Urteil des BGH vom 16.01.2014

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 571/12
vom
16. Januar 2014
in der Familiensache
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
nein
BGHR:
ja
FamFG §§ 64 Abs. 1, 113 Abs. 1 Satz 2; ZPO §§ 233 D, 236 Abs. 2 Satz 2 D
Stellt ein Verfahrensbeteiligter in einer Familienstreitsache vor Einlegung der
Beschwerde einen isolierten Verfahrenskostenhilfeantrag, beginnt die Frist zur
Nachholung der versäumten Verfahrenshandlung (hier: Einlegung der Be-
schwerde) erst mit der Bekanntgabe der Entscheidung des Beschwerdegerichts
über die beantragte Beiordnung eines Rechtsanwalts.
BGH, Beschluss vom 16. Januar 2014 - XII ZB 571/12 - OLG Celle
AG Stadthagen
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. Januar 2014 durch den
Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-
Boeger und Guhling
beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss
des 12. Zivilsenats - Senat für Familiensachen - des Oberlandes-
gerichts Celle vom 30. August 2012 aufgehoben, soweit der An-
trag der Antragstellerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gegen die Versäumung der Beschwerdefrist zurückgewiesen wor-
den ist.
Der Antragstellerin wird gegen die Versäumung der Frist zur Ein-
legung der Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts
Stadthagen vom 26. April 2012 Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand gewährt.
Im Übrigen wird die Sache zur erneuten Behandlung und Ent-
scheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfah-
rens, an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.
Wert: 287
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Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt Wiedereinsetzung in die Beschwerdefrist.
Das Amtsgericht hat mit dem am 9. Mai 2012 zugestellten Beschluss den
Antrag der Antragstellerin auf nachehelichen Unterhalt teilweise abgewiesen.
Mit gleichlautenden Schriftsätzen, die am 8. Juni 2012 beim Amtsgericht
und am 7. Juni 2012 beim Oberlandesgericht eingegangen sind, hat die Antrag-
stellerin Verfahrenskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung
ihres erstinstanzlichen Verfahrensbevollmächtigten beantragt. Mit Beschluss
vom 6. August 2012 hat das Oberlandesgericht der Antragstellerin Verfahrens-
kostenhilfe bewilligt, ohne über die beantragte Beiordnung eines Verfahrensbe-
vollmächtigten zu entscheiden. Der Beschluss wurde dem Verfahrensbevoll-
mächtigten der Antragstellerin am 13. August 2012 zugestellt. Mit weiterem Be-
schluss vom 13. August 2012 hat das Oberlandesgericht der Antragstellerin ih-
ren erstinstanzlichen Verfahrensbevollmächtigten für das Beschwerdeverfahren
beigeordnet. Dieser Beschluss wurde dem Verfahrensbevollmächtigten der An-
tragstellerin nur formlos übermittelt und ist in dessen Kanzlei am 20. August
2012 eingegangen. Am 27. August 2012 hat die Antragstellerin beim Oberlan-
desgericht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der
Beschwerdefrist beantragt und zugleich die Beschwerdeeinlegung nachgeholt.
Das Oberlandesgericht hat das Wiedereinsetzungsgesuch zurückgewie-
sen. Hiergegen richtet sich die Rechtsbeschwerde der Antragstellerin.
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II.
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg. Sie führt zur Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Beschwerdeeinlegung und im
Übrigen zur Zurückverweisung der Sache an das Oberlandesgericht.
1. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Sie ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 2
FamFG i.V.m. §§ 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und auch
im Übrigen zulässig (§ 574 Abs. 2 ZPO). Die Sicherung einer einheitlichen
Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts.
Das Beschwerdegericht hat durch seine Entscheidung das Verfahrensgrundrecht
der Antragstellerin auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1
GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip) verletzt, welches es den Gerichten verbietet,
den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten In-
stanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu er-
schweren (Senatsbeschlüsse vom 23. März 2011 - XII ZB 51/11 - FamRZ 2011,
881 Rn. 7 und vom 2. April 2008 - XII ZB 189/07 - FamRZ 2008, 1338 Rn. 8
mwN).
2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet.
a) Das Beschwerdegericht hat den Wiedereinsetzungsantrag der Antrag-
stellerin mit der Begründung zurückgewiesen, diese habe die Beschwerdeschrift
beim Oberlandesgericht statt bei dem nach § 64 Abs. 1 FamFG zuständigen
Amtsgericht eingelegt. Da die Beschwerde erst am 27. August 2012 um
12.08 Uhr und damit am letzten Tag der Wiedereinsetzungsfrist beim Oberlan-
desgericht eingegangen sei, wäre es nicht möglich gewesen, die Beschwerde im
Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs vor Ablauf der Frist an das Amtsge-
richt weiterzuleiten. Die Akten seien von der Geschäftsstelle erst am 28. August
2012 vorgelegt worden.
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Diese Ausführungen begegnen durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
b) Der Antragstellerin ist vom Beschwerdegericht zu Unrecht Wiederein-
setzung in den vorigen Stand versagt worden. Die Beschwerde gegen den Be-
schluss des Amtsgerichts vom 26. April 2012 ist zwar nicht rechtzeitig innerhalb
der zweiwöchigen Wiedereinsetzungsfrist nach § 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG
i.V.m. §§ 236 Abs. 2 Satz 2, 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO beim Amtsgericht eingegan-
gen. Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts ist die fehlerhafte Einrei-
chung der Beschwerdeschrift beim Oberlandesgericht für die Fristversäumnis
jedoch nicht ursächlich geworden.
aa) Gemäß § 113 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO setzt die
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter anderem voraus, dass der Antrag-
steller die versäumte Verfahrenshandlung innerhalb der zweiwöchigen Wieder-
einsetzungsfrist des § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO nachholt. Diese Frist beginnt nach
§ 113 Abs. 1 Satz 1 FamFG i.V.m. § 234 Abs. 2 ZPO mit dem Tag, an dem das
Hindernis behoben ist. Das ist in Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein Ver-
fahrensbeteiligter vorab um Verfahrenskostenhilfe für ein beabsichtigtes
Rechtsmittel nachsucht, spätestens der Zeitpunkt der Zustellung des Verfah-
renskostenhilfebeschlusses (vgl. Senatsbeschluss vom 19. November 2008
- XII ZB 102/08 - FamRZ 2009, 217 Rn. 10 ff.). Wird die beantragte Verfahrens-
kostenhilfe bewilligt, ist regelmäßig der Grund, der einen mittellosen Verfahrens-
beteiligten bisher daran gehindert hat, die beabsichtigte Verfahrenshandlung
vorzunehmen, entfallen. Besteht für die Verfahrenshandlung allerdings Anwalts-
zwang, genügt die bloße Bewilligung von Verfahrenskostenhilfe nicht, um das
Hindernis zu beheben. Die notwendige Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts
kann der mittellose Verfahrensbeteiligte nur dann vornehmen, wenn ihm im We-
ge der Verfahrenskostenhilfe ein Rechtsanwalt beigeordnet wird. Nur dann ist er
wirtschaftlich in der Lage, die erforderliche anwaltliche Vertretung in dem Verfah-
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ren zu erreichen. Deshalb beginnt die Wiedereinsetzungsfrist in Verfahren, in
denen sich der Beteiligte durch einen Anwalt vertreten lassen muss, erst mit der
Bekanntgabe des Beschlusses, mit dem ein Rechtsanwalt beigeordnet wird (vgl.
BGH Beschluss vom 17. Juni 2004 - IX ZB 208/03 - NJW 2004, 2902, 2903 und
Urteil vom 22. März 2001 - IX ZR 407/98 - NJW 2001, 2545, 2546 f.).
bb) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts begann danach im
vorliegenden Fall die Wiedereinsetzungsfrist nicht bereits mit der Zustellung des
die Verfahrenskostenhilfe bewilligenden Beschlusses zu laufen, sondern erst mit
der nachgeholten Entscheidung über die beantragte Anwaltsbeiordnung, von der
der Verfahrensbevollmächtigte der Antragsgegnerin mangels Zustellung dieser
Entscheidung erst am 20. August 2012 Kenntnis erlangte. Gemäß § 114 Abs. 1
FamFG musste sich die Antragstellerin in dem vorliegenden Unterhaltsverfahren
als einer Familienstreitsache (§ 112 Nr. 1 FamFG) auch im Beschwerdeverfah-
ren vor dem Oberlandesgericht durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen
(Keidel/Budde FamFG 18. Aufl. § 114 Rn. 4). Die beabsichtigte Beschwerde ge-
gen die amtsgerichtliche Entscheidung konnte daher von ihr erst nach der Bei-
ordnung eines Rechtsanwalts eingelegt werden. Damit ist das Hindernis, das
einer früheren Einlegung des Rechtsmittels entgegenstand, nicht schon mit der
am 13. August 2012 zugestellten Entscheidung über die Bewilligung von Verfah-
renskostenhilfe, sondern erst mit der nachträglichen Entscheidung des Be-
schwerdegerichts über die Anwaltsbeiordnung entfallen. Die zweiwöchige Frist
zur Nachholung der Beschwerdeeinlegung als versäumter Verfahrenshandlung
(§ 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i.V.m. §§ 234 Abs. 1 Satz 1, 236 Abs. 2 Satz 2
ZPO) endete folglich nicht - wie vom Beschwerdegericht angenommen - bereits
am 27. August 2012, sondern erst am 3. September 2012.
cc) Zwar hat der Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin entgegen
§ 64 Abs. 1 Satz 1 FamFG die Beschwerdeschrift beim unzuständigen Be-
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schwerdegericht eingereicht und damit die versäumte Verfahrenshandlung nicht
rechtzeitig nachgeholt (§ 113 Abs. 1 Satz 2 FamFG i.V.m. § 236 Abs. 2 Satz 2
ZPO). Die unterlassene Weiterleitung der Beschwerde an das zuständige Amts-
gericht verstößt jedoch gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens und lässt
daher die Kausalität der schuldhaften Pflichtverletzung für die Fristversäumung
entfallen.
(1) Wird in einer Familienstreitsache die Beschwerde anstatt bei dem ge-
mäß § 64 Abs. 1 FamFG für ihre Entgegennahme zuständigen Amtsgericht beim
Beschwerdegericht eingelegt, hat das angerufene Gericht die Beschwerdeschrift
im ordentlichen Geschäftsgang an das Amtsgericht weiterzuleiten, wenn ohne
weiteres die Unzuständigkeit des angerufenen Gerichts erkennbar und - damit
regelmäßig - die Bestimmung des zuständigen Gerichts möglich ist (Senatsbe-
schlüsse vom 27. Februar 2013 - XII ZB 6/13 - FamRZ 2013, 779 Rn. 11 und
vom 17. August 2011 - XII ZB 50/11 - FamRZ 2011, 1649 Rn. 23 mwN). Dies
folgt aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch des Rechtsuchenden auf ein fai-
res Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip). Geht der
Schriftsatz so zeitig ein, dass die fristgerechte Weiterleitung an das Amtsgericht
im ordentlichen Geschäftsgang ohne weiteres erwartet werden kann, darf ein
Verfahrensbeteiligter darauf vertrauen, dass der Schriftsatz noch rechtzeitig dort
eingeht. Geschieht dies tatsächlich nicht, wirkt sich das Verschulden des Verfah-
rensbeteiligten oder seines Verfahrensbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass
ihm Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist (Senatsbeschluss
vom 23. Mai 2012 - XII ZB 375/11 - FamRZ 2012, 1205 Rn. 26 mwN).
Eine weitergehende Verpflichtung, etwa eine beschleunigte Weiterleitung
an das zuständige Gericht oder eine Verpflichtung, den Beteiligten oder dessen
Verfahrensbevollmächtigten durch Telefonat oder Telefax von der Einreichung
des Rechtsmittels bei einem unzuständigen Gericht zu unterrichten, ergibt sich
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von Verfassungs wegen jedoch nicht. Denn sonst würde dem Beteiligten die
Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener
Schriftsätze vollständig abgenommen und dem nicht empfangszuständigen Ge-
richt übertragen (BVerfG FamRZ 2001, 827; ständige Rechtsprechung, vgl. Se-
natsbeschlüsse vom 27. Februar 2013 - XII ZB 6/13 - FamRZ 2013, 779 Rn. 12;
vom 15. Juni 2011 - XII ZB 468/10 - FamRZ 2011, 1389 Rn. 12 und vom 17. Au-
gust 2011 - XII ZB 50/11 - FamRZ 2011, 1649 Rn. 22).
Unterbleibt die gebotene Weiterleitung der Beschwerdeschrift an das
Amtsgericht, ist weitere Voraussetzung für eine Wiedereinsetzung, dass die bei
einer Weiterleitung im ordentlichen Geschäftsgang verbleibende Zeit für die
Fristwahrung ausreichend gewesen wäre (Senatsbeschluss vom 17. August
2011 - XII ZB 5011 - FamRZ 2011, 1649 Rn. 27). Dies hat grundsätzlich der die
Wiedereinsetzung begehrende Beteiligte darzulegen und glaubhaft zu machen
(vgl. Senatsbeschluss vom 23. Mai 2012 - XII ZB 375/11 - FamRZ 2012, 1205
Rn. 29 mwN).
(2) Gemessen hieran war das Beschwerdegericht gehalten, die Be-
schwerdeschrift an das Amtsgericht weiterzuleiten.
Die Beschwerde ging zusammen mit dem Wiedereinsetzungsantrag am
27. August 2012 beim Beschwerdegericht ein. In der angegriffenen Entschei-
dung ist ausgeführt, dass die Verfahrensakten bereits am Dienstag, dem 28. Au-
gust 2012, von der Geschäftsstelle vorgelegt wurden. Da aus dem Schriftsatz
des Verfahrensbevollmächtigten der Antragstellerin ersichtlich war, dass gleich-
zeitig mit dem Wiedereinsetzungsantrag die Beschwerdeeinlegung nachgeholt
werden sollte, wäre das Beschwerdegericht bereits an diesem Tag gehalten ge-
wesen, die Beschwerdeschrift an das Amtsgericht weiterzuleiten. Wäre das Be-
schwerdegericht dieser Verpflichtung nachgekommen, wäre zu erwarten gewe-
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sen, dass die Beschwerde im Rahmen des ordentlichen Geschäftsgangs bis
zum Ablauf der Frist der §§ 236 Abs. 2 Satz 2, 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO am Mon-
tag, dem 3. September 2012, noch beim Amtsgericht eingegangen wäre, so
dass sich das Verschulden der Bevollmächtigten der Antragstellerin im Ergebnis
nicht auswirkt.
III.
Nach alledem ist die angefochtene Entscheidung gemäß § 113 Abs. 1
Satz 2 FamFG i.V.m. §§ 238 Abs. 2 Satz 1, 522 Abs. 1 Satz 2 und 4, 574 Abs. 1
Nr. 1, 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO aufzuheben. Soweit es die Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand anbelangt, kann der Senat selbst abschließend entscheiden
(vgl. § 577 Abs. 5 Satz 1 ZPO), weil die hierfür erforderlichen Feststellungen ge-
troffen sind und die Frage der Ursächlichkeit des Verschuldens lediglich auf einer
rechtlichen Bewertung beruht.
Dose
Schilling
Günter
Nedden-Boeger
Guhling
Vorinstanzen:
AG Stadthagen, Entscheidung vom 26.04.2012 - 60 F 116/11 -
OLG Celle, Entscheidung vom 30.08.2012 - 12 UF 109/12 -
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