Urteil des BGH vom 05.11.2004

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
IXa ZB 57/04
vom
5. November 2004
in dem Zwangsvollstreckungsverfahren
Nachschlagewerk:
ja
BGHZ:
ja
BGHR:
ja
ZPO § 850g Satz 1
Bei der Unterhaltsvollstreckung kann der nach § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO un-
pfändbare Teil des Arbeitseinkommens, über dessen Höhe im Be-
schwerdeverfahren entschieden worden ist, in entsprechender Anwendung des
§ 850g Satz 1 ZPO neu festgesetzt werden, wenn aufgrund einer erstmaligen
höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung teilweise geänderte Maßstäbe für
seine Berechnung gelten.
BGH, Beschluß vom 5. November 2004 – IXa ZB 57/04 – LG Chemnitz
AG Chemnitz
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Der IXa-Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat durch die Richter Raebel,
Athing, Dr. Boetticher, von Lienen und Zoll
am 5. November 2004
beschlossen:
Auf die Rechtsmittel des Schuldners werden der Beschluß der
3. Zivilkammer des Landgerichts Chemnitz vom 25. Februar 2004
insgesamt und der Beschluß des Amtsgerichts Chemnitz vom
22. Dezember 2003 in der Hauptsache sowie im Kostenpunkt auf-
gehoben.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten
der Rechtsmittelverfahren, an das Amtsgericht zurückverwiesen.
Wert des Rechtsbeschwerdeverfahrens: 2.631,60 €.
Gründe:
I.
Die Gläubigerinnen betreiben gegen den Schuldner, ihren Vater, aus
zwei Urkunden des Jugendamtes die Zwangsvollstreckung wegen laufenden
und rückständigen Unterhalts. Auf ihren Antrag erließ das Amtsgericht einen
Pfändungs- und Überweisungsbeschluß, durch den die Ansprüche des Schuld-
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ners aus Arbeitseinkommen gegen den Drittschuldner gepfändet und ihnen zur
Einziehung überwiesen wurden. In dem Pfändungs- und Überweisungsbe-
schluß wurde der pfändungsfreie Betrag mit monatlich 750,00 € bestimmt.
Auf die Erinnerung der Gläubigerinnen setzte das Amtsgericht mit Be-
schluß vom 7. Januar 2003 die Pfändungsfreigrenze auf 558,00 € fest, wobei
es den notwendigen Unterhalt des Schuldners im Sinne des § 850d Abs. 1
Satz 2 ZPO nach dem doppelten Sozialhilferegelsatz gemäß § 22 Bundessozi-
alhilfegesetz in Höhe von zweimal 279,00 € errechnete. Das Landgericht wies
die vom Schuldner gegen diese Entscheidung eingelegte sofortige Beschwerde
mit Beschluß vom 14. Februar 2003 und seine Gegenvorstellung mit weiterem
Beschluß vom 30. Juli 2003 zurück.
Im August 2003 hat der Schuldner gegen den Beschluß des Amtsge-
richts vom 7. Januar 2003 Erinnerung eingelegt und eine Erhöhung der Pfän-
dungsfreigrenze - auf zuletzt mindestens 783,30 € - beantragt. Zur Begründung
hat er ausgeführt, daß seit 1. Juli 2003 der Sozialhilferegelsatz 282,00 € betra-
ge und schon deshalb der pfändungsfreie Betrag auf 564,00 € (zweimal
282,00 €) anzuheben sei. Außerdem stehe die festgesetzte Pfändungsfreigren-
ze nicht in Einklang mit der inzwischen ergangenen Grundsatzentscheidung
des Bundesgerichtshofs, nach der dem Schuldner bei der erweiterten Pfän-
dung wegen Unterhaltsansprüchen als notwendiger Unterhalt gemäß § 850d
Abs. 1 Satz 2 ZPO in der Regel der notwendige Lebensunterhalt im Sinne der
Abschnitte 2 und 4 des Bundessozialhilfegesetzes verbleiben müsse (vgl.
BGH, Beschl. v. 18. Juli 2003 – IXa ZB 151/03, BGHZ 156, 30, 34 = FamRZ
2003, 1466, 1467). Daraufhin hat die Rechtspflegerin den notwendigen Selbst-
behalt des Schuldners wegen des erhöhten Sozialhilferegelsatzes auf 564,00 €
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festgesetzt und "alle übrigen Bestimmungen des Pfändungs- und Überwei
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sungsbeschlusses" aufrechterhalten.
Die hiergegen vom Schuldner eingelegte Erinnerung hat das Amtsge-
richt durch Beschluß vom 22. Dezember 2003 mit der Begründung als unzuläs-
sig zurückgewiesen, die Unpfändbarkeitsvoraussetzungen hätten sich nicht im
Sinne des § 850g Satz 1 ZPO geändert, es bestehe eine Bindung an die
rechtskräftige Entscheidung des Landgerichts vom 14. Februar 2003, bestätigt
durch Beschluß vom 30. Juli 2003. Die sofortige Beschwerde des Schuldners
blieb vor dem Landgericht ohne Erfolg. Gegen diese Entscheidung wendet sich
der Schuldner mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde.
II.
Die gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 2 ZPO statthafte und auch im
übrigen zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet.
1. Das Landgericht, dessen Auffassung sich die Gläubigerinnen in ihrer
Rechtsbeschwerdeerwiderung im wesentlichen angeschlossen haben, hat aus-
geführt: Die Pfändungsfreigrenze könne schon deshalb nicht erhöht werden,
weil über die für die Bemessung des unpfändbares Teils des Arbeitseinkom-
mens maßgeblichen tatsächlichen Umstände mit Beschluß vom 14. Februar
2003 abschließend entschieden worden sei und eine nachträgliche Änderung
der Unpfändbarkeitsvoraussetzungen im Sinne des § 850g Satz 1 ZPO nicht
vorliege. Wegen der Innenbindung des Beschlusses nach § 318 ZPO sei eine
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andere rechtliche Beurteilung der unverändert gebliebenen tatsächlichen Um-
stände nicht zulässig.
Demgegenüber vertritt die Rechtsbeschwerde die Meinung, geänderte
"Voraussetzungen für die Bemessung des unpfändbaren Teils des Arbeitsein-
kommens" im Sinne des § 850g Satz 1 ZPO seien auch bei einer neuen
Rechtslage infolge einer höchstrichterlichen Grundsatzentscheidung gegeben.
Diese Auslegung sei insbesondere im Hinblick auf den Schutz des Existenzmi-
nimums durch die Verfassung geboten. Es bestehe keine Bindung an die Be-
schlüsse des Landgerichts vom 14. Februar 2003 und vom 30. Juli 2003, weil
§ 850g Satz 1 ZPO als lex spezialis gegenüber § 318 ZPO ausdrücklich regele,
daß auf Antrag eine Anpassung des pfändungsfreien Betrages an nachträglich
veränderte Umstände erfolgen müsse. Da der Beschluß des Bundesgerichts-
hofs zur Berechnung des notwendigen Unterhalts bei der erweiterten Pfändung
erst nach den Entscheidungen des Landgerichts ergangen sei und bei diesen
nicht mehr habe berücksichtigt werden können, sei von einer nachträglichen
Änderung auszugehen.
2. Die von der Rechtsbeschwerde vertretene Auffassung ist richtig.
Die Bindungswirkung (§ 318 ZPO entsprechend) der Beschwerdeent-
scheidung des Landgerichts vom 14. Februar 2003, bestätigt durch Beschluß
vom 30. Juli 2003, steht der vom Schuldner beantragten Abänderung des pfän-
dungsfreien Betrages nicht entgegen, weil sich aufgrund der Grundsatzent-
scheidung des Senats vom 18. Juli 2003 (aaO) die Grundlagen für die Bemes-
sung des unpfändbaren Teils seines Arbeitseinkommens nachträglich geändert
haben (§ 850g Satz 1 ZPO entsprechend).
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a) Durch die landgerichtlichen Entscheidungen wurde über die Höhe des
gemäß § 850d Abs. 1 Satz 2 ZPO pfändungsfreien Betrages nicht rechtskräftig
entschieden. Denn ein Pfändungs- und Überweisungsbeschluß erwächst nicht
deshalb in Rechtskraft, weil er mit einem fristgebundenen Rechtsmittel ange-
griffen und im Beschwerdeverfahren überprüft worden ist. Vielmehr bleibt er
auch dann nur ein Vollstreckungszugriff, der der materiellen Rechtskraft nicht
fähig ist (vgl. OLG Köln FamRZ 1994, 1272, 1273).
b) Da das Abänderungsverfahren nach § 850g Satz 1 ZPO kein neues
Vollstreckungsverfahren einleitet, sondern das alte Verfahren fortsetzt (vgl.
BGH, Beschl. v. 8. März 1990 - I ARZ 152/90, Rpfleger 1990, 308), führt die in
einem vorangegangenen Beschwerdeverfahren erlassene Entscheidung über
den dem Schuldner pfändungsfrei zu belassenden Betrag grundsätzlich zur
Innenbindung der Gerichte entsprechend § 318 ZPO. Dies bedeutet aber nur,
daß die den unpfändbaren Teil des Arbeitseinkommens bestimmenden Um-
stände, über die im Beschwerdeverfahren bereits befunden worden ist, im Ab-
änderungsverfahren nicht anders beurteilt werden können, wenn sie unverän-
dert geblieben sind. Umstände, die nicht Gegenstand der Beschwerdeent-
scheidung waren, damals aber schon vorlagen, können im Abänderungsverfah-
ren berücksichtigt werden, weil § 850g Satz 1 ZPO keine dem § 323 Abs. 2
ZPO vergleichbare Präklusion von Einwendungen kennt. Der dem Schuldner
pfändungsfrei zu belassende Betrag, der im Beschwerdeverfahren bereits
überprüft worden ist, darf aufgrund eines Umstandes, der Gegenstand der vo-
rausgegangenen Beschwerdeentscheidung war, nach § 850g Satz 1 ZPO ab-
geändert werden, wenn sich dieser nachträglich, d.h. nach Erlaß der Be-
schwerdeentscheidung, verändert hat (vgl. OLG Köln aaO; Zöller/Stöber, ZPO
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24. Aufl. § 850g Rn. 2; Musielak/Becker, ZPO 3. Aufl. § 850g Rn. 2; Stöber,
Forderungspfändung 13. Aufl. Rn. 1200). In diesem Fall besteht eine Innenbin-
dung an die vorangegangene Beschwerdeentscheidung nicht.
c) Eine Anpassung des pfändungsfreien Betrages gemäß § 850g Satz 1
ZPO kommt, wovon das Landgericht im Ausgangspunkt zutreffend ausgeht, im
Regelfall nur in Betracht, wenn sich die tatsächlichen Voraussetzungen für die
Bemessung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens nachträglich ge-
ändert haben. Dabei hat es aber nicht ausreichend bedacht, daß - wie im Be-
schwerdefall - bei einer anderen rechtlichen Beurteilung unverändert gebliebe-
ner tatsächlicher Umstände infolge einer neuen höchstrichterlichen Grundsatz-
entscheidung § 850g Satz 1 ZPO entsprechend anzuwenden ist. Abgesehen
davon, daß die Grundssätze des Senatsbeschlusses vom 18. Juli 2003 nicht
Gegenstand der landgerichtlichen Entscheidungen im Beschwerdeverfahren
waren, ist von einer nachträglichen Änderung auszugehen, weil dieser erst am
21. August 2003 mit Hinausgabe an die Parteien durch die Geschäftsstelle und
damit nach der letzten Beschwerdeentscheidung des Landgerichts vom 30. Juli
2003 erlassen worden ist. Das Beschlußdatum ist beim Erlaß im schriftlichen
Verfahren nicht maßgebend (vgl. BGH, Urt. v. 1. April 2004 - IX ZR 117/03,
BGH-Report 2004, 1053). Unter diesen Umständen hätte, wie vom Schuldner
beantragt, der pfändungsfreie Betrag, der ihm bei der erweiterten Pfändung als
notwendiger Unterhalt verbleiben muß, unter Beachtung der vom Senat aufge-
stellten Grundssätze neu berechnet und gegebenenfalls abgeändert werden
müssen.
Als geänderte "Voraussetzungen für die Bemessung des unpfändbaren
Teils des Arbeitseinkommens" im Sinne des § 850g Satz 1 ZPO kommen in
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erster Linie tatsächliche Veränderungen - wie die Geburt oder der Tod eines
Unterhaltsberechtigten, der Wegfall der Unterhaltsbedürftigkeit eines An-
spruchsberechtigten oder Erhöhungen/Minderungen des Arbeitseinkommens
(vgl. Wieczorek/Schütze/Lüke, ZPO 3. Aufl. § 850g Rn. 3; Zöller/Stöber, aaO
§ 850g Rn. 1; Musielak/Becker, aaO § 850g Rn. 2; Stöber, aaO Rn. 1201) - in
Betracht. Auch die Änderung eines Gesetzes, das keine Übergangsvorschriften
enthält, ist als Grund für die Abänderung des pfändungsfreien Betrages aner-
kannt (vgl. Stein/Jonas/Brehm, ZPO 21. Aufl. § 850g Rn. 13; Wieczorek/Schüt-
ze/Lüke, aaO § 850g Rn. 4). Dasselbe gilt für die verfassungskonforme Ausle-
gung einer Rechtsvorschrift durch das Bundesverfassungsgericht, weil dies mit
einer Gesetzesänderung vergleichbar ist (vgl. BGH, Urt. v. 12. Juli 1990
- XII ZR 85/89, NJW 1990, 3020, 3022 zu § 323 ZPO).
In entsprechender Anwendung des § 850g Satz 1 ZPO ist ein Abände-
rungsgrund jedenfalls auch dann gegeben, wenn sich - wie hier - infolge einer
erstmals möglichen höchstrichterlichen Leitentscheidung die rechtlichen Maß-
stäbe zur Berechnung des pfändungsfreien Betrages vereinheitlicht und teil-
weise verändert haben (zu der streitigen Rechtsfrage, ob eine Abänderungs-
klage gemäß § 323 ZPO bei einer Änderung der höchstrichterlichen Recht-
sprechung zulässig ist, vgl. BGHZ 148, 368, 380; BGH, Urt. v. 5. Februar 2003
- XII ZR 29/00, FamRZ 2003, 848, 851 f für Prozeßvergleiche und Urt. v.
9. Juni 2004 – XII ZR 308/01, NJW 2004, 3106). Dies folgt aus Sinn und Zweck
des § 850g Satz 1 ZPO. Bei der Pfändung des laufenden Arbeitseinkommens
eines Unterhaltsschuldners wird der pfändungsfreie Betrag aufgrund der Ver-
hältnisse zum Zeitpunkt der Entscheidung für einen längeren, in die Zukunft
gerichteten Zeitraum, also aufgrund einer Prognose, festgesetzt. Nachträglich
eintretende Veränderungen der Bemessungsgrundlagen würden im Regelfall
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zu einer unhaltbaren Ungerechtigkeit zum Nachteil des Gläubigers, des
Schuldners oder eines von der Pfändung betroffenen Dritten führen, wenn sie
bei der zukünftigen Vollstreckung unberücksichtigt blieben und deshalb die
Pfändungsfreigrenze zu hoch oder zu niedrig festgesetzt wäre. Daher ermög-
licht § 850g Satz 1 ZPO eine Anpassung des Pfändungs- und Überweisungs-
beschlusses
an
die
veränderten
Umstände
(vgl.
Baum-
bach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO 62. Aufl. § 850g Rn. 2). Es ist kein
Grund ersichtlich, die Anpassung an eine neue höchstrichterliche Rechtspre-
chung zur Berechnung des unpfändbaren Teils des Arbeitseinkommens abzu-
lehnen. Diese schafft faktisch eine neue Rechtslage und hat für die betroffenen
Beteiligten vergleichbar gravierende Auswirkungen wie die Veränderung tat-
sächlicher Umstände, eine Gesetzesänderung oder die verfassungskonforme
Auslegung einer Vorschrift durch das Bundesverfassungsgericht. Eine Mög-
lichkeit zur Änderung von Lohnpfändungen entsprechend § 850g Satz 1 ZPO
erscheint insbesondere auch im Hinblick auf den durch Art. 1 i.V.m. Art. 20
Abs. 1 GG garantierten Schutz des Existenzminimums, das für die Führung
eines menschenwürdigen Dasein benötigt wird (vgl. BVerfG NJW 1999, 561,
562 zum steuerrechtlichen Existenzminimum), geboten. Ansonsten bestünde
die Gefahr, daß der Schuldner durch den staatlichen Pfändungsakt auf unbe-
stimmte Zeit über das von der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu konkreti-
sierende Existenzminimum hinaus belastet wird. Denn das, was dem Unter-
haltsschuldner als notwendiger Unterhalt im Sinne des § 850d Abs. 1 Satz 2
ZPO verbleiben muß, ist nichts anderes als eine Konkretisierung des Exi-
stenzminimums.
3. Das Amtsgericht wird nunmehr unter Abstandnahme von seinen bis-
herigen Bedenken über den Abänderungsantrag des Schuldners unter Beach-
tung der Grundsätze des Senatsbeschlusses vom 18. Juli 2003 (aaO) neu zu
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befinden haben (§ 577 Abs. 4, § 572 Abs. 3 ZPO). Aufgrund des unvollständi-
gen Vortrags des Schuldners, zu dessen Ergänzung er vom Amts- und Landge-
richt nicht aufgefordert worden ist (§ 139 ZPO), kann der Senat nicht ab-
schließend entscheiden, ob der festgesetzte pfändungsfreie Betrag von
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564,00 € dem notwendigen Lebensunterhalt im Sinne der Abschnitte 2 und 4
des Bundessozialhilfegesetzes entspricht, der dem Schuldner bei der erweiter-
ten Pfändung in der Regel als notwendiger Unterhalt verbleiben muß.
Raebel
Athing
Boetticher
von Lienen
Zoll