Urteil des BGH vom 22.02.2000

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
VI ZR 100/99
Verkündet am:
22. Februar 2000
Böhringer-Mangold,
Justizhauptsekretärin
als Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGB § 823 Aa
Besteht die Möglichkeit, eine Operation durch eine konservative Behand-
lung zu vermeiden und ist die Operation deshalb nur relativ indiziert, so
muß der Patient hierüber aufgeklärt werden.
BGH, Urteil vom 22. Februar 2000 - VI ZR 100/99 -
OLG Hamm
LG Bochum
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung
vom 22. Februar 2000 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter
Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler und Dr. Greiner
für Recht erkannt:
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 3. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Hamm vom 25. Januar 1999 im Kosten-
punkt und insoweit aufgehoben, als die Berufung der Klägerin ge-
gen die Abweisung ihrer gegen die Beklagten zu 1, 2 und 3 ge-
richteten Klage zurückgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Ver-
handlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision
mit Ausnahme der den Beklagten zu 4 - 6 in der Revisionsinstanz
entstandenen außergerichtlichen Kosten, die der Klägerin aufer-
legt werden, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Klägerin nimmt die Beklagten (nunmehr nur noch zu Ziff. 1-3) wegen
ärztlicher Fehler auf Schadensersatz in Anspruch. Nachdem sie schon seit
Jahren unter Schmerzen im Bereich der unteren Lendenwirbelsäule gelitten
hatte, verspürte sie ab 3. November 1990 eine extreme Zunahme der Schmer-
zen im Rücken mit Ausstrahlung ins rechte Bein und begab sich deshalb am
11. November 1990 in die neurologische Abteilung des Krankenhauses B.. Die
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dortige Diagnose lautete u.a. auf Bandscheibenprolaps L 5/S 1 rechtsseitig mit
radikulärer Läsion S 1 rechts. Die Klägerin wurde stationär aufgenommen und
eine Woche lang in parenteraler Therapie mit Opioiden konservativ behandelt.
Hierbei kam es zu einer Besserung dahingehend, daß sie in Ruhe beschwer-
defrei war, jedoch schon bei geringster Belastung oder Bewegung eine starke
radikuläre Schmerzsymptomatik hatte. Deshalb hielten die Neurologen des
Krankenhauses B. ein operatives Vorgehen für sinnvoll, zumal sich die konser-
vative Therapie wegen eines zusätzlichen Leidens der Klägerin als schwierig
erwies, und überwiesen die Klägerin mit ihrem Einverständnis in die neurochir-
urgische Klinik der Beklagten zu 1. Dort wurde sie nach weiteren Untersuchun-
gen am 22. November 1990 durch die Beklagten zu 2 und 3 operiert, wobei
eine Teilhemilaminektomie (Teilresektion eines Wirbelbogens) erfolgte. Die
weiterhin bestehende Schmerzsymptomatik wurde auch durch eine Revision-
soperation am 30. November 1990 nicht beseitigt.
Die Klägerin, die den in den Tatsacheninstanzen erhobenen Vorwurf von
Behandlungsfehlern nicht mehr aufrecht erhält, macht weiterhin geltend, die
erste Operation sei nicht indiziert gewesen, weil die Möglichkeit einer Fortset-
zung der konservativen Behandlung bestanden habe. Hierüber sei sie nicht
aufgeklärt worden. Sie hat Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes
von mindestens 100.000 DM sowie die Feststellung beantragt, daß die Be-
klagten als Gesamtschuldner verpflichtet seien, vorbehaltlich eines An-
spruchübergangs auf Sozialversicherungsträger ihren materiellen und immate-
riellen Schaden zu ersetzen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die
Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg. Mit der Revision verfolgt sie ihr Kla-
geziel weiter.
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Entscheidungsgründe:
I.
Das Berufungsgericht hat – sachverständig beraten – Ansprüche der
Klägerin gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB bzw. wegen Schlechterfüllung des
Behandlungsvertrages verneint. Die Beweisaufnahme habe keine Behand-
lungsfehler ergeben. Da die Klägerin unter einem rechtslateralen Bandschei-
benprolaps in Höhe von L 5/S 1 bei akuter Schmerzsymptomatik gelitten habe
und nicht nur, wie sie jetzt meine, unter einem Wurzelreizsyndrom, sei die Ope-
ration indiziert gewesen, nachdem die – wenn auch nur eine Woche andauern-
de – konservative Behandlung ergebnislos gewesen sei und operative Alterna-
tiven wegen des Krankheitsbildes der Klägerin nicht in Betracht gekommen
seien.
Die Klägerin habe nach umfassender und sachgerechter Aufklärung
wirksam in die Operation eingewilligt, wobei ihr die Risiken der Operation so-
wie Art, Schwere und Ausmaß der Komplikationen in genügendem Umfang er-
läutert worden seien.
II.
Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht
stand.
1. Mit Erfolg bekämpft die Revision die Auffassung des Berufungsge-
richts, die Klägerin sei umfassend und sachgerecht aufgeklärt worden. Demge-
genüber macht die Revision geltend, daß die Klägerin nicht über die Möglich-
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keit einer Fortsetzung der konservativen Behandlung und somit nicht darüber
aufgeklärt worden sei, daß eine nur relative Indikation vorgelegen habe. Wäh-
rend das Berufungsgericht ersichtlich eine absolute Indikation zur Operation
angenommen hat, rügt die Revision, das Berufungsgericht habe sich nicht mit
einem von der Klägerin im zweiten Rechtszug vorgelegten Lehrbuch der Chir-
urgie von S. aus dem Jahr 1998 auseinandergesetzt, das bei einem Krank-
heitsbild wie dem der Klägerin erst dann eine Indikation zur Operation bejahe,
wenn eine konservative Behandlung über mehrere Wochen hin erfolglos ge-
blieben sei, und das deshalb in Widerspruch zur Auffassung des gerichtlichen
Sachverständigen stehe. Damit spricht die Revision den Grundsatz an, daß
das Gericht im Arzthaftungsprozeß die Einwendungen der Parteien gegen ein
Sachverständigengutachten ernstzunehmen und die von ihnen vorgelegte ein-
schlägige Fachliteratur in die gebotene kritische Würdigung des gerichtlichen
Sachverständigengutachtens einzubeziehen hat (Senatsurteile vom 2. Juni
1987 - VI ZR 174/86 – VersR 1987, 1238; vom 2. März 1993 – VI ZR 104/92 –
VersR 1993, 749 und vom 10. Mai 1994 – VI ZR 192/93 – VersR 1994, 984).
Indessen ist im Streitfall zweifelhaft, ob der von der Revision angenom-
mene Widerspruch tatsächlich besteht, weil der gerichtliche Sachverständige
Prof. Dr. B. jedenfalls bei seiner Anhörung vor dem Berufungsgericht seine
Auffassung zur Indikation deutlich modifiziert und mehrfach ausdrücklich von
einer nur relativen Indikation gesprochen hat. Nachdem er in seinem schriftli-
chen Gutachten zunächst ohne weitere Differenzierung eine Indikation zur
Operation bejaht hatte, hat die Klägerin mit der Berufung geltend gemacht, daß
eine Indikation erst nach längerer ergebnisloser konservativer Behandlung an-
genommen werden könne. Hierauf ist der Sachverständige mündlich angehört
worden und hat sich dabei ausweislich des Berichterstattervermerks eingehend
mit der Frage der Indikation befaßt. Dazu hat er ausgeführt, daß es auf die je-
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weilige Symptomatik ankomme. Bei einer ausgeprägten Symptomatik werde
man auch ohne konservative Therapie relativ rasch operieren. Es gebe auch
mittelfristige zeitliche Situationen, bei denen die Schmerzsymptomatik leitend
werden könne. Eine dritte Situation sei die, daß ein Beschwerdebild über einen
langen Zeitraum bestehe. Es handele sich dann um eine relative Indikation.
Eine solche sei vorliegend gegeben gewesen. Anschließend hat er nochmals
bekräftigt, daß der Inhalt des Arztbriefs der Klinik B. vom 19. November 1990
für ihn zur Annahme einer relativen Indikation ausreichend sei.
Dieser Beurteilung der Indikation durch den medizinischen Sachver-
ständigen als nur relativ hätte das Berufungsgericht Beachtung schenken müs-
sen. Seine Auffassung, daß die Operation im Streitfall absolut indiziert gewe-
sen sei, "wobei ein ausgeprägtes Schmerzsyndrom sogar leitend werden" kön-
ne, findet in den mündlichen Ausführungen des Sachverständigen keine Stütze
(§ 286 ZPO). Das Berufungsgericht hat nämlich nicht hinreichend zwischen
den vom Sachverständigen dargestellten Abstufungen der Indikation unter-
schieden und insbesondere verkannt, daß der Sachverständige bei der Kläge-
rin kein zu einer sofortigen Operation nötigendes, d.h. "leitendes" Schmerzsyn-
drom im Sinn der zweiten Abstufung angenommen hat, sondern ausdrücklich
nur die dritte Kategorie als eine nur relative Indikation bejaht hat. Zum Ver-
ständnis dieses Begriffs hätte das Berufungsgericht den Sachverständigen nä-
her befragen und im Hinblick auf das Berufungsvorbringen der Klägerin klar-
stellen müssen, ob er hiermit zum Ausdruck bringen wolle, daß als Alternative
zur Operation eine länger andauernde Fortsetzung der konservativen Be-
handlung in Betracht gekommen und erst bei deren Erfolglosigkeit eine Opera-
tion absolut indiziert gewesen wäre. Jedenfalls durfte das Berufungsgericht
angesichts der deutlichen Einschränkung des Sachverständigen bei seiner An-
hörung gegenüber der schriftlichen Begutachtung ohne weitere Sachaufklärung
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keine Indikation zur sofortigen Operation annehmen. Insoweit war auch zu be-
rücksichtigen, daß nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsge-
richts die einwöchige konservative Therapie immerhin zu einer Besserung des
Beschwerdebildes – wenn auch nur im Ruhezustand – geführt hatte; zum ande-
ren konnte sich die Frage stellen, ob eine Fortsetzung der konservativen, mit
der Verabreichung von Medikamenten verbundenen Therapie im Hinblick auf
den sonstigen Gesundheitszustand der Klägerin sinnvoll und überhaupt mög-
lich war.
2. Sollte sich zur Indikation die Auffassung der Klägerin bestätigen,
könnten die Grundsätze eingreifen, die der erkennende Senat in den Urteilen
vom 7. April 1992 – VI ZR 216/91 – VersR 1992, 747, vom 14. Januar 1997 –
VI ZR 30/96 – VersR 1997, 451 und vom 17. Februar 1998 - VI ZR 42/97 –
VersR 1998, 716 für die Aufklärung bei einer nur relativen Indikation zur Ope-
ration aufgestellt hat. Dem liegt das Gebot zugrunde, daß der Patient aufge-
klärt werden muß, wenn es mehrere medizinisch indizierte und übliche Be-
handlungsmethoden gibt, die unterschiedliche Risiken oder Erfolgschancen
haben. Dies muß auch dann gelten, wenn eine Operation durch eine konserva-
tive Behandlung vermieden werden kann oder erst nach deren erfolgloser Vor-
schaltung indiziert ist. Auch in einem solchen Fall besteht nämlich eine echte
Wahlmöglichkeit für den Patienten, so daß dieser nach der ständigen Recht-
sprechung des Senats zur Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts durch
die gebotene vollständige ärztliche Belehrung in die Lage versetzt werden
muß, eigenständig zu entscheiden, auf welchem Weg die Behandlung erfolgen
soll und in welchem Zeitpunkt er sich auf welches Risiko einlassen will (Se-
natsurteile vom 14. Februar 1989 – VI ZR 65/88 – VersR 1989, 514, 515 sowie
vom 14. Januar 1997 und 17. Februar 1998 (jeweils aaO). Dieser Grundsatz
gilt nicht nur bei in den Senatsurteilen vom 7. April 1992, 14. Januar 1997 und
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17. Februar 1998 (jeweils aaO) erörterten Fällen gynäkologischer Operationen
zur Krebsbekämpfung bzw. -vorsorge, bei denen die Indikation nur relativ ist,
weil sie vom jeweiligen Sicherheitsbedürfnis der Patientin abhängt, sondern
muß auch in solchen Fällen Anwendung finden, in denen wie im Streitfall mög-
licherweise eine konservative Behandlung als Alternative medizinisch zur Wahl
steht (Senatsurteil vom 24. November 1987 – VI ZR 65/87 – VersR 1988, 190,
191). Kam, wie das Berufungsgericht noch zu klären hat, anstelle der Operati-
on jedenfalls zunächst alternativ eine Fortsetzung der konservativen Behand-
lung in Frage (vgl. zu einem ähnlichen Sachverhalt OLG Hamm, VersR 1993,
102, 103 mit Nichtannahmebeschluß des erkennenden Senats vom
29. September 1992 - VI ZR 40/92 -), so mußte die Klägerin vor der Operation
hierüber aufgeklärt werden. Ob auch in dieser Richtung eine Aufklärung erfolgt
ist, hat das Berufungsgericht - von seinem der Sache nach eine absolute Indi-
kation bejahenden Standpunkt aus folgerichtig - nicht festgestellt. Sollte die
weitere Sachaufklärung zur Bejahung einer nur relativen Indikation in dem
oben dargelegten Sinne führen, wird das Berufungsgericht mithin auch unter
diesem Blickpunkt zu prüfen haben, ob die der Klägerin erteilte Aufklärung zur
Rechtfertigung des Eingriffs ausreicht.
Groß
Dr. Lepa
Dr. Müller
Dr. Dressler
Dr. Greiner