
22. August 2007 beschlossenen Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Ent-
schuldung mittelloser Personen, zur Stärkung der Gläubigerrechte sowie zur
Regelung der Insolvenzfestigkeit von Lizenzen).
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ff) Eine Schlechterstellung der weiteren Beteiligten kann auch nicht mit
der Erwägung verneint werden, die Ermächtigung zur Verrechnung wäre nach
Insolvenzeröffnung anfechtbar (vgl. dazu Wenzel ZInsO 2006, 169, 175). Die
Ermächtigung verschafft - weil gesetzlich vorgesehen - der weiteren Beteiligten
eine kongruente Deckung. Zwar entspricht es der Rechtsprechung des Bun-
desgerichtshofs, dass eine während der "kritischen Zeit" im Wege der Zwangs-
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vollstreckung erlangte Sicherung oder Befriedigung auch dann als inkongruent
anzusehen ist, wenn die Vollstreckung auf einer spezialgesetzlichen Ermächti-
gung der Finanzbehörden beruht (BGHZ 157, 350, 351, 353; BGH, Beschl. v.
11. Oktober 2007 - IX ZR 87/06, NZI 2007, 721 Rn. 3). Im vorliegenden Fall war
der Gläubiger jedoch bereits vor Beginn der "kritischen Zeit" gesichert. Dann
kann die anschließende Befriedigung durch Zahlung nicht angefochten werden
(BGHZ aaO).
3. Die Beschwerdeentscheidung ist somit aufzuheben; da nach dem
festgestellten Sachverhältnis die Sache zur Endentscheidung reif ist, kann der
Senat in der Sache selbst entscheiden (§ 577 Abs. 5 ZPO), die erstinstanzliche
Entscheidung ebenfalls aufheben und den Antrag auf Ersetzung der fehlenden
Zustimmung der weiteren Beteiligten zurückweisen.
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Ganter
Gehrlein
Vill
Lohmann
Fischer
Vorinstanzen:
AG Bad Kreuznach, Entscheidung vom 06.10.2006 - 3 IK 81/06 -
LG Bad Kreuznach, Entscheidung vom 01.03.2007 - 1 T 281/06 -