Urteil des BGH vom 15.11.2012

BGH: abschiebung, polizei, freiheitsentziehung, zukunft, anhörung, ermittlungsverfahren, emrk, mangel, vertreter, sicherungshaft

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
V ZB 119/12
vom
15. November 2012
in der Abschiebungshaftsache
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Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 15. November 2012 durch die
Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richter Dr. Lemke und
Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und die Richterinnen Dr. Brückner und Weinland
beschlossen:
Dem Betroffenen wird für die Durchführung des Rechtsbeschwer-
deverfahrens Verfahrenskostenhilfe unter Beiordnung der Rechts-
anwälte Dipl.-Phys. Engel und Rinkler bewilligt.
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird festgestellt, dass
der Beschluss des Amtsgerichts Achim vom 23. Mai 2012 und der
Beschluss der 3. Zivilkammer des Landgerichts Verden vom
19. Juni 2012 ihn in seinen Rechten verletzt haben.
Gerichtskosten werden in allen Instanzen nicht erhoben. Die zur
zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Auslagen
des Betroffenen in allen Instanzen werden dem Landkreis Verden
auferlegt.
Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens beträgt
3.000 €.
Gründe:
I.
Der Betroffene, ein serbischer Staatsangehöriger, reiste in Begleitung
von Familienangehörigen Ende Oktober 2010 in die Bundesrepublik Deutsch-
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land ein. Sein Asylantrag wurde abgelehnt; er wurde unter Androhung der Ab-
schiebung zur Ausreise aufgefordert. Der angekündigten Abschiebung entzog
er sich. Am 22. Mai 2012 wurde er festgenommen.
Auf den Antrag des Beteiligten zu 2 hat das Amtsgericht die Haft zur Si-
cherung der Abschiebung bis einschließlich 4. Juli 2012 angeordnet. Die Be-
schwerde ist erfolglos gewesen. Mit seiner Rechtsbeschwerde will der Betroffe-
ne nach Ablauf der Haftzeit die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehung fest-
stellen lassen.
II.
Das Beschwerdegericht sieht den Haftantrag als zulässig an. Insbeson-
dere enthalte er ausreichende Angaben zu der erforderlichen Haftdauer. Die
Ausländerbehörde habe eine deutlich unter der Höchstfrist liegende Haftzeit
von sechs Wochen mit tragfähiger Begründung beantragt. Der Haftgrund erge-
be sich aus § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 und 5 AufenthG. Die Erteilung des Einver-
nehmens der Staatsanwaltschaft sei nicht erforderlich, weil die Polizei aus-
schließlich zum Zwecke der Durchführung der Abschiebung tätig geworden sei.
III.
Die zulässige Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
1. Die Entscheidungen des Amtsgerichts und des Beschwerdegerichts
haben den Betroffenen bereits deshalb in seinen Rechten verletzt, weil es an
einem zulässigen Haftantrag und damit an der nach § 417 Abs. 1 FamFG un-
verzichtbaren Grundlage für die Freiheitsentziehung fehlte.
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a) Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des
Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig
ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den gesetzlichen Anfor-
derungen an die Begründung entspricht. Erforderlich sind Darlegungen zu der
zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Abschiebungsvoraussetzungen, zu der
Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Abschiebung und zu der
notwendigen Haftdauer (§ 417 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 5 FamFG). Fehlt es da-
ran, darf die beantragte Sicherungshaft nicht angeordnet werden (st. Rspr.,
siehe nur Senat, Beschlüsse vom 10. Mai 2012
– V ZB 246/11, InfAuslR 2012,
328 ff. Rn. 10; vom 27. Oktober 2011
– V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82 Rn.
12 f. mwN; vom 15. September 2011
– V ZB 123/11, InfAuslR 2012, 25 Rn. 8
mwN).
b) Die Begründung des Haftantrags muss auf den konkreten Fall zuge-
schnitten sein; Leerformeln und Textbausteine genügen nicht. Danach bestim-
men sich Inhalt und Umfang der notwendigen Darlegungen. Sie dürfen knapp
gehalten sein, müssen aber die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte
des Falls ansprechen. Die Durchführbarkeit der Abschiebung muss mit konkre-
tem Bezug auf das Land, in das der Betroffene abgeschoben werden soll, dar-
gelegt werden. Anzugeben ist dazu, ob und innerhalb welchen Zeitraums Ab-
schiebungen in das betreffende Land üblicherweise möglich sind, von welchen
Voraussetzungen dies abhängt und ob diese im konkreten Fall vorliegen (st.
Rspr., siehe nur Senat, Beschlüsse vom 10. Mai 2012
– V ZB 246/11, InfAuslR
2012, 328 ff. Rn. 9 f.; vom 27. Oktober 2011
– V ZB 311/10, FGPrax 2012, 82
Rn. 13 f. jeweils mwN).
c) Der Haftantrag der Beteiligten zu 2 genügte diesen Anforderungen
nicht. Ausgeführt wird lediglich, dass die Beantragung eines Passersatzpapiers
erfahrungsgemäß drei bis vier Wochen in Anspruch nehme; nach Vorlage des
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Passersatzpapiers werde das Abschiebungsverfahren eingeleitet. Weder ist
ersichtlich, auf welcher Tatsachengrundlage diese Angaben beruhen, noch ist
erkennbar, welche Zeit die Abschiebung nach Serbien auch nach Erteilung des
Passersatzpapiers üblicherweise erfordert, welche Formalitäten dabei zu be-
achten sind und welche Zeit diese üblicherweise beanspruchen. Damit fehlen in
dem Haftantrag hinreichende Tatsachen, anhand derer der Haftrichter die
Prognose nach § 62 Abs. 3 Satz 4 AufenthG treffen konnte; die Angaben wer-
den nicht dadurch entbehrlich, dass die Behörde eine unter der gesetzlichen
Höchstfrist liegende Haftdauer beantragt.
d) Der Mangel ist auch nicht
– was mit Wirkung für die Zukunft möglich
wäre
– geheilt worden. Im Rahmen der Anhörung vor dem Beschwerdegericht
hat der Vertreter der Beteiligten zu 2 lediglich mitgeteilt, das Passersatzpapier
liege jetzt vor.
2. Im Übrigen weist der Senat darauf hin, dass das Einvernehmen der
Staatsanwaltschaft gemäß § 72 Abs. 4 Satz 1 AufenthG erforderlich ist, wenn
ein Ermittlungsverfahren eingeleitet und noch nicht abgeschlossen ist. Dazu
bedarf es der Einleitung behördlicher Maßnahmen, die auf ein strafrechtliches
Vorgehen abzielen (Renner/Dienelt, Ausländerrecht, 9. Aufl., § 72 Rn. 12; Hof-
mann in HK-AuslR, § 72 Rn. 31). Insoweit reicht es
– anders als das Be-
schwerdegericht meint - aus, wenn die Polizei den Betroffenen selbst als Be-
schuldigten führt und, wie hier, einen Ermittlungsvorgang anlegt; ob der Be-
schuldigte auch als solcher vernommen wird, ist unerheblich. Von einer weiter-
gehenden Begründung wird gemäß § 74 Abs. 7 FamFG abgesehen.
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IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 und 2, § 83
Abs. 2 FamFG, § 430 FamFG, Art. 5 Abs. 5 EMRK analog; die Festsetzung des
Gegenstandswerts folgt aus § 128 c Abs. 2 KostO i.V.m. § 30 KostO.
Stresemann
Lemke
Schmidt-Räntsch
Brückner
Weinland
Vorinstanzen:
AG Achim, Entscheidung vom 23.05.2012 - 4 XIV 17/12 B -
LG Verden, Entscheidung vom 19.06.2012 - 3 T 49/12 -
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