Urteil des BGH vom 22.04.2010

BGH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, allein erziehende mutter, zumutbare tätigkeit, stundung, aufhebung, schuldner, zpo, sache, verletzung, ausbildung)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IX ZB 253/07
vom
22. April 2010
in dem Verbraucherinsolvenzverfahren
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Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch den Vorsitzenden Richter
Dr. Ganter, die Richter Raebel, Vill, Dr. Pape und Grupp
am 22. April 2010
beschlossen:
Der Schuldnerin wird wegen Versäumung der Frist zur Einlegung
und Begründung der Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der
3. Zivilkammer des Landgerichts Hagen vom 25. April 2007 Wie-
dereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Auf die Rechtsbeschwerde der Schuldnerin werden der Beschluss
der 3. Zivilkammer des Landgerichts Hagen vom 25. April 2007
und der Beschluss des Amtsgerichts Hagen vom 22. Januar 2007
aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Insolvenzgericht zu-
rückverwiesen.
Der Gegenstand für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf bis
zu 1.500 Euro festgesetzt.
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Gründe:
I.
In dem am 30. August 2002 eröffneten Verbraucherinsolvenzverfahren,
in dem der Schuldnerin die Verfahrenskosten gestundet waren, kündigte das
Insolvenzgericht dieser am 7. April 2004 die Restschuldbefreiung an, sofern sie
ihre Obliegenheiten während der Laufzeit der Abtretungserklärung erfüllte. Zur
Überprüfung der Stundungsvoraussetzungen forderte das Gericht die Schuld-
nerin im September 2005 auf, auf ihre Bemühungen um Arbeitsaufnahme dar-
zulegen. Die Schuldnerin teilte daraufhin unter Vorlage von Attesten mit, wegen
einer psychischen Erkrankung nicht arbeitsfähig zu sein. Nach erneuter Auffor-
derung im November 2006 legte sie einen Arbeitsvertrag mit einem Gebäude-
reinigungsunternehmen vom 28. September 2006 vor. Danach hatte sie am
1. Oktober 2006 eine Tätigkeit als Raumpflegerin mit wechselnden Arbeitszei-
ten, die von dem Arbeitgeber bestimmt werden konnten, begonnen. Der Brutto-
arbeitslohn betrug 7,87 Euro pro Stunde.
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Nach Vorlage dieses Arbeitsvertrags hat das Insolvenzgericht die Stun-
dung der Verfahrenskosten aufgehoben, weil die Schuldnerin keine angemes-
sene Erwerbstätigkeit ausübe und sich auch nicht hinreichend um eine solche
Tätigkeit bemüht habe. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde ist erfolg-
los geblieben. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts kann die Schuldnerin
nicht damit gehört werden, aufgrund ihrer Ausbildung und persönlichen Situati-
on (allein erziehende Mutter von zwei Kindern im Alter von 15 und 18 Jahren
mit Hauptschulabschluss ohne weitere Ausbildung) gar nicht in der Lage zu
sein, eine Vollzeitstelle zu bekommen, bei der sie ein pfändbares Einkommen
erzielen könne. Hierdurch werde sie nicht von ihrer Erwerbsobliegenheit befreit.
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Mit ihrer Rechtsbeschwerde begehrt die Schuldnerin - nach Gewährung von
Prozesskostenhilfe - Änderung des Beschlusses über die Aufhebung der Ver-
fahrenskostenstundung.
II.
Der Schuldnerin ist wegen der Versäumung der Frist zur Einlegung und
Begründung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu
gewähren (§§ 233, 234 Abs. 2, § 575 ZPO).
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III.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO, §§ 7, 6 Abs. 1, § 4d Abs. 1
InsO statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde (§ 574 Abs. 2
Nr. 2 ZPO) führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zu-
rückverweisung der Sache an das Insolvenzgericht.
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Insolvenz- und Beschwerdegericht hätten die der Schuldnerin gewährte
Verfahrenskostenstundung nach dem derzeitigen Stand der Sache nicht aufhe-
ben dürfen. Danach sind die Voraussetzungen des einzig in Betracht kommen-
den Aufhebungsgrunds des § 4c Nr. 4 InsO nicht erfüllt. Nach dieser Vorschrift
kann das Insolvenzgericht die zuvor gemäß § 4a InsO gewährte Stundung der
Kosten des Insolvenzverfahrens aufheben, wenn der Schuldner keine ange-
messene Erwerbstätigkeit ausübt und, wenn er ohne Beschäftigung ist, sich
nicht um eine solche bemüht oder eine zumutbare Tätigkeit ablehnt. Infolge des
gesetzlichen Verweises auf § 296 Abs. 2 Satz 2 und 3 InsO ist die Stundung
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außerdem aufzuheben, wenn der Schuldner über die Erfüllung dieser Obliegen-
heit auch nach Fristsetzung keine Auskunft erteilt. Unter beiden Gesichtspunk-
ten war die Aufhebung nicht gerechtfertigt.
1. Auf eine Verletzung der Auskunftspflicht hat das Insolvenzgerichts die
Aufhebung der Verfahrenskostenstundung nicht gestützt. Es hat zwar ausge-
führt, die von der Schuldnerin vorgelegten Unterlagen reichten nicht aus, um
von einer angemessenen Erwerbstätigkeit oder hinreichenden Bemühungen um
eine solche Beschäftigung auszugehen. Dass die Schuldnerin auf Verlangen
des Gerichts Auskunft erteilt hat, steht aber außer Frage.
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2. Die Stundung kann der Schuldnerin entgegen der Auffassung der Vor-
instanzen nicht ohne weiteres entzogen werden, wenn sie nur eine Teilzeittätig-
keit ausübt und sich - nach Auffassung des Gerichts - nicht ausreichend darum
bemüht, eine Vollzeittätigkeit zu finden (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 14. Januar
2010 - IX ZB 242/06, WM 2010, 426 Rn. 5).
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a) Der Bundesgerichtshof hat entschieden, dass die Stundung der Kos-
ten des Verfahrens nicht schon deshalb aufgehoben werden kann, weil der be-
schäftigungslose Schuldner sich nicht um eine Beschäftigung bemüht, wenn er
nicht in der Lage ist, Einkünfte oberhalb der Pfändungsfreigrenze zu erzielen,
und die Befriedigung der Insolvenzgläubiger somit nicht beeinträchtigt ist (BGH,
Beschl. v. 22. Oktober 2009 - IX ZB 160/09, NZI 2009, 899). Ebenso wie die
Versagung der Restschuldbefreiung wegen Verletzung der in § 295 Abs. 1 Nr. 1
InsO bestimmten Erwerbsobliegenheit setzt auch die Aufhebung der Stundung
gemäß § 4c Nr. 4 InsO wegen Verletzung der Erwerbspflicht voraus, dass hier-
durch die Befriedigung der Insolvenzgläubiger beeinträchtigt worden ist (§ 296
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Abs. 1 Satz 1 InsO). Ist der Schuldner aufgrund seiner Ausbildung, seiner Fä-
higkeiten, einer früheren Erwerbstätigkeit, seines Lebensalters oder seines Ge-
sundheitszustands (vgl. § 1574 Abs. 2 BGB) nicht in der Lage, eine Tätigkeit zu
finden, mit der er einen Verdienst erzielt, der zu pfändbaren Einkünften führt,
darf ihm die Stundung nicht entzogen werden.
b) Mit diesen Grundsätzen sind die Entscheidungen der Vorinstanzen
nicht zu vereinbaren. Insolvenz- und Beschwerdegericht haben nicht festge-
stellt, dass die Befriedigungsaussichten der Gläubiger durch nicht ausreichende
Bemühungen der Schuldnerin, eine Vollzeittätigkeit zu finden, beeinträchtigt
worden sind. Ob die Schuldnerin unter Berücksichtigung ihrer persönlichen
Verhältnisse und der Verhältnisse am Arbeitsmarkt überhaupt in der Lage ist,
eine Arbeitsstelle zu finden, bei der sie pfändbare Einkünfte erzielen kann, ist
offen geblieben. Auf bloß theoretische, tatsächlich aber unrealistische Möglich-
keiten, einen angemessenen Arbeitsplatz zu erlangen, darf ein Schuldner nicht
verwiesen werden (vgl. BGH, Beschl. v. 7. Mai 2009 - IX ZB 133/07, NZI 2009,
482, 483; MünchKomm-InsO/Ehricke, aaO § 295 Rn. 38; FK-InsO/Ahrens,
5. Aufl. § 295 Rn. 29; ebenso für den Bereich des Unterhaltsrechts BGH, Urt. v.
4 Juni 1986 - IVb ZR 45/85, NJW 1986, 3080, 3081 f; v. 1. April 1987 - IVb ZR
133/86, NJW 1987, 2739, 2740).
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IV.
Der angefochtene Beschluss kann daher keinen Bestand haben. Er ist
aufzuheben, die Sache ist zur erneuten Entscheidung zurückzuverweisen
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(§ 577 Abs. 4 ZPO). Da die weiteren Voraussetzungen für eine Aufhebung der
Verfahrenskostenstundung bisher aus Rechtsgründen nicht geprüft sind, erfolg-
te die Zurückweisung analog § 572 Abs. 3 ZPO an das Insolvenzgericht (vgl.
BGHZ 160, 176, 185; MünchKomm-InsO/Ganter, aaO § 7 Rn. 106).
Ganter Raebel Vill
Pape Grupp
Vorinstanzen:
AG Hagen, Entscheidung vom 22.01.2007 - 107 IK 45/02 -
LG Hagen, Entscheidung vom 25.04.2007 - 3 T 66/07 -