Urteil des BGH vom 16.08.2005

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
VI ZB 69/05
vom
4. März 2008
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO § 233 Fd
Wenn ein Rechtsanwalt seine Bürokraft nur mündlich anweist, eine Rechtsmittelfrist
einzutragen, genügt er seiner Sorgfaltspflicht nur dann, wenn in seiner Kanzlei aus-
reichende organisatorische Vorkehrungen dafür getroffen sind, dass eine korrekte
Fristeintragung erfolgt.
BGH, Beschluss vom 4. März 2008 - VI ZB 69/05 - OLG Frankfurt am Main
LG Hanau
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Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. März 2008 durch die Vize-
präsidentin Dr. Müller, den Richter Wellner, die Richterin Diederichsen und die
Richter Stöhr und Zoll
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 19. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 16. August 2005
wird auf Kosten des Beklagten zu 2 als unzulässig verworfen.
Beschwerdewert: 1.122.217,99 €
Gründe:
I.
Der Beklagte zu 2 (künftig: Beklagter) ist durch das Schlussurteil des
Landgerichts Hanau vom 17. März 2005 unter Abweisung der Klage im Übrigen
verurteilt worden, an den Kläger 1.122.217,99 € zuzüglich Zinsen zu zahlen.
Das Urteil wurde dem Beklagten zu Händen seines erstinstanzlichen Prozess-
bevollmächtigten am 19. April 2005 zugestellt. Gegen dieses Urteil hat der Be-
klagte, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt S., am 12. Mai 2005 Berufung
eingelegt und diese am 19. Juli 2005 mit Schriftsatz vom selben Tag begründet.
Gleichzeitig hat er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung
der Berufungsbegründungsfrist beantragt. Diesen Antrag hat das Berufungsge-
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richt zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen rich-
tet sich die vorliegende Rechtsbeschwerde des Beklagten.
II.
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Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m.
§ 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Sie ist jedoch nicht zulässig, da
es an den Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO fehlt.
Das Berufungsgericht hat im Ergebnis mit Recht dem Wiedereinset-
zungsantrag des Beklagten nicht stattgegeben und die Berufung des Beklagten
als unzulässig verworfen.
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1. Das erstinstanzliche Urteil wurde am 19. April 2005 zugestellt, mithin
lief die Berufungsfrist am 19. Mai 2005 und die Berufungsbegründungsfrist am
20. Juni 2005 ab (§ 520 Abs. 2 ZPO). Die Berufungsbegründung ging jedoch
erst am 19. Juli 2005 bei Gericht per Telefax ein, so dass sie verspätet und die
Berufung des Beklagten gemäß § 522 Abs. 1 ZPO als unzulässig zu verwerfen
war.
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2. Allerdings durfte das Berufungsgericht dem Beklagten eine Wiederein-
setzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungs-
frist nicht mit der Begründung versagen, der Wiedereinsetzungsantrag vom
19. Juli 2005 sei nicht innerhalb der zweiwöchigen Frist des § 234 Abs. 1 ZPO
bei Gericht eingegangen und deshalb unzulässig.
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a) Nach § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO muss zwar die Wiedereinsetzung
grundsätzlich innerhalb einer zweiwöchigen Frist beantragt werden. Das Beru-
fungsgericht hat jedoch übersehen, dass die Frist nach dem - durch das erste
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Justizmodernisierungsgesetz eingefügten - Satz 2 dieses Absatzes, der mit Wir-
kung ab 1. September 2004 in Kraft getreten ist und auch für bereits anhängige
Verfahren gilt (Zöller/Greger, ZPO, 26. Aufl., § 234 Rn. 1), einen Monat beträgt,
wenn die Partei verhindert war, die Frist zur Begründung der Berufung einzuhal-
ten (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Januar 2008 - XI ZB 11/07).
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b) Diese Frist wurde im vorliegenden Fall gewahrt, selbst wenn man mit
dem Berufungsgericht davon ausgeht, dass der Prozessbevollmächtigte des
Beklagten am 27. Juni 2005 bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt aufgrund
der ihm gewährten Akteneinsicht hätte erkennen können und müssen, dass die
Berufungsbegründungsfrist bereits am 20. Juni 2005 abgelaufen war. Unter
Zugrundelegung der Monatsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO war der am
19. Juli 2005 eingegangene Wiedereinsetzungsantrag rechtzeitig.
3. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde hat das Berufungs-
gericht dem Beklagten jedoch die beantragte Wiedereinsetzung zu Recht mit
der (Hilfs-)Begründung versagt, die Versäumung der Frist zur Berufungsbe-
gründung beruhe darüber hinaus auf einem - dem Beklagten nach § 85 Abs. 2
ZPO zurechenbaren - Verschulden seines zweitinstanzlichen Prozessbevoll-
mächtigten, weil dieser unter den Umständen des vorliegenden Falles seine
Pflichten zur Kontrolle der Notierung der Rechtsmittelbegründungsfrist verletzt
habe.
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a) Der Beklagte hat zur Begründung seines Wiedereinsetzungsantrages
vorgetragen, Rechtsanwalt S. habe nach fernmündlicher Mandatsübernahme
für das Berufungsverfahren und Mitteilung, die Zustellung des erstinstanzlichen
Urteils sei am 19. April 2005 erfolgt, seine Büroangestellte M., die ihm das per
Telefax übermittelte Urteil mit dem Bemerken vorgelegt habe, dass sich das
Zustelldatum nicht aus dem Urteil ergebe, mündlich angewiesen, den Beru-
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fungsschriftsatz zu fertigen und den Ablauf der Berufungsbegründungsfrist auf
den 19. Juni 2005 zu notieren. Letzteres habe Frau M. jedoch versäumt. In der
Kanzlei des Rechtsanwalts S. sei die Überwachung von Notfristen so organi-
siert, dass der zuständige Rechtsanwalt bei Annahme eines Mandats auf der
Urteilsausfertigung die Rechtsmittelfrist vermerke oder vermerken lasse und
den Vorgang an die zuständige Büroangestellte - hier Frau M. - weiterleite, wel-
che die Frist in einen elektronisch geführten Fristenkalender sowie in ein be-
sonderes Fristenbuch eintrage. Die Büroangestellte notiere die Frist und trage
zusätzlich eine Vorfrist von einer Woche vor Fristablauf ein, jeweils mit einem
auffälligen Hinweis "Berufung" oder "Berufungsbegründungsfrist". Außerdem
werde die Eintragung im Fristenkalender in den Handakten vermerkt. Die Mitar-
beiterin M. sei geschult und zuverlässig, sie habe den Fristenkalender seit über
drei Jahren sorgfältig und fehlerlos geführt.
b) Dieses Vorbringen genügt nicht, um ein fehlendes Verschulden des
zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten des Beklagten an der Versäumung
der Berufungsbegründungsfrist darzutun.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Beschluss
vom 10. Oktober 1991 - VII ZB 4/91 - VersR 1992, 764, 765) braucht ein
Rechtsanwalt zwar grundsätzlich nicht die Erledigung jeder konkreten Einzel-
anweisung zu überwachen. Im Allgemeinen kann er ferner darauf vertrauen,
dass eine sonst zuverlässige Büroangestellte auch mündliche Weisungen rich-
tig befolgt (vgl. Senatsurteil vom 6. Oktober 1987 - VI ZR 43/87 - VersR 1988,
185, 186). In der Anwaltskanzlei müssen jedoch ausreichende organisatorische
Vorkehrungen dagegen getroffen sein, dass die mündliche Einzelanweisung
über die Eintragung einer nur mündlich mitgeteilten Rechtsmittelfrist in Verges-
senheit gerät und die Fristeintragung unterbleibt (vgl. Senatsbeschlüsse vom
17. September 2002 - VI ZR 419/01 - NJW 2002, 3782, 3783; vom 5. November
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2002 - VI ZR 399/01 - NJW 2003, 435, 436; vom 22. Juni 2004 - VI ZB 10/04 -
NJW-RR 2004, 1361, 1362; BGH, Beschlüsse vom 15. November 2007 - IX ZB
219/06 - EBE/BGH 2008, 13; vom 21. Dezember 2006 - IX ZB 309/04 - AnwBl
2007, 236 und vom 13. September 2006 - XII ZB 103/06 - FamRZ 2006, 1663,
1664).
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Wenn ein so wichtiger Vorgang wie die Notierung der Berufungsfrist oder
der Berufungsbegründungsfrist nur mündlich vermittelt wird, dann bedeutet das
Fehlen jeder Sicherung einen entscheidenden Organisationsmangel (vgl. BGH,
Beschluss vom 10. Oktober 1991 - VII ZB 4/91 - aaO).
Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerde durfte der Prozessbe-
vollmächtigte des Beklagten nicht allein wegen der Tatsache, dass die Büroan-
gestellte M. einen Teil der ihr mündlich erteilten Weisung, den Berufungsschrift-
satz zu fertigen und ihm zur Unterschrift vorzulegen, ausgeführt hatte, auf die
erforderlichen Kontrollmaßnahmen hinsichtlich der Notierung der Berufungsbe-
gründungsfrist, beispielsweise in Form einer Wiedervorlageanweisung (vgl. Se-
natsbeschluss vom 4. November 2003 - VI ZB 50/03 - NJW 2004, 688, 689),
verzichten.
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4. Da mithin der angefochtene Beschluss insoweit in Einklang steht mit
der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, ist eine Zulassung der
Rechtsbeschwerde nicht erforderlich.
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Müller Wellner Diederichsen
Stöhr Zoll
Vorinstanzen:
LG Hanau, Entscheidung vom 17.03.2005 - 4 O 496/03 -
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 16.08.2005 - 19 U 95/05 -