Urteil des BGH vom 14.03.2017

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
2 StR 457/05
vom
16. November 2005
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: ja
Veröffentlichung: ja
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StPO § 59 Abs. 1 Satz 1
F.: 24. August 2004
Eine ausdrückliche Entscheidung, einen Zeugen nicht zu vereidigen, ist nach
der Änderung des gesetzlichen Regel-/Ausnahme-Verhältnisses in § 59 Abs. 1
Satz 1 StPO nur dann zu treffen und in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzu-
nehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter einen Antrag auf Vereidigung gestellt
hat.
BGH, Beschl. vom 16. November 2005 - 2 StR 457/05 - LG Aachen
in der Strafsache
gegen
1.
2.
wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer
Menge
- 2 -
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung der Beschwerdeführer am 16. November 2005
gemäß § 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revisionen der Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Aachen vom 22. April 2005 werden als unbegründet verworfen.
Jeder Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu
tragen.
Gründe:
1. Die Verfahrensrüge eines Verstoßes gegen § 59 Abs. 1 Satz 1 StPO
ist nicht begründet.
Das Landgericht hat, wie durch das Hauptverhandlungsprotokoll bewie-
sen ist, jedenfalls in acht Fällen in der Hauptverhandlung vernommene Zeugen
entlassen, ohne ausdrücklich über eine Vereidigung gemäß § 59 Abs. 1 StPO
zu entscheiden. Entgegen der Ansicht der Revision war dies aber nicht rechts-
fehlerhaft. § 59 Abs. 1 StPO in der Fassung durch das Erste Justizmodernisie-
rungsgesetz vom 28. August 2004 (BGBl. I 2198) hat das frühere gesetzliche
Regel-Ausnahme-Verhältnis umgekehrt und schreibt eine ausdrückliche Ent-
scheidung über die Vereidigung eines Zeugen nur noch in den dort genannten
Ausnahmefällen vor.
Soweit in Entscheidungen des 1. Strafsenats (Beschl. vom 15. Februar
2005 - 1 StR 584/04, StraFo 2005, 244) und des 3. Strafsenats (Beschl. vom
- 3 -
20. Januar 2005 - 3 StR 455/04, NStZ 2005, 340; ebenso Schuster StV 2005,
628, 629) die - die jeweilige Entscheidung nicht tragende - Ansicht vertreten
wurde, § 59 Abs. 1 StPO verlange auch dann regelmäßig eine ausdrückliche
Entscheidung über die Vereidigung eines Zeugen, wenn diese nicht für notwen-
dig gehalten wird, und diese - positive oder negative - Entscheidung sei stets
als wesentliche Förmlichkeit in das Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen,
teilt der Senat diese Rechtsansicht nicht (vgl. schon Senatsbeschluss vom 17.
August 2005 - 2 StR 284/05). Nach dem im Gesetzeswortlaut zum Ausdruck
gekommenen Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 59 Abs. 1 Satz 1 StPO und
nach dem Sinn der Gesetzesänderung ist vielmehr, wenn ein Antrag eines Ver-
fahrensbeteiligten auf Vereidigung des Zeugen nicht gestellt ist, nur eine positi-
ve Entscheidung, ein Zeuge sei aus den in § 59 Abs. 1 Satz 1 aufgeführten
Ausnahme-Gründen zu vereidigen, ausdrücklich zu treffen und daher zu proto-
kollieren. Die Feststellung, dass eine solche Ausnahme nicht vorliegt, bedarf
nach allgemeinen Grundsätzen ebenso wenig einer ausdrücklichen Entschei-
dung wie die Feststellung, dass andere Abweichungen vom gesetzlich regel-
mäßigen Verfahrensgang nicht vorliegen.
Dem anders lautenden Hinweis in der Begründung des Gesetzentwurfs
des Ersten Justizmodernisierungsgesetzes (BT-Drucks. 15/1508, S. 23), auf
welchen sich die gegenteilige Ansicht stützt (vgl. BGH StraFo 2005, 244), will
der Senat nicht folgen. Nach dem klaren Wortlaut des § 59 Abs. 1 StPO ist die
Nichtvereidigung von Zeugen die Regel. Einer ausdrücklichen gerichtlichen
Entscheidung bedarf nach allgemeinen Grundsätzen nicht die Absicht, einer
gesetzlichen Regel zu folgen, sondern allein die Absicht, von ihr abzuweichen.
Daher ist einer im Hauptverhandlungsprotokoll vermerkten Entlassungsverfü-
gung zu entnehmen, das Gericht (bzw. der Vorsitzende) habe die Vorausset-
zungen, vom regelmäßigen Verfahrensgang abzuweichen, nicht als gegeben
angesehen. Dies bedarf keiner förmlichen Entscheidung und ist deshalb auch
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keine wesentliche Förmlichkeit im Sinne von §§ 273 Abs. 1, 274 Satz 1 StPO.
Eine negative Entscheidung über die Vereidigung ist vielmehr nur dann zu tref-
fen und zu protokollieren, wenn ein Verfahrensbeteiligter einen Antrag auf Ver-
eidigung des Zeugen gestellt hat.
2. § 48 OWiG und die dazu ergangene Rechtsprechung stehen dem
nicht entgegen. Nach § 48 OWiG müssen die Gründe für ein Absehen von der
Vereidigung nicht in das Protokoll der Hauptverhandlung aufgenommen wer-
den. Diese Regelung, aus welcher geschlossen werden könnte, jedenfalls die
Tatsache der Nichtvereidigung sei zu protokollieren, ist in § 59 Abs. 1 Satz 2
StPO gerade nicht übernommen worden.
Dem stehen auch Anforderungen des Revisionsverfahrens hinsichtlich
der Zulässigkeit einer auf die Nichtbeachtung des § 59 StPO gestützten Verfah-
rensrüge nicht entgegen. Zwar hat der Bundesgerichtshof in ständiger Recht-
sprechung entschieden, dass die Rüge, die Vereidigung eines Zeugen sei
rechtsfehlerhaft unterlassen worden, auch ohne vorherige Anrufung des Ge-
richts (§ 238 Abs. 2 StPO) zulässig ist, wenn der Vorsitzende eine Entschei-
dung über die Vereidigung nicht getroffen hat (BGHSt 1, 269, 273; BGH NJW
1986, 1999, 2000; BGH NStZ 1984, 371; 1987, 374; vgl. Meyer-Goßner, StPO
48. Aufl. § 59 Rdn. 13 m.w.N.). Diese Rechtsprechung kann jedoch nicht ohne
weiteres fortgeschrieben werden, nachdem das Gesetz geändert und das Re-
gel-Ausnahme-Verhältnis des § 59 StPO gegenüber der früheren Rechtslage
gerade umgekehrt wurde. Die Zulässigkeit der Rüge, der Vorsitzende habe
rechtsfehlerhaft einen Ausnahmefall im Sinne des § 59 Satz 1 StPO nicht er-
kannt und eine Vereidigungsentscheidung nicht getroffen, wird daher nunmehr
regelmäßig voraussetzen, dass in der Hauptverhandlung ein entsprechender
Antrag gestellt wurde.
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3. Auch im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revi-
sionsrechtfertigung einen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten nicht er-
geben.
Rissing-van Saan Otten Fischer
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