Urteil des BGH vom 06.04.2010

BGH (erledigung des verfahrens, untersuchungshaft, schwere, jugendstrafverfahren, schuld, strafzumessung, vergewaltigung, stpo, ergebnis, vollstreckung)

5 StR 330/10
BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
vom 28. September 2010
in der Strafsache
gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
- 2 -
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 28. September 2010
beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landge-
richts Dresden vom 6. April 2010 wird nach § 349 Abs. 2
StPO als unbegründet verworfen.
Es wird davon abgesehen, dem Angeklagten die durch sein
Rechtsmittel entstandenen Kosten und Auslagen aufzuerle-
gen. Er hat jedoch die hierdurch dem Nebenkläger entstan-
denen notwendigen Auslagen zu tragen.
G r ü n d e
1
Das Landgericht hat den Angeklagten – einen Heranwachsenden –
wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung
schuldig gesprochen, aufgrund von Reifeverzögerung Jugendstrafrecht an-
gewendet und ihn wegen schädlicher Neigungen und der Schwere der
Schuld unter Einbeziehung zweier weiterer Verurteilungen (Jugendstrafe von
sechs Monaten und Einheitsjugendstrafe von drei Jahren) zu einer einheitli-
chen Jugendstrafe von sechs Jahren verurteilt. Hiergegen wendet sich der
Angeklagte mit seiner auf Verfahrensrügen und sachlich-rechtliche Bean-
standungen gestützten Revision.
Nach den Feststellungen des Landgerichts zwang der Angeklagte
während der Verbüßung der dreijährigen Jugendstrafe den damals 18 Jahre
alten, „offensichtlich verschüchterten“ Geschädigten, der wegen Erschlei-
chens von Leistungen erstmals eine Jugendstrafe verbüßte, unter Einsatz
von Schlägen zur Durchführung des oralen und Duldung des analen Ge-
schlechtsverkehrs.
2
- 3 -
1. Die Revision zum Schuldspruch bleibt aus den vom Generalbun-
desanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend dargelegten Gründen ohne Er-
folg.
3
2. Auch die Bemessung der Jugendstrafe hält im Ergebnis rechtlicher
Nachprüfung stand.
4
a) Die Urteilsgründe lassen hinreichend erkennen, dass dem Erzie-
hungsgedanken im Rahmen der Strafzumessung die ihm zukommende Be-
deutung eingeräumt worden ist und die wesentlichen erzieherischen Ge-
sichtspunkte beachtet worden sind (§ 54 Abs. 1 Satz 1 JGG).
5
6
Entgegen der Ansicht der Revision bedurfte es in diesem Zusammen-
hang nicht der ausdrücklichen Erörterung, welche erzieherischen Wirkungen
die ab September 2009 vollzogene Untersuchungshaft auf den Angeklagten
gehabt hat. Zwar kann eine erlittene Untersuchungshaft im Rahmen der
Strafzumessung – freilich insbesondere bei bisher haftunerfahrenen Ange-
klagten – ein bestimmender Gesichtspunkt sein (vgl. BGHR JGG § 18 Abs. 2
Erziehung 8 und Strafzwecke 6; BGH NStZ 1984, 508; StV 1986, 68, 69;
NStZ 1998, 86, 87). Deren erzieherische Bedeutung und damit korrespondie-
rend eine mögliche Erörterungspflicht in den schriftlichen Urteilsgründen
bestimmen sich allerdings nach den Umständen des Einzelfalls; dabei sind
namentlich die Dauer der Untersuchungshaft, das Alter des Angeklagten,
dessen persönliche Entwicklung und soziale Perspektiven von Bedeutung.
Hier stellte die mehr als sechs Monate vollzogene Untersuchungshaft
insbesondere mit Blick auf die vorausgehenden bereits zweimaligen Verbü-
ßungen von Jugendstrafen durch den im Zeitpunkt der Urteilsverkündung
mehr als zwanzig Jahre alten Angeklagten, seinen auch im früheren Vollzug
fortwährenden Rauschmittelkonsum und sein übriges Vollzugsverhalten so-
wie seine sonstige persönliche Entwicklung und seine fehlende familiäre Ein-
bindung keinen bestimmenden Strafzumessungsgrund dar (vgl. BGHR JGG
7
- 4 -
§ 18 Abs. 2 Strafzwecke 6). Ersichtlich dauerten die tiefgreifenden Persön-
lichkeitsdefizite des aus zerrütteten familiären Verhältnissen stammenden
(UA S. 3), ausbildungs- und beschäftigungslosen (UA S. 4) und teils erheb-
lich wegen Gewaltdelikten vorbestraften Angeklagten trotz vorangegangenen
Jugendstrafvollzugs und (wiederholt abgebrochener) Therapien auch bis
unmittelbar vor Beginn der Untersuchungshaft an (UA S. 4, 11); dass die
vollzogene – ohnehin faktisch begrenzte pädagogische Möglichkeiten eröff-
nende und in erster Linie verfahrenssichernden Zwecken dienende (vgl.
BGHSt 37, 75, 77) – Untersuchungshaft nachhaltig auf den Angeklagten ein-
gewirkt haben und deshalb eine niedrigere Jugendstrafe rechtfertigen könnte
(vgl. § 18 Abs. 2 JGG; BGHSt 37, 75, 77 f.), liegt nach alledem hier fern.
8
Aus den dargestellten Gründen musste sich das Landgericht auch
nicht etwa zur strengbeweislichen Einführung der die Vollstreckung der Un-
tersuchungshaft dokumentierenden Urkunden gedrängt sehen; die insoweit
erhobene Aufklärungsrüge ist daher jedenfalls unbegründet.
9
b) Zutreffend macht die Revision allerdings geltend, dass die Erledi-
gung des Verfahrens teils in einer Weise verzögert worden ist, die mit den
grundrechtlichen Gewährleistungen des Rechtsstaatsgebots (Art. 20 Abs. 3
GG) und den konventionsrechtlichen Garantien aus Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK
unvereinbar ist; zu einer dem Angeklagten günstigeren Rechtsfolgenbemes-
sung führt dies gleichwohl nicht.
Der Senat stellt auf Grund des zutreffenden Sachvortrages der zuläs-
sig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) erhobenen Verfahrensrüge fest, dass die Er-
ledigung des Verfahrens gegen den Angeklagten gegen das Zügigkeitsgebot
verstoßen hat. Der mehrere Monate umfassenden Sachbehandlung nach
irrtümlich beim örtlich unzuständigen Gericht erhobenen Anklage durch die
Staatsanwaltschaft und der damit ersichtlich nicht korrespondierenden Ver-
fahrensförderung durch die Strafkammer entnimmt der Senat im Ergebnis
eine rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung von sechs Monaten. Eine
10
- 5 -
über diese Feststellung hinausgehende Kompensation (vgl. hierzu EGMR
EuGRZ 1983, 371; BVerfG [Kammer] NJW 2003, 2225, 2226; Tepperwien
NStZ 2009, 1, 3 m.w.N.) der Konventionsverletzung etwa entsprechend den
vom Großen Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs in dessen Be-
schluss vom 17. Januar 2008 (BGHSt 52, 124, 129 ff.) entwickelten
Grundsätzen ist hier mit Blick auf den besonders gravierenden Vorwurf, die
schwierige Beweissituation und das noch überschaubare Ausmaß der Ver-
zögerung auch unter Berücksichtigung der besonderen Bedeutung zügigen
Prozessierens im Jugendstrafverfahren nicht erforderlich.
Der Senat kann nach der Feststellung der rechtsstaatswidrigen Ver-
fahrensverzögerung dahinstehen lassen, ob eine weitergehende Kompensa-
tion im Wege des sogenannten Vollstreckungsmodells im Jugendstrafverfah-
ren auch dann möglich wäre, wenn die Jugendstrafe neben der Schwere der
Schuld auch auf das Vorliegen schädlicher Neigungen gestützt worden ist.
Eine Übertragung des sogenannten Vollstreckungsmodells auf das Jugend-
strafverfahren hat er anerkannt, sofern Jugendstrafe allein wegen der
Schwere der Schuld verhängt worden ist (vgl. BGH NStZ 2010, 94, 95). An-
ders als der 3. Strafsenat (vgl. BGHR MRK Art. 6 Abs. 1 Satz 1 Verfahrens-
verzögerung 30, 15; dazu aber Eisenberg, JGG 14. Aufl. § 18 Rdn. 15 f.
m.w.N.) – vor der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen
(BGHSt 52, 124) – neigt der Senat dazu, die Frage zu bejahen.
11
Basdorf Schaal Schneider
König Bellay