Urteil des BGH vom 10.10.2013

BGH: verordnung, wiederaufnahme, bundesamt, sicherungshaft, aufnehmen, asylbewerber, mangel, eurodac, zukunft, emrk

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 5/13
vom
10. Oktober 2013
in der Abschiebungshaftsache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 10. Oktober 2013 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, den Richter Dr. Roth, die Richterinnen
Dr. Brückner und Weinland und den Richter Dr. Kazele
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss des Amtsgerichts Pasewalk vom 5. Dezember 2012
und der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Neubran-
denburg vom 28. Dezember 2012 ihn in seinen Rechten verletzt
haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
des Betroffenen in allen Instanzen werden der Bundesrepublik
Deutschland auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.000 €.
Gründe:
I.
Der
Betroffene,
ein
russischer
Staatsangehöriger,
wurde
am
4. Dezember 2012 festgenommen. Er hatte zuvor einen Asylantrag in Polen
gestellt und verfügte weder über einen Aufenthaltstitel für Deutschland noch
über einen Reisepass. Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht
mit Beschluss vom 5. Dezember 2012 Haft zur Sicherung der Zurückschiebung
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bis zum 16. Januar 2013 angeordnet. Die dagegen gerichtete Beschwerde hat
das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde will der Betroffene
nach seiner am 14. Januar 2013 erfolgten Zurückschiebung nach Polen die
Feststellung erreichen, dass die Haftanordnung und ihre Aufrechterhaltung ihn
in seinen Rechten verletzt haben.
II.
Nach Auffassung des Beschwerdegerichts liegen die Voraussetzungen
für die Anordnung der Sicherungshaft vor. Im Zeitpunkt der Haftanordnung sei
zu erwarten gewesen, dass die beabsichtigte Zurückschiebung nach Polen in-
nerhalb von sechs Wochen erfolgen könne.
III.
Die Rechtsbeschwerde ist nach Erledigung der Hauptsache analog § 62
FamFG ohne Zulassung statthaft (vgl. nur Senat, Beschluss vom 29. April 2010
- V ZB 218/09, InfAuslR 2010, 359 Rn. 9 mwN). Sie ist auch im Übrigen zuläs-
sig und hat in der Sache Erfolg.
1. Die Haft hätte schon deshalb nicht angeordnet werden dürfen, weil es
an einem zulässigen Haftantrag fehlte.
a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des
Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist
der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anforde-
rungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der
zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der
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Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der
notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Zwar dürfen
die Ausführungen zur Begründung des Haftantrags knapp gehalten sein, sie
müssen aber die für die richterliche Prüfung des Falls wesentlichen Punkte an-
sprechen. Fehlt es daran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet
werden (st. Rspr., Senat, Beschlüsse vom 10. Mai 2012 - V ZB 246/11,
InfAuslR 2012, 328 Rn. 10; vom 6. Dezember 2012 - V ZB 118/12, juris Rn. 4;
vom 31. Januar 2013 - V ZB 20/12, FGPrax 2013, 130 Rn. 15, jeweils mwN).
b) Bei einer Zurückschiebung nach der Dublin-II-Verordnung (Verord-
nung [EG] Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003, ABl. L 50 S. 1) gehö-
ren zu den erforderlichen Angaben zur Durchführbarkeit der Zurückschiebung
auch Ausführungen dazu, dass und weshalb der Zielstaat - hier Polen - nach
der Verordnung zur Rücknahme verpflichtet ist. Das wiederum richtet sich im
Wesentlichen danach, in welchem der in der Dublin-II-Verordnung vorgesehe-
nen Verfahren die Zurückschiebung erfolgen soll, insbesondere ob eine Auf-
nahme nach Art. 10, 16 Abs. 1 Buchstabe a der Dublin-II-Verordnung oder eine
Wiederaufnahme nach Art. 4 Abs. 5 oder Art. 16 Abs. 1 Buchstabe c bis e je-
weils in Verbindung mit Art. 20 Dublin-II-Verordnung betrieben werden soll. Die
Entscheidung darüber, ob eine Aufnahme oder eine Wiederaufnahme beantragt
wird, obliegt dem zuständigen Bundesamt, dessen Vorgehen abgefragt und in
dem Haftantrag mitgeteilt werden muss. Ferner muss der Antrag Angaben dazu
enthalten, innerhalb welchen Zeitraums Überstellungen in den betreffenden
Mitgliedsstaat üblicherweise möglich sind. Pauschale Angaben zu den Fristen
für die Beantwortung des Ersuchens und für die Überstellung in einen anderen
Mitgliedstaat reichen nicht aus (eingehend zum Ganzen Senat, Beschlüsse vom
6. Dezember 2012 - V ZB 118/12, juris Rn. 5 ff., und vom 31. Januar 2013
- V ZB 20/12, FGPrax 2013, 130 Rn. 19 ff., jeweils mwN).
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c) Daran gemessen ist der Haftantrag unzureichend. Die beteiligte Be-
hörde hat ausgeführt, der Betroffene sei gemäß EURODAC-Recherche in Polen
als Asylbewerber erfasst. Das zuständige Bundesamt für Migration und Flücht-
linge werde daher das Konsultationsverfahren mit dem zuständigen Mitglieds-
staat Polen aufnehmen. Weiterhin müssten Passersatzpapiere beschafft wer-
den. Die Dauer der Haft sei erforderlich, um das Dublin II-Verfahren zu gewähr-
leisten.
Diesen Angaben lässt sich schon nicht zweifelsfrei entnehmen, in wel-
chem der in der Dublin-II-Verordnung vorgesehenen Verfahren die Zurück-
schiebung erfolgen soll. Ferner fehlt es an Ausführungen dazu, innerhalb wel-
chen Zeitraums Überstellungen nach Polen in dem gewählten Verfahren übli-
cherweise möglich sind. Darüber hinaus enthält der Antrag keine Angaben zu
der für die Beschaffung der Passersatzpapiere voraussichtlich erforderlichen
Zeit.
2. Die Aufrechterhaltung der Haftanordnung durch das Beschwerdege-
richt hat den Betroffenen ebenfalls in seinen Rechten verletzt, weil der Mangel
des Haftantrags nicht - was mit Wirkung für die Zukunft möglich wäre (vgl. Se-
nat, Beschluss vom 15. September 2011 - V ZB 136/11, FGPrax 2011, 318
Rn. 8) - im weiteren Verlauf des Verfahrens geheilt worden ist.
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IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83
Abs. 2, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog. Die Festsetzung des Be-
schwerdewerts folgt aus § 128c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 Abs. 2 KostO.
Stresemann
Roth
Brückner
Weinland
Kazele
Vorinstanzen:
AG Pasewalk, Entscheidung vom 05.12.2012 - 4 XIV 11/12 -
LG Neubrandenburg, Entscheidung vom 28.12.2012 - 4 T 208/12 -
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