Urteil des BGH vom 06.02.2002

BGH (strafkammer, stpo, vernehmung, sexuelle handlung, staatsanwaltschaft, nachteil, vergewaltigung, aufhebung, geschlechtsverkehr, erkrankung)

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 506/01
vom
6. Februar 2002
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
6. Februar 2002, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Schäfer
und die Richter am Bundesgerichtshof
Nack,
Dr. Wahl,
Schluckebier,
Hebenstreit,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwälte und
als Verteidiger,
Rechtsanwältin
als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landge-
richts Nürnberg-Fürth vom 24. April 2001 mit Ausnahme des
Schuldspruchs wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit vor-
sätzlicher Körperverletzung (Fall 8 der Anklage) mit den zugehö-
rigen Feststellungen aufgehoben.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil im Fall 1
(Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung)
mit den zugehörigen Feststellungen sowie im Gesamtstrafenaus-
spruch aufgehoben.
Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an ei-
ne andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
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Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tatein-
heit mit gefährlicher Körperverletzung, versuchten sexuellen Mißbrauchs wi-
derstandunfähiger Personen, Vergewaltigung, gefährlicher Körperverletzung,
Körperverletzung und wegen versuchter Nötigung in Tateinheit mit Körperver-
letzung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten ver-
urteilt.
Die umfassend eingelegte Revision des Angeklagten wendet sich insbe-
sondere gegen die Verurteilung in den Fällen 1 bis 5. Zwei Formalrügen des
Angeklagten führen zur Aufhebung des Urteils bis auf den Schuldspruch im
Fall 6. Auf seine weitere Rüge der Verletzung des Prozeßrechts sowie auf
Fehler, die die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge aufdecken,
kommt es daher nicht mehr an. Beides betrifft nicht den Fall 6.
Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und mit der Sachrüge
begründete Revision der Staatsanwaltschaft bezieht sich nur auf den Schuld-
und Rechtsfolgenausspruch im Fall 1 und auf die Gesamtstrafe. Zwar hat die
Beschwerdeführerin die Aufhebung des Urteils in vollem Umfang beantragt.
Daraus kann aber nicht gefolgert werden, daß sich die Sachrüge auf sämtliche
Urteilsteile erstreckt (BGHR StPO § 344 Abs. 1 Antrag 3). Denn aus der Revi-
sionsbegründung ergibt sich, daß die Staatsanwaltschaft das Urteil nur im
Fall 1 und in der Konsequenz im Gesamtstrafenausspruch für rechtsfehlerhaft
hält. Diese Auslegung wird durch die allgemeine Übung der Staatsanwaltschaft
bestätigt, Revisionen in der Regel so zu begründen, daß klar ersichtlich ist, in
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welchen Ausführungen des angefochtenen Urteils sie eine Rechtsverletzung
erblickt und auf welche Gründe sie ihre Rechtsauffassung stützt (vgl. Nr. 156
Abs. 2 RiStBV).
II.
Geschädigte der Taten 1 bis 5 ist die Zeugin V. . Mit ihr lebte der
Angeklagte in der ersten Hälfte des Jahres 2000 zeitweise zusammen. Opfer
der Tat 6 (versuchte Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung) war ein Mit-
häftling, nachdem der Angeklagte wegen der Taten 1 bis 5 in Untersuchungs-
haft genommen worden war.
V. , damals 38 Jahre alt, konsumiert seit ihrem 15. Lebensjahr
regelmäßig Alkohol und ist seit mindestens 14 Jahren alkoholkrank. Ihre Erzie-
hung war von Gewalt geprägt. Der Angeklagte lernte sie im Februar 2000 ken-
nen. Anfang März 2000 zog sie zum Angeklagten in dessen Wohnung. Zu Be-
ginn einvernehmliche Intimkontakte lehnte V. nach wenigen Wochen
ab. Daraufhin kam es nach den Feststellungen der Strafkammer zu folgenden
sechs Vorfällen:
1. Im März 2000 warf der Angeklagte V. aufs Bett, fesselte ihr
mit einer Krawatte die Hände auf dem Rücken und übte gegen ihren Willen den
ungeschützten Geschlechtsverkehr aus. Entweder vor oder kurz nach dem
Verkehr fügte der Angeklagte der Geschädigten mit einem Einwegrasierer auf
den Oberschenkeln und an den Armen mindestens 15 oberflächliche Schnitte
zu, die zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung am 24. April 2001 teilweise noch
sichtbar waren. Das Weinen der Zeugin kommentierte der Angeklagte mit den
Worten: "Du stehst doch auf erotischem Schmerz." Die Kammer konnte nicht
feststellen, daß der Angeklagte die Schnitte zur eigenen Erregung oder zur
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Überwindung eines Widerstandes der Geschädigten einsetzte. Nachdem er die
Zeugin losgebunden hatte, entschuldigte sich der Angeklagte bei ihr. Sie ver-
zieh ihm und blieb in der Wohnung.
2. Eines Nachts im April 2000 lag V. nur mit einem T-Shirt be-
kleidet schlafend auf der Wohnzimmercouch unter der Decke. Der Angeklagte
zog die Decke weg und übte den Geschlechtsverkehr aus. Die Geschädigte
war beim Wegziehen der Decke zwar - unbemerkt vom Angeklagten - aufge-
wacht, hatte sich aber aus Angst vor Schlägen des Angeklagten weiter schla-
fend gestellt.
3. Im Mai 2000 fesselte der Angeklagte der Zeugin gegen ihren Willen
die Hände mit Handschellen, die er an einem Brett am Bett befestigte. Dann
übte er erneut unerlaubt den Geschlechtsverkehr mit ihr aus.
4. Nach ihrem Auszug kam die Zeugin im August 2000 spät abends we-
gen einer Geldangelegenheit nochmals in die Wohnung des Angeklagten. Da
sie sich nicht einigen konnten, packte der Angeklagte die Zeugin am Hals und
drückte sie zu Boden. Als sie auf dem Rücken lag, fügte er ihr drei Schnitte an
beiden Wangen und auf der Stirn zu. Die Schnitte bluteten, verheilten aber fol-
genlos.
5. Mitte August 2000 hielt sich die Zeugin nochmals drei Tage in der
Wohnung des Angeklagten auf. Wegen eines verschwundenen Schlüssels
schlug der Angeklagte die Zeugin V. am 15. August 2000 mit der Faust
aufs Auge, stieß sie mit dem Rücken gegen einen Türrahmen, zog sie an den
Haaren und stieß sie mit dem Kopf in die Badewanne.
6. Am 8. September 2000 wurde der Angeklagte festgenommen und zum
Vollzug der Untersuchungshaft in die Justizvollzugsanstalt Nürnberg eingelie-
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fert. Dort bat er den Mithäftling W. , über dessen Freundin zwei
Schriftstücke aus der Anstalt zu schmuggeln. Als W. dies ab-
lehnte, stieß ihn der Angeklagte von hinten gegen die Wand, schlug ihn so ins
Gesicht, daß zwei Zähne ausbrachen, versetzte ihm zwei Ohrfeigen und trat
ihm mit dem Schuh gegen beide Schienbeine. Daraufhin versprach
W. dem Angeklagten, die Schriftstücke wie gefordert weiterzuleiten,
übersandte sie jedoch dem Ermittlungsrichter.
Der Angeklagte hat die Tatvorwürfe bestritten. Er habe insbesondere die
Zeugin V. weder gefesselt noch geschnitten, noch sonstige Gewalt
ausgeübt. Er habe der Zeugin nur helfen wollen. Die Schnitte habe er bereits
im Februar 2000 - also schon beim Kennenlernen - bei ihr bemerkt. Einmal
habe er ein Telefongespräch der Zeugin V. mit einer Freundin mitge-
hört, in dem diese auf das Vergnügen an erotischen Schmerzen hinwies.
Die Feststellungen zu den Tatvorwürfen zum Nachteil der Zeugin V.
beruhen im wesentlichen auf deren Angaben. Die Strafkammer hat zwar Unsi-
cherheiten bei der zeitlichen Einordnung von Vorgängen durch die Zeugin fest-
gestellt. Die Strafkammer hat sie jedoch insgesamt als glaubwürdig bewertet
und dabei auch auf die Konstanz der Aussagen der Zeugin abgestellt.
III.
1. Die Revision des Angeklagten erhebt drei Formalrügen. Sie bean-
standet die Verletzung der Aufklärungspflicht - § 244 Abs. 2 StPO - sowie die
fehlerhafte Ablehnung zweier Anträge auf Vernehmung von Sachverständigen
wegen Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache - § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO -.
a) Die Revision des Angeklagten hat schon mit der zulässigen (§ 344
Abs. 2 Satz 2 StPO) Aufklärungsrüge weitgehend Erfolg.
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Die Revision beanstandet zu Recht, daß die Strafkammer die Angaben
der Zeugin V. während des Ermittlungsverfahrens im wesentlichen
nicht zum Gegenstand der Beweisaufnahme machte. Das Aussageverhalten
der Zeugin während des Ermittlungsverfahrens ist geeignet, die Glaubwürdig-
keit der Zeugin V. in Frage zu stellen.
V. wurde während des Ermittlungsverfahrens viermal gehört: Am
22. August 2000 bei der Anzeigeerstattung (hierüber fertigte POM H. einen
Vermerk), am 23. August 2000 und am 30. August 2000 (Vernehmungsbeamtin
jeweils KK'in S. ) sowie am 11. Oktober 2000 (durch KHK G. ).
Der Inhalt der Vernehmungen wurde weder durch Vernehmung der Zeu-
gin V. hierzu noch durch Anhörung der Vernehmungsbeamten zu die-
sem Punkt in die Hauptverhandlung eingeführt. Die Zeugen POM H. und
KHK G. wurden gar nicht vernommen. KK'in S. und V. wur-
den zwar gehört. Wie sich aus den Urteilsgründen ergibt, wurden ihnen aber
zum Inhalt der Vernehmungen der Zeugin V. während des Ermittlungsverfah-
rens keine Fragen gestellt oder Vorhalte gemacht. Insoweit wurden diese Be-
weismittel nicht ausgeschöpft (vgl. BGH NStZ 1997, 450). Die Zeugin KK'in
S. wurde nur zu der Behauptung des Angeklagten befragt, V. ha-
be wegen der Schnittverletzungen bereits gegen andere Personen bei der Kri-
minalpolizei Anzeige erstattet. Zum Aussageverhalten der Zeugin V.
während des Ermittlungsverfahrens vernahm die Strafkammer, wie sich aus
den Urteilsgründen ergibt, lediglich die Zeugin POM K. , die bei der Anzei-
geerstattung zugegen war. Ausweislich des Vermerks vom 22. August 2000
war sie aber lediglich zu Beginn Gesprächspartnerin der Zeugin V. ,
während die Vernehmung dann durch den Verfasser des Vermerks, POM H. ,
durchgeführt wurde. Allein aufgrund der Angaben der Zeugin POM K. kam
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die Strafkammer dann zu dem Ergebnis, daß sich "die Angaben der Zeugin mit
ihren Angaben bei der ersten Anzeigeerstattung decken, soweit sich der Zeuge
K. , der die Anzeige entgegennahm, noch erinnern konnte."
Aus den Niederschriften über die Vernehmung der Zeugin V. im
Ermittlungsverfahren ergibt sich folgendes:
Weder bei der Anzeigeerstattung am 22. August 2000 noch während ih-
rer umfangreichen Vernehmung am 23. August 2000 erwähnte V. die
ihr vom Angeklagten zugefügten Schnittverletzungen. Erst am 30. August 2000
erschien sie von sich aus bei der Polizei und erklärte: "Bei meiner ersten Ver-
nehmung habe ich etwas vergessen anzugeben. Vor der ersten Vergewalti-
gung durch den L. , aber schon, als ich mit der Krawatte gefesselt war, auf
dem Bett im Schlafzimmer lag, sagte er wortwörtlich zu mir: 'Du stehst doch auf
den erotischen Schmerz, stell Dich nicht so an.' Und plötzlich hatte er so eine
Einwegrasierklinge in der Hand und schnitt mich wahllos in meine Ober- und
Unterarme und besonders auch in meine Oberschenkel. Ich bin damit einver-
standen, daß diese Verletzungen fotografiert werden." Die Schnittverletzungen,
die der Angeklagte der Geschädigten V. Mitte August zugefügt haben
soll, erwähnte sie erstmals in der - wiederum von ihr initiierten - Vernehmung
vom 11. Oktober 2000.
Dies ist mit der Feststellung gleichbleibenden Aussageverhaltens nicht
vereinbar. Die Angaben der Zeugin V. waren für die Verurteilung nahe-
zu die alleinige Grundlage. Es hätte daher der vollständigen Würdigung der
Entstehungsgeschichte ihrer Beschuldigungen bedurft (BGHSt 44, 153, 158
ff.). Folgende Fragen wären - nach entsprechender Beweiserhebung über das
Aussageverhalten - zu erörtern gewesen: Wieso erwähnte V. weder bei
der Anzeigeerstattung noch bei der ausführlichen Zeugenvernehmung am
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23. August 2000 die Schnittverletzungen, insbesondere nicht die ihr im August,
also nur ein bis drei Wochen vorher zugefügten? Weshalb berichtete die Zeu-
gin am 30. August 2000, als sie die Verletzungen, die ihr der Angeklagte im
März 2000 zugefügt haben soll, zur Anzeige brachte, dann nicht auch über die
Gesichtsverletzungen aus demselben Monat, zumal damals von den Verlet-
zungen an Beinen und Armen Lichtbilder gefertigt wurden? Weshalb wurden
die Ermittlungsbeamten weder am 22. und 23. noch am 30. August 2000 von
sich aus auf Schnittverletzungen im Gesicht der Zeugin aufmerksam? Zwar
stellte die Kammer sachverständig beraten fest, es entspreche der Erfahrung,
daß Schnitte im Gesicht folgenlos verheilen können, während bei Verletzungen
an den Armen und Beinen eher Narben verbleiben. Über die Dauer des Hei-
lungsprozesses vermochte der Sachverständige konkret nichts zu sagen. Die-
ser könne bei der Geschädigten aufgrund ihres Alkoholismus und des dadurch
beeinträchtigten Allgemeinzustandes verzögert sein.
Die mangelnde Sachaufklärung berührt die Glaubwürdigkeit der Zeugin
V. insgesamt und betrifft alle Taten zu ihrem Nachteil (Fälle 1 bis 5),
auch soweit Schnittverletzungen keine Rolle spielen. Neben diesen Fällen un-
terliegt auch der Rechtsfolgenausspruch im Falle 6 der Aufhebung, da nicht
auszuschließen ist, daß die Strafzumessung in diesem Punkt von der Strafbe-
messung in den Fällen 1 bis 5 beeinflußt wurde.
b) Mit ihrer zweiten - zulässigen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) - Formalrü-
ge beanstandet die Revision des Angeklagten zu Recht die Ablehnung des
Hilfsbeweisantrags auf Vernehmung eines Sachverständigen zu einer mögli-
chen psychischen Erkrankung der Zeugin V. :
Der Verteidiger des Angeklagten hat im Rahmen seines Schlußvortrags
die Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens beantragt, zum
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Beweis der Erkrankung der Geschädigten an einer psychischen Erkrankung in
Form der SVV (selbstverletzendes Verhalten) sowie dazu, daß sie sich im
Rahmen dieser Erkrankung selbst Schnitte an Armen und Beinen zugefügt hat.
Die Strafkammer entsprach dem nicht: Die Ablehnung des Beweisantra-
ges ist nicht frei von Rechtsfehlern.
Die Strafkammer hat zwar im Ergebnis zu Recht davon abgesehen,
nochmals darüber Beweis zu erheben, ob die hier konkret in Rede stehenden,
dem Angeklagten angelasteten Schnitte aus einer selbstverletzenden Hand-
lung der Zeugin V. stammen, nachdem sie zu diesem Thema bereits
einen medizinischen Sachverständigen gehört hat, mit dem Ergebnis, daß dies
weder festgestellt noch ausgeschlossen werden kann.
Nicht tragfähig ist jedoch die Begründung der Strafkammer, es wäre hier
für die Entscheidung ohne Bedeutung, wenn die Beweisaufnahme ergäbe, daß
die Geschädigte zum Zeitpunkt der Beifügung der Verletzungen im März und
August 2000 an einer Krankheit "selbstverletzendes Verhalten" litt. Entspre-
chendes gilt für die unter Beweis gestellte Tatsache, die Zeugin V. habe
sich andere Verletzungen selbst beigebracht.
Die Strafkammer hat zwar - zunächst rechtsfehlerfrei - bei der Prüfung
der Bedeutungslosigkeit - hier aus tatsächlichen Gründen - die Beweistatsache
so, als sei sie erwiesen, in den Beweisstoff eingefügt - weshalb auch kein Ver-
stoß gegen das Verbot der Beweisantizipation vorliegt - und dann erörtert, ob
die bisherige Beweiswürdigung durch die Einfügung in einer für die Sachver-
haltsannahmen und den Urteilsspruch relevanten Weise beeinflußt wird (vgl.
BGH NStZ 1997, 503; KK-Herdegen StPO, 4. Aufl. § 244 Rdn. 74; LR-
Gollwitzer StPO, 25. Aufl. § 244 Rdn. 222). Die Beweiswürdigung ist Aufgabe
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des Tatrichters (§ 261 StPO) und daher der Überprüfung durch das Revisions-
gericht nur in Grenzen zugänglich. Die Würdigung darf aber nicht rechtsfehler-
haft sein. "Sie wäre es zum Beispiel dann, wenn dem benannten Beweismittel
nicht der volle Beweiswert zugesprochen würde, wenn sie gegen Denkgesetze,
allgemeine Erfahrungssätze oder anerkannte Bewertungsgrundsätze verstieße,
wenn sie nichtssagend (ohne argumentativen Gehalt) wäre, Abstriche an der
Beweisbehauptung vornehmen, sie entgegen ihrem Sinn und Zweck auslegen
oder sich auf Möglichkeiten der Deutung der Beweistatsache berufen würde,
die zwar denkbar aber nicht festgestellt und infolgedessen nicht geeignet sind,
die Tragweite der Beweistatsache abzuschwächen" (KK-Herdegen aaO
m.w.N.). Hier hat die Strafkammer die Tragweite der unter Beweis gestellten
Hilfstatsachen vor dem Hintergrund des bisherigen Beweisergebnisses ver-
kannt.
Die Feststellung der Strafkammer, der Angeklagte habe der Zeugin
V. im April und August Schnittverletzungen - gegen deren Willen - bei-
gebracht, beruht nahezu ausschließlich auf den Angaben der Geschädigten
selbst. Bestätigt wird dies zum Teil mittelbar lediglich durch den Zeugen
W. , dem vom Angeklagten mißhandelten Mithäftling (Fall 6). Dieser
Zeuge berichtete, der Angeklagte habe ihm erzählt, er - der Angeklagte - habe
mit der Geschädigten öfters Fesselspiele gemacht und sie auch mit Rasierklin-
gen leicht in Arme und Beine geschnitten. "Das habe zum Spiel gehört." Die
Stirnverletzungen erwähnt der Zeuge nicht. Daß die Verletzungen gegen den
Willen der Zeugin V. herbeigeführt wurden, kann der Aussage eben-
falls nicht entnommen werden. Andere Zeugen haben zwar Verletzungen ge-
sehen, konnten aber zu deren Verursachung nichts sagen, von Informationen
durch die Geschädigte selbst abgesehen. Hierzu kommt das von der Straf-
kammer zwar nicht festgestellte, durch die Aufklärungsrüge nunmehr aber auf-
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gedeckte merkwürdige Aussageverhalten der Zeugin zu den Schnittverletzun-
gen während des Ermittlungsverfahrens.
Vor diesem Hintergrund kann den unter Beweis gestellten Tatsachen -
die Angeklagte litt (und leidet noch) an selbstverletzendem Verhalten (in der
Regel Ausdruck einer Borderline-Persönlichkeitsstörung; vgl. Sachsse in Kern-
berg-Dulz-Sachsse, Handbuch der Borderline-Störungen, S. 347 ff.; derselbe,
Selbstverletzendes Verhalten, 5. Aufl. 1999, S. 35 ff.) und sie hat sich andere
Verletzungen selbst beigebracht - jegliche Beweiserheblichkeit für die Glaub-
würdigkeit der Zeugin vernünftigerweise nicht von vornherein abgesprochen
werden. Dann muß die endgültige Bewertung der Würdigung nach der Erhe-
bung des Beweises überlassen bleiben. Denn es entspricht der Lebenserfah-
rung, daß eine bereits als gesichert erscheinende Überzeugung durch die
weitere Beweisaufnahme wider Erwarten umgestoßen werden kann (LR-
Gollwitzer StPO, 25. Aufl. § 244 Rdn. 182).
Da dies mittelbar die Glaubwürdigkeit der Zeugin insgesamt berührt,
führt auch diese Rüge zur Aufhebung der Verurteilung in allen fünf Fällen, in
denen Straftaten zum Nachteil der Zeugin V. festgestellt wurden, sowie
des Rechtsfolgenausspruchs im Fall 6.
c) Auf die Rüge zur Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines
Sachverständigengutachtens zur Potenz des Angeklagten kommt es danach
nicht mehr an. Insoweit wird auf die Ausführungen des Generalbundesanwalts
in seiner Antragsschrift vom 10. Dezember 2001 verwiesen.
2. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge des Angeklagten
ergab die in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts dargestellten Män-
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gel. Sie betreffen lediglich die Fälle 1 bis 5. Hierauf kommt es deshalb eben-
falls nicht mehr an.
3. Beim Tatvorwurf zum Nachteil des Zeugen Heiko W. (Fall 6)
ergab die Überprüfung des Urteils anhand der Revisionsrechtfertigung des An-
geklagten hinsichtlich des Schuldspruchs keinen Rechtsfehler zum Nachteil
des Angeklagten.
IV.
Die von der Staatsanwaltschaft zu Ungunsten des Angeklagten einge-
legte und wirksam auf den Fall 1 und den Ausspruch über die Gesamtstrafe
beschränkte Revision hat Erfolg.
Die Staatsanwaltschaft beanstandet, die Strafkammer habe im Fall 1 zu
Unrecht die Bestimmung des Strafrahmens § 177 Abs. 3 StGB zugrundegelegt
und nicht § 177 Abs. 4 (Nr. 1) StGB.
Die Strafkammer begründet dies in der Beweiswürdigung wie folgt: Sie
habe sich nicht davon überzeugen können, daß der Angeklagte die Schnitte
zur Überwindung eines geleisteten und erwarteten Widerstands der Geschä-
digten eingesetzt hat. Die Zeugin V. habe nicht sagen können, ob der
Angeklagte sie vor oder nach dem Geschlechtsverkehr verletzte, und habe
auch nicht angegeben, erst durch die Schnitte zur Duldung des Geschlechts-
verkehrs oder der Fesselung gezwungen worden zu sein. Es stehe damit auch
nicht fest, daß der Angeklagte die Schnitte zur eigenen Luststeigerung ein-
setzte, wenn er sie der Geschädigten möglicherweise erst nach dem Beischlaf
beibrachte.
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Damit hat die Strafkammer zwar nicht verkannt, daß das gefährliche
Werkzeug im Sinne von § 177 Abs. 4 Nr. 1 StGB nicht Nötigungsmittel sein
muß, es vielmehr genügt, daß es bei der Vornahme der sexuellen Handlung
eingesetzt wird (BGHSt 46, 225, 228). Jedoch überzeugt die isolierte Bewer-
tung der Schnitte vor dem Hintergrund der Sachverhaltsdarstellung, die die
Beweiswürdigung nicht ausschöpft bzw. im Widerspruch hierzu steht, nicht. Die
Vergewaltigung der Zeugin unter Zufügung der Schnittverletzungen vor oder
"kurz nach" (so abweichend in der Sachverhaltsdarstellung) der Durchführung
des Geschlechtsverkehrs aber während der durchgehenden Fesselung kann
als einheitlicher Vorgang mit Sexualbezug gesehen werden. Eine sexuelle
Handlung liegt dann vor, wenn sie objektiv, d.h. nach ihrem äußeren Erschei-
nungsbild einen Sexualbezug aufweist. Bei ambivalenten Tätigkeiten, die für
sich betrachtet nicht ohne weiteres einen sexuellen Bezug aufweisen, ist auf
das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, der alle Umstände des
Einzelfalls kennt (BGHR § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 5). Zu diesen Umständen
gehören auch Äußerungen des Angeklagten in diesem Zusammenhang (BGH,
Urteil vom 22. Mai 1996 - 5 StR 153/96). Der Ausspruch des Angeklagten "Du
stehst doch auf erotischem Schmerz" spricht hier für die Sexualbezogenheit
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auch der Schnitte im Rahmen des Gesamtgeschehens. Da die teilweise wider-
sprüchlichen Feststellungen keine endgültige Beurteilung zulassen, ist das
Urteil im Fall 1 auf die Revision der Staatsanwaltschaft zum Nachteil des An-
geklagten aufzuheben.
Schäfer Nack Wahl
Schluckebier Hebenstreit