Urteil des BGH vom 28.10.2010

BGH (vergewaltigung, strafkammer, ablehnung, abend, wohnung, beweisantrag, wahrheit, erforschung, vernehmung, antrag)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 359/10
vom
28. Oktober 2010
in der Strafsache
gegen
wegen besonders schwerer Vergewaltigung u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbun-
desanwalts und des Beschwerdeführers am 28. Oktober 2010 gemäß § 349
Abs. 2 und Abs. 4 StPO beschlossen:
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des
Landgerichts Bielefeld vom 2. Dezember 2009 mit den
Feststellungen aufgehoben,
a) soweit der Angeklagte wegen besonders schwerer Ver-
gewaltigung verurteilt wurde und
b) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten des
Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landge-
richts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verwor-
fen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubten Handeltrei-
bens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, wegen räuberischer Er-
pressung in Tateinheit mit Körperverletzung und wegen besonders schwerer
Vergewaltigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt. Mit
seiner Revision beanstandet der Angeklagte das Verfahren und die Anwendung
des materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat mit einer Verfahrensrüge Erfolg,
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soweit der Angeklagte wegen besonders schwerer Vergewaltigung verurteilt
wurde; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Angeklagte rügt hinsichtlich seiner Verurteilung wegen besonders
schwerer Vergewaltigung mit Recht die Ablehnung eines Beweisantrags wegen
Prozessverschleppung.
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a) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen erzwang der
Angeklagte am 13. April 2008 durch Schläge und Drohung mit einer Schusswaf-
fe den Analverkehr mit dem Nebenkläger Tim K. . "Hysterisch und verstört"
(UA 16) verließ Tim K. anschließend seine Wohnung und ließ sich von einer
Zeugin in die Nähe seines Elternhauses fahren. Am Abend traf Tim K. seinen
Lebensgefährten, erzählte diesem aber von der Tat zunächst nichts (UA 16);
wann (genau) und wo dieses Treffen stattfand, vermochte die Strafkammer
nicht festzustellen (UA 63).
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Am letzten Tag der Hauptverhandlung stellte der Verteidiger des die Be-
gehung dieser Tat bestreitenden Angeklagten den Antrag, dessen Lebensge-
fährtin ("Ehefrau") als Zeugin dazu zu vernehmen, dass Tim K. und sein
Lebensgefährte am Abend des 13. April 2008 in die Wohnung des Angeklagten
gekommen seien, die Zeugin für diese und den Angeklagten Essen und Trinken
zubereitet habe und man einige Stunden zusammengesessen sei, "wobei hier
in keiner Form über eine etwaige sexuelle Nötigung gesprochen wurde".
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Diesen Antrag lehnte die Strafkammer am selben Hauptverhandlungstag
ab, da er zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt worden sei. Zur Be-
gründung führte sie aus:
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Die Vernehmung der Zeugin T. würde ggfs. die nochma-
lige Vernehmung der Zeugen K. und W. erfordern.
In der bisherigen Beweisaufnahme hat sich für eine Zusam-
menkunft am Tatabend nichts ergeben. Es kann auch nicht
anders als durch eine auf Entlastung des Angekl. ausgerichte-
te konstruierte Behauptung erklärt werden, dass die Beweis-
behauptung erst jetzt in die Hautverhandlung eingeführt wur-
de. Denn für den Fall, dass die Behauptung wahr wäre, ist es
nicht nachvollziehbar, dass diese Tatsache in der mehrtägigen
Beweisaufnahme nicht schon früher, insbes. im Zusammen-
hang mit der Befragung der Zeugen K. und W. einge-
führt worden ist, zumal der Angeklagte sich gerade zu dem
Vorwurf der Vergewaltigung auch schon spontan eingelassen
hat.
b) Diese Erwägungen tragen die Ablehnung des Beweisantrags nicht.
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aa) Die Strafkammer geht zutreffend davon aus, dass es sich bei dem
Antrag um einen Beweisantrag handelt.
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Der erste Teil der Beweisbehauptung ist unmittelbar auf eine (positive)
Wahrnehmung der Zeugin gerichtet (Erscheinen von Tim K. und seines
Lebensgefährten in der Wohnung des Angeklagten am Abend des 13. April
2008, Zubereitung von Essen und Getränken). Der zweite Teil der Beweisbe-
hauptung betrifft zwar eine sogenannte Negativtatsache, aber nicht nur ein Be-
weisziel, sondern den - nach dem Vorbringen des Antragstellers - von der Zeu-
gin selbst wahrgenommenen Inhalt eines Gesprächs. Es liegt also keiner der
Fälle vor, in denen aus der unmittelbaren Wahrnehmung der Beweisperson erst
darauf geschlossen werden soll, dass ein weiteres Geschehen nicht stattgefun-
den habe. Die Beweisbehauptung konnte deshalb Gegenstand des Zeugenbe-
weises sein (vgl. BGH, Urteil vom 26. Januar 2000 - 3 StR 410/99, NStZ 2000,
267, 268; Beschluss vom 15. April 2003 - 1 StR 64/03, NJW 2003, 2761 f.).
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bb) Die Ablehnung des Beweisantrags durch die Strafkammer begegnet
durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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Die Strafprozessordnung gestaltet das Strafverfahren als einen vom
Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschten Amtsprozess aus, in
dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist.
Dem Gebot der Sachaufklärung kommt dabei auch gegenüber dem Interesse
an einer Verfahrensbeschleunigung und der Verhinderung bzw. Abwehr eines
missbräuchlichen Verhaltens, wie der Stellung eines Beweisantrags zum Zwe-
cke der Prozessverschleppung, grundsätzlich der Vorrang zu. Gebietet daher
die Pflicht zur Erforschung der Wahrheit, einem Beweisantrag in der Sache
nachzugehen, darf er nicht wegen Prozessverschleppung abgelehnt werden
(BVerfG, Beschluss vom 6. Oktober 2009 - 2 BvR 2580/08, NJW 2010, 592,
593 [Rn. 18], 594 [Rn. 26]; BGH, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 StR
162/09, NStZ 2010, 161 f.).
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Die Frage, ob eine Beweiserhebung der Sachaufklärung dient, muss der
Tatrichter in dem Beschluss, mit dem er den Beweisantrag wegen Verschlep-
pungsabsicht ablehnt, beantworten. Nur dann kann das Revisionsgericht über-
prüfen, ob die Ablehnung rechtsfehlerfrei erfolgt ist. Dagegen obliegt es dem
Revisionsgericht als bloßer Rechtsinstanz - ähnlich der Überprüfung der tatrich-
terlichen Beweiswürdigung - jedenfalls grundsätzlich nicht, die Sachdienlichkeit
der Beweiserhebung selbst zu prüfen und gegebenenfalls zu verneinen. Da es
in dem beanstandeten Beschluss aber an jeglicher Darlegung dazu fehlt, wes-
halb der Beweis nichts Entlastendes für den Beschwerdeführer erbringen kön-
nen soll, ist es dem Senat verwehrt, die - nach den Umständen nicht auf der
Hand liegende - Beurteilung vorzunehmen, ob die Vernehmung der Ehefrau des
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Angeklagten der Erforschung der Wahrheit dienlich gewesen wäre (vgl. auch
BGH, Beschluss vom 18. September 2008 - 4 StR 353/08, NStZ-RR 2009, 21).
2. Die deshalb gebotene Aufhebung der Verurteilung wegen besonders
schwerer Vergewaltigung, die es dem neu zur Entscheidung berufenen Landge-
richt gegebenenfalls auch ermöglicht, nähere Feststellungen zu der vom Ange-
klagten verwendeten Schusswaffe zu treffen, hat die Aufhebung des Aus-
spruchs über die Gesamtstrafe zur Folge. Dagegen schließt der Senat aus,
dass die Schuldsprüche wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmit-
teln in nicht geringer Menge und wegen räuberischer Erpressung in Tateinheit
mit Körperverletzung und die deshalb verhängten Einzelstrafen von dem
Rechtsfehler berührt werden. Sie können daher bestehen bleiben.
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Ernemann Solin-Stojanović Cierniak
Mutzbauer Bender