Urteil des BGH vom 17.01.2001

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
IV ZR 32/00
Verkündet am:
17. Januar 2001
Heinekamp
Justizsekretär
als Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
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AVB f. Unfallvers. § 7 I Abs. 2a AUB 88
Geht ein in der Gliedertaxe benannter Teilbereich eines Gliedes durch einen
Unfall verloren oder ist das Teilglied wegen eines unfallbedingten Dauer-
schadens vollständig funktionsunfähig, steht der Invaliditätsgrad nach der
Gliedertaxe unverrückbar fest. Die Ausstrahlungen des Teilgliedverlustes
oder der Teilgliedfunktionsunfähigkeit auf das Restglied sind bei dem für das
Teilglied bestimmten Invaliditätsgrad bereits mitberücksichtigt.
BGH, Urteil vom 17. Januar 2001 - IV ZR 32/00 - Hanseatisches OLG Hamburg
LG Hamburg
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Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch den Vorsit-
zenden Richter Dr. Schmitz und die Richter Prof. Römer, Dr. Schlichting,
Terno und Seiffert auf die mündliche Verhandlung vom 17. Januar 2001
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Han-
seatischen Oberlandesgerichts Hamburg, 9. Zivilsenat,
vom 21. Dezember 1999 aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Land-
gerichts Hamburg, Zivilkammer 22, vom 9. Juni 1999
wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Berufungs- und Revi-
sionsverfahrens.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die Parteien streiten um die Bemessung einer Invaliditätsentschä-
digung. Der Kläger unterhält bei der Beklagten eine Unfallversicherung,
der die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB 88), Beson-
dere Bedingungen für die Unfallversicherung mit progressiver Invalidi-
tätsstaffel (225%) und Besondere Bedingungen zur Unfallversicherung
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für W erbegrafiker pp. (verbesserte Gliedertaxe) zugrunde liegen; die
Versicherungssumme bei Invalidität beträgt 300.000 DM.
Am 31. Dezember 1993 erlitt der Kläger einen Verrenkungsbruch
des rechten Fußgelenks. Als Unfallfolge verblieben eine Versteifung des
oberen und unteren Fußgelenks und eine Muskelminderung des rechten
Ober- und Unterschenkels. Die Beklagte leistete als Invaliditätsentschä-
digung 129.000 DM. Der Kläger hat Zahlung weiterer 188.250 DM ver-
langt. Die Versteifung am rechten Fußgelenk sei gemäß § 7 I Abs. 2a
AUB 88 (Gliedertaxe) mit einem Invaliditätsgrad von 40% zu bemessen;
dieser erhöhe sich nach Maßgabe der vereinbarten verbesserten Glie-
dertaxe auf 50%, so daß schließlich unter Anwendung der progressiven
Invaliditätsstaffel ein Invaliditätsgrad von 75% für die Entschädigungsbe-
rechnung maßgeblich sei, die sich danach auf 225.000 DM belaufe. Die
weitere Beeinträchtigung des Beines sei mit 3/7 Beinwert zu bemessen;
daraus errechne sich unter Berücksichtigung der Invaliditätsstaffel eine
weitere Entschädigung von 92.250 DM. Die Beklagte hat demgegenüber
die Auffassung vertreten, daß bei der Entschädigungsberechnung ledig-
lich von einem Invaliditätsgrad von 3/7 Beinwert (30%) auszugehen sei,
der sich über die Invaliditätsstaffel auf 35% erhöhe.
Das Landgericht hat der Klage in Höhe eines Betrages von
96.000 DM nebst Zinsen stattgegeben, im übrigen hat es sie abgewie-
sen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die Klage
insgesamt abgewiesen. Mit der Revision erstrebt der Kläger die W ieder-
herstellung des landgerichtlichen Urteils.
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Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel des Klägers hat Erfolg. Der Kläger hat wegen
des erlittenen Dauerschadens am rechten Fußgelenk Anspruch auf eine
Invaliditätsentschädigung von 225.000 DM, so daß die Beklagte - über
die geleisteten 129.000 DM hinaus - an ihn weitere 96.000 DM zu zahlen
hat.
1. Das Berufungsgericht geht davon aus, daß die unfallbedingte
Schädigung des Kläger in seinem Bein zu lokalisieren sei. Das folge aus
dem in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachten, wonach
der Kläger eine Sprunggelenkrollenfraktur erlitten habe, in deren Folge
eine nahezu vollständige Versteifung des rechten oberen und unteren
Sprunggelenks verblieben sei. Diese Schädigung sei als teilweise Ge-
brauchsunfähigkeit des rechten Beines zu bewerten. Dem stehe nicht
entgegen, daß nach Feststellung des Sachverständigen die Funktionsfä-
higkeit des Fußes des Klägers im Fußgelenk zu 100% aufgehoben sei.
Denn diese Einschätzung des Sachverständigen beruhe auf einer funk-
tionellen Betrachtungsweise, die diesen andererseits gerade dazu ver-
anlaßt habe, den Schaden dem Bein und nicht dem Fuß zuzuordnen.
Es sei zwar einzuräumen, daß die Feststellung des Sachverstän-
digen es nahelege, die Schädigung nach der Gliedertaxe (§ 7 I Abs. 2a
AUB 88) unter "Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fuß-
gelenk" zu subsumieren. Die Schädigung des Klägers sei jedoch nicht
auf die Funktionsfähigkeit des Fußes beschränkt, sie stelle vielmehr eine
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Funktionsbeeinträchtigung des gesamten Beines dar. Diese sei mit ei-
nem Invaliditätsgrad von 3/7 Beinwert zu bemessen, so daß sich unter
Einbeziehung der Invaliditätsstaffel eine Entschädigungsleistung von
105.000 DM errechne.
Dem folgt der Senat nicht.
2. a) Die mit § 7 I Abs. 2a AUB 88 vereinbarte Gliedertaxe be-
stimmt - nach einem abstrakten und generellen Maßstab (Grimm, Unfall-
versicherung 3. Aufl. § 7 Rdn. 18) - feste Invaliditätsgrade bei Verlust
oder - dem Verlust gleichgestellt - Funktionsunfähigkeit der mit ihr be-
nannten Glieder. Gleiches gilt bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit ei-
nes durch die Gliedertaxe abgegrenzten Teilbereichs eines Gliedes.
Demgemäß beschreibt § 7 I Abs. 2a AUB 88 unter anderem abgegrenzte
Teilbereiche des Beines und ordnet jedem Teilbereich einen festen Inva-
liditätsgrad zu, der mit Rumpfnähe des Teilgliedes steigt. So bestimmt
die Gliedertaxe bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit des abgegrenzten
Teilbereichs des Beines "Fuß im Fußgelenk" einen Invaliditätsgrad von
40%. Geht der Fuß im Fußgelenk durch einen Unfall verloren oder ist
der Fuß im Fußgelenk wegen eines unfallbedingten Dauerschadens voll-
ständig funktionsunfähig, steht der Invaliditätsgrad nach der Gliedertaxe
unverrückbar fest. Jedenfalls kommt ein geringerer Invaliditätsgrad nicht
mehr in Betracht, insbesondere nicht unter Rückgriff auf eine bloße Be-
wertung der Auswirkungen der Funktionsunfähigkeit des Fußes im Fuß-
gelenk auf das Restglied. Denn damit würde die von der Gliedertaxe
vorgegebene Aufteilung des Gliedes in Teilbereiche mit daran geknüpf-
ten festen Invaliditätsgraden bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit un-
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terlaufen. Die Ausstrahlungen eines Teilgliedverlustes oder einer Teil-
gliedfunktionsunfähigkeit auf das Restglied sind vielmehr bei dem für
das Teilglied bestimmten Invaliditätsgrad bereits mitberücksichtigt (vgl.
Senatsurteile vom 30. Mai 1990 - IV ZR 143/89 - VersR 1990, 964 unter
2 a; vom 17. Oktober 1990 - IV ZR 178/89 - VersR 1991, 57 unter 3 b).
Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht ausreichend beachtet.
b) Nach dem Gutachten des Sachverständigen, dessen Beurtei-
lung des Gesundheitszustandes des Klägers das Berufungsgericht folgt,
ist beim Kläger auf Dauer Funktionsunfähigkeit (100%) im rechten Fuß-
gelenk eingetreten. Es sei zu einer Versteifung des oberen und unteren
Sprunggelenks gekommen; funktionell sei davon auszugehen, daß die
für den Abrollvorgang des Fußes notwendigen Funktionen im oberen und
unteren Fußgelenk vollständig aufgehoben seien. Daß es dagegen un-
abhängig von dieser unfallbedingten Schädigung des Fußes im Fußge-
lenk zu einer weiteren Schädigung des Restgliedes gekommen ist, stellt
weder der Sachverständige noch das Berufungsgericht fest. Die vom
Sachverständigen festgestellte Schonungsverschmächtigung der Mus-
kulatur des rechten Ober- und Unterschenkels hat vielmehr auch das Be-
rufungsgericht als Ausstrahlung der Versteifung des Sprunggelenks an-
gesehen; die Beeinträchtigung des Restgliedes in seiner Gebrauchsfä-
higkeit stellt sich danach als Ausstrahlung der Funktionsunfähigkeit im
rechten Fußgelenk dar.
c) Auf der Grundlage dieser Feststellungen war davon auszuge-
hen, daß beim Kläger unfallbedingt vollständige Funktionsunfähigkeit
des rechten "Fußes im Fußgelenk" (§ 7 I Abs. 2 a AUB 88) eingetreten
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ist. Daß der Sachverständige - wie das Berufungsgericht anführt - inso-
weit eine funktionelle Betrachtung angestellt hat, steht dieser Einord-
nung nicht entgegen noch kann sie eine Bemessung der Invalidität nach
dem Beinwert begründen. Vielmehr war gerade diese Betrachtung ge-
boten, weil es im vorliegenden Falle nicht um den Verlust, sondern um
die Beurteilung des Ausmaßes der Funktionsfähigkeit des Fußes im
Fußgelenk ging. Das gilt gleichermaßen, soweit das Berufungsgericht
darauf abstellen will, daß nach den Ausführungen des Sachverständigen
Restfunktionen des Fußes noch erhalten geblieben seien, so daß schon
deshalb nicht von vollständiger Funktionsunfähigkeit des Fußes ausge-
gangen werden könne. Denn nach der Gliedertaxe ist insoweit allein
entscheidend, daß nach sachverständiger Beurteilung die Funktionen
des Fußes im Fußgelenk vollständig aufgehoben sind; eine klinisch noch
feststellbare Mikrobeweglichkeit hat der Sachverständige im übrigen als
funktionell unwirksam bzw. eher kontraproduktiv eingeordnet. Daß der
Fuß unterhalb des Fußgelenks noch vorhanden ist, bleibt - wie die Revi-
sion mit Recht anmerkt - nach der Gliedertaxe unbeachtlich, da diese die
Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fußgelenk dem Verlust gleichstellt.
Hat sich danach der unfallbedingte Dauerschaden in einer Funkti-
onsunfähigkeit des Fußes im Fußgelenk konkretisiert, wird der Invalidi-
tätsgrad durch den in der Gliedertaxe für diesen Teilbereich des Gliedes
bezeichneten Prozentsatz festgelegt. Mangels Feststellung einer davon
unabhängigen Gebrauchsbeeinträchtigung des Restgliedes kommt die
vom Sachverständigen erwogene und vom Berufungsgericht für zutref-
fend erachtete Anknüpfung an den Beinwert ("Verlust oder Funktions-
unfähigkeit eines Beines über der Mitte des Oberschenkels") nicht in
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Betracht. Erst recht gibt die Gliedertaxe keine Grundlage dafür, wegen
der Ausstrahlungen des Teilgliedverlustes oder der Teilgliedfunktions-
unfähigkeit auf die Bewertung der Invalidität für das Restglied Bein ab-
zustellen und dort wegen einer (dann nur noch) Teilfunktionsunfähigkeit
zu einem Invaliditätsgrad zu gelangen, der den für den Verlust oder die
Funktionsunfähigkeit des Teilgliedes vorgesehenen noch unterschreitet.
Vielmehr sind die vom Berufungsgericht als solche erkannten Ausstrah-
lungen der Funktionsunfähigkeit des Fußes im Fußgelenk auf das
rumpfnähere Restglied bei dem dafür in der Gliedertaxe vorgesehenen
Invaliditätsgrad von 40% bereits mitberücksichtigt.
d) Auf dieser Grundlage errechnet sich unter Berücksichtigung der
vereinbarten verbesserten Gliedertaxe und der progressiven Invaliditäts-
staffel ein für die Entschädigungsleistung maßgeblicher Prozentsatz von
75% und damit eine Invaliditätsentschädigung von 225.000 DM. Das hat
das Landgericht zutreffend erkannt, so daß dessen Urteil wiederherzu-
stellen war.
Dr. Schmitz Prof. Römer Dr. Schlichting
Terno Seiffert