Urteil des BGH vom 22.10.2002

BGH (sachlicher zusammenhang, geschäftsführer, gesellschaft, anklage, beihilfe, rücknahme, stgb, abberufung, stpo, staatsanwaltschaft)

5 StR 314/03
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 17. März 2004
in der Strafsache
gegen
wegen Anstiftung zur Insolvenzverschleppung
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Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
17. März 2004, an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger,
Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Brause,
Richter Schaal
als beisitzende Richter,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
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für Recht erkannt:
1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil
des Landgerichts Dresden vom 22. Oktober 2002 mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung,
auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
– Von Rechts wegen –
G r ü n d e
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf der Anstif-
tung zur Insolvenzverschleppung in zwei Fällen freigesprochen. Die Revision
der Staatsanwaltschaft hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Mit der Anklageschrift vom 11. Juni 2002 wird dem Angeklagten
zur Last gelegt, jeweils die bestellten Geschäftsführer der B
C GmbH, deren alleiniger Gesellschafter der Angeklagte war
und deren Geschäfte faktisch vom anderweitig verfolgten B geführt wur-
den, an der Stellung von Insolvenzanträgen durch Weisung gehindert zu ha-
ben.
a) Hiernach soll der Angeklagte dem bestellten Geschäftsführer
S im Anschluß an eine Gesellschafterversammlung vom 18. Janu-
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ar 2000 untersagt haben, einen von S für erforderlich gehaltenen In-
solvenzantrag zu stellen, obwohl S und der Angeklagte von der Insol-
venzreife der Gesellschaft wußten. Stattdessen habe der Angeklagte den
Geschäftsführer S auf dessen Wunsch hin von den Pflichten eines
Geschäftsführers entbunden.
b) Nachdem zwei Krankenkassen am 11. Juli und 21. August 2000
Insolvenzanträge für die Gesellschaft gestellt hatten, soll der Angeklagte fer-
ner – in Kenntnis der weiterbestehenden Insolvenzreife der Gesellschaft –
die nunmehrige Geschäftsführerin K angewiesen haben, Zahlungen an
die antragstellenden Krankenkassen zu leisten, damit diese – wie tatsächlich
geschehen – ihre Insolvenzanträge zurücknehmen würden.
2. Das Landgericht hat derartige Weisungen des Angeklagten nicht
feststellen können.
a) Nach den Feststellungen hat der Angeklagte in Fall 1 allerdings
dem bestellten Alleingeschäftsführer der GmbH S gekündigt, obwohl
dieser und der Angeklagte wußten, daß die Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt
bereits insolvent war.
b) Zu Fall 2 hat der Tatrichter festgestellt, daß der Angeklagte die
Zahlungen an die Krankenkassen selbst vorgenommen hat und insoweit kei-
ne Anweisung an die Geschäftsführerin K erging. Diese hatte vielmehr
selbst im Juli 2000 einen Insolvenzantrag für die Gesellschaft gestellt, den
sie später auf Anweisung des B zurücknahm.
3. Gegen diese Feststellungen wendet sich die Staatsanwaltschaft
nicht; sie rügt – ungeachtet des unbeschränkten Aufhebungsantrages – le-
diglich, daß das Landgericht die angeklagten Taten, so wie sich diese nach
dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellten, nicht unter allen tatsächli-
chen und rechtlichen Gesichtspunkten erschöpfend gewürdigt habe.
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II.
Das dadurch schlüssig beschränkte Rechtsmittel (vgl. BGHR StPO
§ 344 Abs. 1 Antrag 3), das vom Generalbundesanwalt vertreten wird, hat mit
der auf die Verletzung des § 264 StPO abhebenden Sachrüge Erfolg. Das
Landgericht hat seiner umfassenden Kognitionspflicht nicht genügt.
1. Das Sachurteil muß den durch die zugelassene Anklage abge-
grenzten Prozeßstoff erschöpfen (st. Rspr., vgl. nur BGH NStZ 1997, 127
m.w.N.). Die Tat als Gegenstand der Urteilsfindung ist der geschichtliche
Vorgang, auf den Anklage und Eröffnungsbeschluß hinweisen und innerhalb
dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (BGHR
StPO § 264 Abs. 1 Tatidentität 4 m.w.N.). Hierbei handelt es sich um einen
eigenständigen Begriff; er ist weiter als derjenige der Handlung im sachlichen
Recht (BGHSt 29, 288, 292 m.w.N.). Zur Tat im prozessualen Sinne gehört
– unabhängig davon, ob Tateinheit oder Tatmehrheit vorliegt – das gesamte
Verhalten des Täters, soweit es nach der Auffassung des Lebens einen ein-
heitlichen Vorgang darstellt (BGHSt 32, 215, 216 m.w.N.). Somit umfaßt der
Lebensvorgang, aus dem die zugelassene Anklage einen strafrechtlichen
Vorwurf herleitet, alle damit zusammenhängenden und darauf bezüglichen
Vorkommnisse, auch wenn diese in der Anklageschrift nicht ausdrücklich
erwähnt sind (BGH aaO). Dabei kommt es auf die Umstände des Einzelfalls
an. Entscheidend ist, ob zwischen den in Betracht kommenden Verhaltens-
weisen – unter Berücksichtigung ihrer strafrechtlichen Bedeutung – ein enger
sachlicher Zusammenhang besteht (BGH aaO S. 217).
2. Bei Anwendung dieser Grundsätze ist – wie der Generalbundes-
anwalt zutreffend ausführt – der enge sachliche Zusammenhang für alle drei
denkbaren Tatvarianten in Fall 1 gegeben.
a) Das Landgericht hat die Möglichkeit einer täterschaftlichen Insol-
venzverschleppung (§ 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG) nicht in den Blick genom-
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men. Dafür hätte aber Anlaß bestanden, weil zum Zeitpunkt der Abberufung
des S kein weiterer Geschäftsführer vorhanden war und der Ange-
klagte einen neuen Geschäftsführer nicht bestellt hat. In diesem Falle hätte
der Angeklagte sich wegen unterlassener Antragstellung strafbar machen
können, sofern er sich für die GmbH als faktischer Geschäftsführer (vgl.
Schaal in Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG 4. Aufl., § 84 Rdn. 10 f.
m.w.N.) betätigt hat.
b) Alternativ hätte das Landgericht eine Beihilfe des Angeklagten zu
einer möglichen Insolvenzverschleppung des faktischen Geschäftsführers
B (§ 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, § 27 Abs. 1 StGB) erwägen müssen. Eine
solche könnte darin liegen, daß nach den Feststellungen des Landgerichts
der Angeklagte als Alleingesellschafter die Abberufung des bestellten Allein-
geschäftsführers S unterzeichnete, die der faktische Geschäftsführer
B dem S aushändigte, damit S einen von ihm beabsichtig-
ten Insolvenzantrag nicht mehr stellen könne.
c) Schließlich hätte das Landgericht prüfen müssen, ob eine Straf-
barkeit des Angeklagten wegen einer Beihilfe zur Insolvenzverschleppung
des bestellten Geschäftsführers S (§ 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG, § 27
Abs. 1 StGB) in Betracht kommt. Eine solche ist nicht auszuschließen, weil
sich der abberufene Geschäftsführer – ungeachtet einer möglichen zivilrecht-
lichen Wirksamkeit seiner Abberufung – gleichwohl bereits nach § 84 Abs. 1
Nr. 2 GmbHG strafbar gemacht haben könnte, weil die Frist zur Antragstel-
lung gemäß § 64 Abs. 1 GmbHG bereits abgelaufen war (vgl. Schaal aaO,
Rdn. 46 ff., 58, 61; Tiedemann in Scholz, Kommentar zum GmbH-Gesetz
9. Aufl. § 84 Rdn. 36 ff.).
3. Im Hinblick auf Fall 2 hätte das Landgericht erwägen müssen, ob
in der Bezahlung der offenen Krankenkassenbeiträge mit dem Ziel, die Kran-
kenkassen zur Rücknahme ihrer Insolvenzanträge zu bewegen, eine Beihilfe
des Angeklagten zur Insolvenzverschleppung des faktischen Geschäftsfüh-
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rers B liegen könnte (vgl. zum Verhältnis zwischen § 266a StGB und
§ 84 Abs. 1 GmbHG; BGH NJW 2003, 3787 ff.). Die Insolvenzanträge der
Krankenkassen und der bestellten Geschäftsführerin K sind gleichzei-
tig beim Amtsgericht Dresden anhängig gewesen. Eine Rücknahme der ein-
zelnen Insolvenzanträge hätte gegebenenfalls nur dann Sinn machen kön-
nen, wenn jeder der angebrachten Anträge zurückgenommen worden wäre.
Wenn der Angeklagte in Kenntnis des bestehenden Antrages der Ge-
schäftsführerin K und der Weisung des B im Hinblick auf die
Rücknahme dieses Antrages dafür sorgte, daß die Krankenkassen befriedigt
wurden, könnte hierin eine Unterstützung des B , der ein Insolvenzver-
fahren verhindern wollte, liegen. Auch diese Tatvariante wäre von der Kogni-
tionspflicht des Tatrichters umfaßt.
4. Die für eine abschließende Überprüfung notwendigen Feststellun-
gen lassen sich zu keiner der – streng alternativ – in Betracht kommenden
Varianten dem landgerichtlichen Urteil entnehmen. Die Sache bedarf daher
insgesamt erneuter Verhandlung, wobei der neue Tatrichter den gegen den
Angeklagten erhobenen Schuldvorwurf in eigener tatrichterlicher Verantwor-
tung in vollem Umfange erneut zu prüfen und zu entscheiden haben wird.
Harms Häger Gerhardt
Brause Schaal