Urteil des BGH vom 16.10.2006

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
II ZR 101/05 Verkündet
am:
16. Oktober 2006
Vondrasek
Justizangestellte
als
Urkundsbeamtin
der
Geschäftsstelle
in dem Rechtsstreit
Nachschlagewerk: ja
BGHZ: nein
BGHR: ja
ZPO §§ 315 Abs. 1 Satz 1, 540 Abs. 1 Satz 2, 547 Nr. 6
Ist ein sog. Protokollurteil des Berufungsgerichts nur von dem Senatsvorsitzen-
den und dem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle unterschrieben und können
die fehlenden Unterschriften der beiden beisitzenden Richter (§ 315 Abs. 1
Satz 1 ZPO) wegen Ablaufs der insoweit maßgeblichen fünfmonatigen Höchst-
frist für die Rechtsmitteleinlegung (§ 548 ZPO) nicht mehr rechtswirksam nach-
geholt werden, so stellt das einen absoluten Revisionsgrund nach § 547 Nr. 6
ZPO dar (im Anschl. an BGH, Urt. v. 27. Januar 2006 - V ZR 243/04,
NJW 2006, 1881 Tz 16 f.).
BGH, Urteil vom 16. Oktober 2006 - II ZR 101/05 - OLG München
LG Augsburg
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Der II.
Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat auf die mündliche
Verhandlung vom 16.
Oktober 2006 durch den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Goette und die Richter Dr. Kurzwelly, Kraemer, Prof. Dr. Gehrlein und
Caliebe
für Recht erkannt:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 14. Zivilsenats
des Oberlandesgerichts München, Zivilsenate in Augsburg, vom
24. Februar 2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsge-
richt zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger, der mit einem Behinderungsgrad von 90 schwerbehindert ist,
schloss am 22.
Juli/1.
August 1999 mit der m.
AG & Co. KG ("m. "), vertreten durch die v. AG,
einen Vertrag über seine Anstellung als Geschäftsführer mit Wirkung ab 1. April
2000. Unter Nr. 1.1. des Anstellungsvertrages (AV) wird die Position des Klä-
gers dahingehend beschrieben, dass er "selbständig, verantwortlich und mit der
Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmannes die Geschäfte der m. im Rah-
men der Satzung, der Geschäftsordnung und nach Maßgabe der Gesellschaf-
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terbeschlüsse" führt; nach Nr. 1.2. AV vertritt der Kläger "in seiner Funktion als
Profit-Center-Leiter der m. AG & Co. KG" die
Interessen (auch) der S. GmbH
gegenüber einer anderen Gesellschaft, wobei diese Aufgabe mit der vereinbar-
ten Vergütung bei der m. abgegolten sein soll. Nach Nr. 1.5. des Ver-
trages bedürfen zahlreiche unter lit. (a) bis (s) im Einzelnen näher beschriebene
Tätigkeiten der Zustimmung der m. . Seit 1. März 2000 firmiert die Ver-
tragspartnerin des Klägers nach einem Wechsel der Komplementärin unter der
Bezeichnung der Beklagten als "w. GmbH & Co. KG", deren
Komplementärin nunmehr die "w. Verwaltungsgesellschaft
mbH" und deren Kommanditisten die W. Holding GmbH & Co. sowie die v.
AG & Co. KG sind. Aufgrund Gesellschafterbeschlusses vom
1. März 2002 führte der Kläger als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH
der Beklagten deren Geschäfte. Am 27. Januar 2003 sprach der Vorstand der
"v. AG & Co. KG" dem Kläger gegenüber die "Abberu-
fung als zweiter Geschäftsführer der w. " aus. Mit Schreiben vom 17. Juni
2003 kündigte die Beklagte das Anstellungsverhältnis des Klägers "aus be-
triebsbedingten Gründen fristgemäß mit Wirkung zum 31. Dezember 2003".
Mit seiner zunächst bei dem Arbeitsgericht erhobenen Klage begehrt der
Kläger die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung und des Fortbeste-
hens seines Dienstverhältnisses über den 31. Dezember 2003 hinaus, indem er
sich auf das Fehlen der seiner Ansicht nach erforderlichen Zustimmung des
Integrationsamtes zu der Kündigung gemäß § 85 SGB IX beruft. Das angerufe-
ne Arbeitsgericht hat den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten für unzulässig
erklärt und den Rechtsstreit an das Landgericht München mit der Begründung
verwiesen, der Kläger sei als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH der
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Beklagten kraft Gesetzes auch zu deren Vertretung berufen gewesen und damit
nicht Arbeitnehmer im Sinne des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbG.
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Das Landgericht hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, der Klä-
ger sei aufgrund seiner organschaftlichen Vertreterstellung als Geschäftsführer
der Komplementär-GmbH nicht Arbeitnehmer im arbeitsrechtlichen Sinne, so
dass die Kündigung nicht nach § 85 SGB IX zustimmungsbedürftig gewesen
sei. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers durch ein sog. Proto-
kollurteil zurückgewiesen, das am Schluss der Sitzung, in der die mündliche
Verhandlung stattgefunden hat, verkündet wurde. Entscheidungsformel und
-gründe sind in das nur von dem Vorsitzenden des Berufungszivilsenats und
einer Justizangestellten unterschriebene Sitzungsprotokoll aufgenommen wor-
den.
Mit der - vom erkennenden Senat zugelassenen - Revision verfolgt der
Kläger sein Klagebegehren weiter.
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Entscheidungsgründe:
Die Revision ist begründet.
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I. Auf die Revisionsrüge des Klägers unterliegt das Urteil des Berufungs-
gerichts bereits deshalb der Aufhebung, weil es nicht von allen Richtern unter-
schrieben ist, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben.
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1. Nach § 315 Abs. 1 Satz 1 ZPO ist das Urteil von sämtlichen Richtern,
die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben. Das waren hier
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nach der Verlautbarung am Anfang des Protokolls der mündlichen Verhandlung
(vgl. § 309 ZPO) drei Richter des 14. Zivilsenats des Berufungsgerichts. Das
Protokoll, das auch das Urteil enthält, ist jedoch nur von dem Senatsvorsitzen-
den und von der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle unterschrieben.
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Das reicht - wie bereits der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes durch
Urteil vom 27. Januar 2006 (V ZR 243/04, NJW 2006, 1881 unter Bezugnahme
auf BGHZ 158, 37, 41) zu einer identischen Verfahrensweise desselben
14. Zivilsenats des Berufungsgerichts entschieden hat - für das verfahrens-
rechtlich einwandfreie Zustandekommen des Urteils nicht aus.
Zwar ist das angefochtene Protokollurteil auch ohne Unterschrift sämtli-
cher an der Entscheidungsfindung mitwirkenden Richter mit seiner Verkündung
existent geworden (BGHZ 137, 49, 52). Jedoch können die fehlenden Unter-
schriften nicht mehr rechtswirksam nachgeholt werden, weil seit der Urteilsver-
kündung die für die Einlegung eines Rechtsmittels längste Frist von fünf Mona-
ten (§§ 517, 548 ZPO) verstrichen ist (BGH, NJW aaO S. 1882). Das Fehlen
der Unterschriften stellt einen absoluten Revisionsgrund dar (§ 547 Nr. 6 ZPO).
Damit steht nicht fest, dass die in das Protokoll über die mündliche Verhandlung
vor dem Berufungsgericht aufgenommenen Entscheidungsgründe für die getrof-
fene Entscheidung auch wirklich maßgebend waren.
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Aufgrund dessen fehlen die für die revisionsrechtliche Nachprüfung not-
wendigen Entscheidungsgründe (BGH, NJW aaO S. 1882).
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II. Der aufgezeigte Verfahrensfehler führt - ohne dass es auf die weite-
ren, vom Kläger erhobenen Revisionsrügen ankäme - zur Aufhebung des ange-
fochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur neuen Verhandlung
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und Entscheidung an das Berufungsgericht (§§ 562 Abs. 1, 563 Abs. 1 Satz 1
ZPO).
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III. Für die erneute mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgericht
weist der Senat auf Folgendes hin:
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1. Soweit der Kläger - wie mit der Revision gerügt - in der Zurückweisung
seines Vorbringens zur angeblichen weitreichenden tatsächlichen Einschrän-
kung seiner Befugnisse als Geschäftsführer durch das Berufungsgericht (§ 531
Abs. 2 Nr. 3 ZPO) auch weiterhin einen Verstoß gegen sein Grundrecht auf
Gewährung rechtlichen Gehörs sehen wollte, weil angeblich ein entsprechender
Verfahrensmangel im ersten Rechtszug (§ 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO) vorgelegen
habe, wäre dem nicht zu folgen. Denn bereits das Arbeitsgericht hat vor seiner
Entscheidung über die Verweisung des Rechtsstreits an das Landgericht darauf
hingewiesen, dass seiner Einschätzung nach der Kläger in seiner Eigenschaft
als Geschäftsführer der Komplementär-GmbH kein Arbeitnehmer im arbeits-
rechtlichen Sinne gewesen sei; das hat der Kläger zur Kenntnis genommen und
mit Schriftsatz vom 20. Februar 2004 selbst darauf hingewiesen, dass er diese
Einschätzung teile und daher kein Rechtsmittel gegen den Verweisungsbe-
schluss des Arbeitsgerichts eingelegt habe. Angesichts dessen bedurfte es vor
der mündlichen Verhandlung vor dem Landgericht, in der die Sache eingehend
erörtert worden ist, keines gerichtlichen Hinweises dahingehend, dass der Klä-
ger die Darlegungs- und Beweislast für solche Umstände trägt, die trotz seiner
Rechtsstellung als Geschäftsführer und damit Organ der Komplementär-GmbH
der Beklagten ausnahmsweise seine arbeitgeberähnliche Position entfallen las-
sen und die Schutzvorschrift des § 85 SGB IX zu seinen Gunsten zur Anwen-
dung kommen lassen könnten.
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2. Eine derartige Verfahrenssituation entbindet das Berufungsgericht frei-
lich nicht von der Verpflichtung, den unstreitigen Inhalt des Geschäftsführeran-
stellungsvertrages des Klägers hinsichtlich der dort beschriebenen vertraglichen
Aufgaben und die Bedeutung seiner Position trotz der formalen Bezeichnung
als Geschäftsführer im Hinblick auf eine etwaige konkrete Ausgestaltung des
Dienstverhältnisses als arbeitnehmerähnliches Rechtsverhältnis und damit
zugleich auch auf eine etwaige Anwendbarkeit der Schutzvorschrift des § 85
SGB IX über die Zustimmung des Integrationsamtes hin zu überprüfen.
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Im Rahmen der dem Berufungsgericht obliegenden Gesamtwürdigung
der Ausgestaltung des Anstellungsverhältnisses des Klägers wird in diesem
Zusammenhang zu berücksichtigen sein, dass der Anstellungsvertrag seinerzeit
von der damaligen Komplementär-AG der beklagten Kommanditgesellschaft mit
dem Kläger geschlossen worden ist und insofern die Bezeichnung als "Ge-
schäftsführer" irreführend wäre, zumal seine funktionale Position unter
Nr. 1.2. AV auch als "Profit-Center-Leiter" der KG beschrieben wurde, dem ge-
mäß Nr. 1.3. AV noch "weitere oder andere Aufgaben im Konzern zugewiesen
werden" konnten. Für die Komplementär-Gesellschaft konnte er seinerzeit je-
denfalls nicht ohne weiteres "als Geschäftsführer" tätig werden, weil diese im
Zeitpunkt des Vertragsschlusses eine - durch ihren Vorstand vertretene - Akti-
engesellschaft war. Wie die Funktion des Klägers als Profit-Center-Leiter in Be-
zug auf die Abgrenzung zwischen Organstellung und arbeitnehmerähnlicher
Position zu bewerten ist, wird auch unter dem Blickwinkel der weitgehenden
Einschränkungen seiner Entscheidungsbefugnisse aufgrund der umfangreichen
Zustimmungserfordernisse gemäß Nr. 1.5. AV lit. (a) bis (s) zu beurteilen sein.
Diese Gesichtspunkte könnten selbst dann bedeutsam bleiben, wenn - wie
hier - der Kläger ab dem vertraglich vorgesehenen Zeitpunkt seines Tätigkeits-
beginns am 1. April 2000 tatsächlich sogleich als Geschäftsführer der dann neu
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als Komplementärin an die Stelle der Aktiengesellschaft getretenen GmbH tätig
geworden ist. Aus dem Vertragswortlaut ist zumindest nicht ohne weiteres er-
kennbar, dass bereits bei Vertragsschluss feststand, dass die Gesellschaftsver-
hältnisse hinsichtlich der Komplementärin der Beklagten in die Rechtsform der
GmbH überführt würden.
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Für die danach gebotene, dem Vorbringen beider Parteien gerecht wer-
dende (Art. 103 GG) Darlegung und Begründung des Ergebnisses der Ge-
samtwürdigung der Ausgestaltung des Anstellungsverhältnisses des Klägers im
Hinblick auf § 85 SGB IX in der neuen Entscheidung des Berufungsgerichts
wird sich die Form des sog. Protokollurteils kaum eignen.
Goette Kurzwelly Kraemer
Gehrlein Caliebe
Vorinstanzen:
LG Augsburg, Entscheidung vom 22.04.2004 - 1 HKO 492/04 -
OLG München in Augsburg, Entscheidung vom 24.02.2005 - 14 U 399/04 -