Urteil des BGH vom 16.12.2009

BGH (wiedereinsetzung in den vorigen stand, zpo, begründung, wiedereinsetzung, stand, ehefrau, vorrang, frist, ehescheidung, tag)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
XII ZB 20/09
vom
16. Dezember 2009
in der Familiensache
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Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 16. Dezember 2009 durch
die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne, die Richterinnen Weber-Monecke und
Dr. Vézina sowie die Richter Dose und Schilling
beschlossen:
1. Dem Kläger wird gegen die Versäumung der Frist zur Begrün-
dung der Rechtsbeschwerde Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand bewilligt.
2. Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des
1. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt
am Main vom 27. Januar 2009 aufgehoben.
Die Sache wird zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an
das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Streitwert:
3.850,44
Gründe:
I.
Das Amtsgericht hat den Kläger mit Urteil vom 4. Juni 2008 auf die Wi-
derklage der Beklagten verurteilt, an diese monatlichen Ehegattenunterhalt zu
zahlen. Gegen dieses dem Kläger am 6. Juni 2008 zugestellte Urteil hat er am
24. Juni 2008 Berufung eingelegt und erklärt, dass Begründung und Anträge
einem gesonderten Schriftsatz vorbehalten bleiben. Mit Schriftsatz vom 31. Juli
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2008 hat er beantragt, ihm Prozesskostenhilfe für das Verfahren zweiter Instanz
zu bewilligen und weiter ausgeführt:
"Der Unterzeichner stellt die Prüfung der hinreichenden Erfolgsaussich-
ten und die fehlende Mutwilligkeit in die Prüfung des Familiensenates.
Nach Bewilligung der Prozesskostenhilfe wäre dann Antrag auf Wieder-
einsetzung in den vorigen Stand zu stellen. Auf den Beschluss des Bun-
desgerichtshofs vom 6.5.08 Az. VI ZB 16/07 wird Bezug genommen."
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Mit weiterem Schriftsatz vom 1. August 2008, der am gleichen Tag bei
dem Oberlandesgericht eingegangen ist, hat er ausgeführt:
"In der Familiensache ... hat die Durchführung des Berufungsverfahrens
hinreichend Aussicht auf Erfolg. Nach der aktuellen Entscheidung des
BGH vom 30.7.2008, Az. XII ZR 177/06 haben die Unterhaltsansprüche
der jetzigen Ehefrau des Herrn M. Vorrang vor den behaupteten
Forderungen der Exfrau, Frau S. .
Ehebedingte Nachteile liegen bei Frau S. ebenfalls nicht vor. Die Un-
terhaltsreform hat die Eigenverantwortung Geschiedener gestärkt. Nach
der langen Dauer nach Rechtskraft der Ehescheidung bestehen keine
nachehelichen Unterhaltsansprüche."
Das Berufungsgericht hat dem Kläger für die Berufung ratenfreie Pro-
zesskostenhilfe bewilligt. Der Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten des
Klägers am 24. November 2008 zugestellt worden.
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Mit Verfügung vom 2. Januar 2009 hat das Oberlandesgericht den Kläger
darauf hingewiesen, dass Bedenken gegen die Zulässigkeit der Berufung be-
stünden, weil innerhalb der Frist des § 520 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 234 ZPO keine
Berufungsbegründung eingegangen sei.
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Mit Beschluss vom 27. Januar 2009 hat das Oberlandesgericht die Beru-
fung des Klägers gemäß § 522 Abs. 1 ZPO aus diesem Grund als unzulässig
verworfen. Dagegen wendet sich der Kläger mit der Rechtsbeschwerde.
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II.
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1. Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522
Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und gemäß § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig, weil
die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des
Rechtsbeschwerdegerichts erfordert.
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2. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Das Berufungsgericht hat
die Berufung des Klägers zu Unrecht nach § 522 Abs. 1 Satz 2 ZPO als unzu-
lässig verworfen.
Das Berufungsgericht hat bei seiner Annahme, der Kläger habe die Beru-
fung nicht fristgemäß begründet, den innerhalb der Berufungsbegründungsfrist
eingegangenen Schriftsatz des Klägers vom 1. August 2008 unberücksichtigt
gelassen. Dieser Schriftsatz ist zwar äußerst knapp gehalten, genügt aber den
Anforderungen, die § 520 Abs. 3 ZPO an eine wirksame Berufungsbegründung
stellt. Aus dem Einleitungssatz ergibt sich, dass die folgenden Zeilen zur Be-
gründung der Berufung bestimmt sind. Daran ändert die noch am Tag zuvor mit
Schriftsatz vom 31. Juli 2008 geäußerte Absicht, "nach Bewilligung der Pro-
zesskostenhilfe wäre dann Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
zu stellen", nichts.
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Dem Schriftsatz lassen sich auch ohne ausdrückliche Formulierung und
textliche Absonderung eines Berufungsantrags Umfang und Ziel der Berufung
durch Auslegung unter Heranziehung der Berufungsbegründung (Senatsurteil
vom 20. Juli 2005 - XII ZR 155/04 - NJW-RR 2005, 1659) hinreichend bestimmt
entnehmen (§ 520 Abs. 3 Nr. 1 ZPO). Aus dem Schlusssatz des Schriftsatzes,
wonach der Beklagten nach Ansicht des Klägers keinerlei nacheheliche Unter-
haltsansprüche zustehen, ergibt sich, dass der Kläger eine vollständige Abwei-
sung der Widerklage begehrt.
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Schließlich enthält der Schriftsatz vom 1. August 2008 auch eine hinrei-
chende Begründung (§ 520 Abs. 3 Nrn. 2, 3 ZPO). Der Kläger trägt vor, nach
seiner Ansicht hätten die Unterhaltsansprüche seiner jetzigen Ehefrau Vorrang
vor der behaupteten Forderung der Beklagten. Ehebedingte Nachteile lägen bei
der Beklagten ebenfalls nicht vor. Im Hinblick auf die lange Dauer nach Rechts-
kraft der Ehescheidung bestünden keine nachehelichen Unterhaltsansprüche
mehr.
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3. Da der Kläger seine Berufung somit rechtzeitig begründet hat, ist der
Beschluss des Oberlandesgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur weite-
ren Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückzuverwei-
sen.
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Hahne Weber-Monecke Vézina
Dose
Schilling
Vorinstanzen:
AG Dillenburg, Entscheidung vom 04.06.2008 - 2 F 872/05 -
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 27.01.2009 - 1 UF 138/08 -