Urteil des BGH vom 09.06.2009

Leitsatzentscheidung

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
4 StR 170/09
vom
9. Juni 2009
in der Strafsache
gegen
Nachschlagewerk: ja
BGHSt: nein
Veröffentlichung: ja
StPO § 136 Abs. 1 Satz 2
Zur Belehrungspflicht bei sog. Spontanäußerungen eines Ver-
dächtigen
BGH, Beschluss vom 9. Juni 2009 – 4 StR 170/09 – LG Paderborn
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wegen versuchten Totschlags u.a.
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Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf Antrag des Generalbundes-
anwalts und nach Anhörung des Beschwerdeführers am 9. Juni 2009 gemäß
§ 349 Abs. 2 StPO beschlossen:
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des
Landgerichts Paderborn vom 19. Dezember 2008 wird
als unbegründet verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels
und die dem Nebenkläger entstandenen notwendigen
Auslagen zu tragen.
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Totschlags in
Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier
Jahren und sechs Monaten verurteilt, seine Unterbringung in einer Entzie-
hungsanstalt angeordnet und bestimmt, dass von der Strafe ein Jahr und drei
Monate vor der Unterbringung zu vollziehen sind. Mit seiner Revision rügt der
Angeklagte die Verletzung formellen und sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel
ist aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts unbegründet
im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
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Der Erörterung bedarf lediglich die Verfahrensrüge, soweit die Revision
mit ihr beanstandet, die Strafkammer habe Angaben des Angeklagten gegen-
über der Polizei, insbesondere solche aus Anlass seiner Vernehmung am
22. August 2008, verwertet, ohne dass dieser gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO
belehrt worden sei.
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1. Die Revision trägt hierzu folgenden Verfahrensablauf vor:
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Noch in der Tatnacht habe der Angeklagte in Begleitung seiner Ehefrau
die Polizeiwache in D. aufgesucht, um sich zu stellen. Ohne vorherige
Belehrung über seine Rechte als Beschuldigter habe er die Tat zugegeben,
woraufhin er wegen des dringenden Verdachts eines Tötungsdelikts vorläufig
festgenommen worden sei. Er sei dann mit einem Polizei-Pkw zur Kreispolizei-
behörde in H. gebracht worden und habe auf der Fahrt gegenüber den Po-
lizeibeamten Einzelheiten des Tatgeschehens geschildert. Erst dort seien ihm
nach ärztlicher Feststellung seiner Vernehmungsfähigkeit von den Kriminalbe-
amten L. und R. unter erneuter Eröffnung des Tatvorwurfs seine Rech-
te als Beschuldigter erläutert worden. Der Angeklagte habe daraufhin erklärt,
den Polizeibeamten doch schon alles gesagt zu haben; er wolle jetzt keine
Aussage mehr machen, sondern alles über seinen Anwalt regeln. Von dem
Kriminalbeamten L. sinngemäß darauf hingewiesen, eine mögliche Aussage
könne auch seiner Entlastung dienen und entlastende Angaben könnten bei der
- zum damaligen Zeitpunkt noch andauernden - Spurensuche am Tatort be-
rücksichtigt werden, habe der Angeklagte geäußert, dann könne er auch jetzt
einfach alles erzählen. Die umfangreichen Angaben des Angeklagten wurden
sodann von den vernehmenden Beamten in einem Vermerk niedergelegt.
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Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten, er habe den Ge-
schädigten zu keinem Zeitpunkt lebensbedrohlich verletzen wollen, sondern
sich lediglich gegen dessen Schläge und Tritte gewehrt, als widerlegt angese-
hen. Seine Überzeugung, der Angeklagte habe mit seinem Messer zielgerichtet
und deshalb zumindest mit bedingtem Tötungsvorsatz auf den Oberkörper des
Geschädigten eingestochen, hat es auch auf die Bekundungen der in der
Hauptverhandlung vernommenen Kriminalbeamtin R. gestützt. Diese hat in
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der Hauptverhandlung u.a. über die in ihrem Vermerk niedergelegten Angaben
des Angeklagten vom 22. August 2008 ausgesagt. Insoweit hat der Angeklagte
der Vernehmung widersprochen und einen Gerichtsbeschluss herbeigeführt.
2. Allerdings hätte der Angeklagte, wie die Revision zutreffend ausführt,
nicht erst durch die Kriminalbeamten L. und R. , sondern schon zu einem
früheren Zeitpunkt gemäß § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO belehrt werden müssen.
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Gegen die Verwertung der Aussage der Kriminalbeamtin R. auch
hinsichtlich der Angaben des Angeklagten in der Beschuldigtenvernehmung
vom 22. August 2008 bestehen keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
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a) Die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz 2 StPO soll sicherstellen, dass
ein Beschuldigter nicht im Glauben an eine vermeintliche Aussagepflicht Anga-
ben macht und sich damit unfreiwillig selbst belastet (vgl. BGHSt [GS] 42, 139,
147; BayObLG NStZ-RR 2001, 49, 51). Für den Fall der von einem Polizeibe-
amten durchgeführten Befragung von Auskunftspersonen ist nach der gefestig-
ten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum einen die Stärke des Tatver-
dachts, den der Beamte gegenüber dem Befragten hegt, bedeutsam für die
Entscheidung, von welchem Zeitpunkt an die Belehrung nach § 136 Abs. 1 Satz
2 StPO erforderlich ist (BGHSt 38, 214, 227 f.). Hierbei hat der Beamte einen
Beurteilungsspielraum, den er freilich nicht mit dem Ziel missbrauchen darf, den
Zeitpunkt der erforderlichen Belehrung möglichst weit hinauszuschieben (BGH
aaO; vgl. auch BGH NStZ 1983, 86). Daneben ist zum anderen von Bedeutung,
wie sich das Verhalten des Beamten aus Sicht des Befragten darstellt. Polizeili-
che Verhaltensweisen wie die Mitnahme eines Befragten zur Polizeiwache, die
Durchsuchung seiner Wohnung oder seine vorläufige Festnahme belegen dabei
schon ihrem äußeren Befund nach, dass der Polizeibeamte dem Befragten als
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Beschuldigten begegnet, mag er dies auch nicht zum Ausdruck bringen (BGHSt
38, 214, 228; 51, 367, 370 f.).
Ob die vorstehend dargelegten Grundsätze ohne Einschränkung auch
dann gelten, wenn der Polizeibeamte keine gezielte Befragung durchführt, son-
dern lediglich passiv spontane Äußerungen eines Dritten entgegennimmt, mit
denen sich dieser selbst belastet, ist in der Rechtsprechung bislang nicht ab-
schließend geklärt. Eine Verwertbarkeit solcher Äußerungen trotz fehlender Be-
lehrung über die Beschuldigtenrechte wird in der Regel für zulässig gehalten,
wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Belehrungspflichten nach
§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163 a Abs. 2 Satz 2 StPO gezielt umgangen wurden, um
den Betroffenen zu einer Selbstbelastung zu verleiten (BGH NStZ 1983, 86;
BGH NJW 1990, 461; vgl. auch BayObLG aaO; OLG Oldenburg NStZ 1995,
412; Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 136 a Rn. 16; Meyer-Goßner,
StPO 52. Aufl. § 136 a Rn. 4).
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b) Dieses erschiene jedoch zumindest dann bedenklich, wenn sich - wie
hier von der Verteidigung behauptet - Polizeibeamte von einem Tatverdächtigen
nach pauschalem Geständnis einer schweren Straftat und der unmittelbar dar-
auf erfolgten Festnahme über eine beträchtliche Zeitspanne Einzelheiten der
Tat berichten ließen, ohne den von ihnen ersichtlich als Beschuldigten behan-
delten Täter auf sein Aussageverweigerungsrecht hinzuweisen. Ein solches
Verhalten käme einer gezielten Umgehung zumindest äußerst nahe.
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Einer näheren Aufklärung des Verhaltens der Polizeibeamten im Freibe-
weisverfahren bedarf es jedoch nicht, da das Urteil auf einem etwaigen Verfah-
rensverstoß nicht beruht. Die Angaben des Angeklagten gegenüber den Poli-
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zeibeamten bis zu seiner Ankunft in der Kreispolizeibehörde H. hat das
Landgericht der Urteilsfindung nicht zu Grunde gelegt.
3. Gegen die Verwertung der Aussage der Zeugin R. bestehen zu-
mindest im Ergebnis keine Bedenken.
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a) Zwar hätte der Angeklagte - den Verfahrensverstoß unterstellt - zu
Beginn seiner Beschuldigtenvernehmung durch die Kriminalbeamten L. und
R. am 22. August 2008 zusammen mit der Belehrung nach § 136 Abs. 1
Satz 2 StPO darauf hingewiesen werden müssen, dass wegen der bis dahin
unterbliebenen Belehrung die zuvor gemachten Angaben unverwertbar seien
(sog. qualifizierte Belehrung; vgl. BGH StV 2007, 450, 452, insoweit in BGHSt
51, 369 nicht abgedruckt; Senatsbeschluss NStZ 2009, 281). Daraus, dass dies
nicht geschehen ist, würde jedoch nicht ohne Weiteres folgen, dass auch die
Angaben, die der Angeklagte nach erfolgter Belehrung über seine Rechte als
Beschuldigter gegenüber den beiden Vernehmungsbeamten gemacht hat, ei-
nem Beweiserhebungs- und Verwertungsverbot unterlagen. Nach der neueren
Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs soll die in einem solchen Fall erforder-
liche (qualifizierte) Belehrung verhindern, dass ein Beschuldigter auf sein Aus-
sageverweigerungsrecht nur deshalb verzichtet, weil er möglicherweise glaubt,
eine frühere, unter Verstoß gegen die Belehrungspflicht aus § 136 Abs. 1 Satz
2 StPO zustande gekommene Selbstbelastung nicht mehr aus der Welt schaf-
fen zu können. Da der Verstoß gegen die Pflicht zur qualifizierten Belehrung
nicht dasselbe Gewicht wie der Verstoß gegen die Belehrung nach § 136 Abs. 1
Satz 2 StPO hat, ist in einem solchen Fall die Verwertbarkeit der weiteren Aus-
sagen nach erfolgter Beschuldigtenbelehrung durch Abwägung im Einzelfall zu
ermitteln (BGH StV 2007, 450, 452; Senatsbeschluss aaO). Die Abwägung ist
unter Berücksichtigung des Interesses an der Sachaufklärung einerseits sowie
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des Gewichts des Verfahrensverstoßes andererseits vorzunehmen (Senatsbe-
schluss aaO m.w.Nachw.). Sie ergibt hier, dass das Landgericht an einer Ver-
wertung nicht gehindert war.
b) Eine bewusste Umgehung der Belehrungspflichten auf der Polizeiwa-
che in D. sowie auf dem Transport des Angeklagten nach H. ist nicht
ersichtlich und wird auch von der Revision nicht behauptet. Es spricht auch
nichts dafür, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt der Belehrung über seine
Rechte als Beschuldigter annahm, er könne von seinen Angaben gegenüber
den im Polizei-Pkw anwesenden Beamten nicht mehr abrücken. Die anfänglich
fehlende Aussagebereitschaft des Angeklagten sowie sein Hinweis auf die von
ihm gewünschte Einschaltung eines Rechtsanwalts sind für eine solche An-
nahme ebenso wenig tragfähig wie seine Bemerkung, "dann könne er auch al-
les erzählen". Vielmehr rechtfertigt das von der Revision mitgeteilte Verfahrens-
geschehen die Annahme des Landgerichts, wonach die Vernehmungsbeamten
dieser Äußerung des Angeklagten dessen freiwilligen Entschluss entnehmen
durften, nunmehr umfassend auszusagen.
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Zu einer solchen Aussage ist der Angeklagte auch nicht in unzulässiger
Weise gedrängt worden. Weder die Strafprozessordnung noch der verfassungs-
rechtlich verankerte Grundsatz eines fairen Verfahrens verbieten es, eine Ver-
nehmung im Anschluss an eine anfängliche Aussageverweigerung fortzusetzen,
solange nicht mit verbotenen Mitteln auf die Willensfreiheit des zu Vernehmen-
den und die Durchsetzbarkeit seines Aussageverweigerungsrechts eingewirkt
wird (BGHSt 42, 170). Solche Mittel haben die Vernehmungsbeamten nicht ein-
gesetzt. Die Bemerkung des Kriminalbeamten L. zur möglicherweise entlas-
tenden Wirkung einer Aussage, verbunden mit dem Hinweis auf die Möglichkeit
der Verifikation von Einzelheiten während der noch andauernden Spurensuche
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am Tatort, stellte ersichtlich keine Irreführung dar. Es handelte sich vielmehr um
einen neutralen, nach Lage der Dinge zumindest nicht fern liegenden Hinweis
auf die möglichen Nachteile des Schweigens. Der Angeklagte, der sich einem
schweren Tatvorwurf ausgesetzt sah, war so in der Lage, die möglichen Vortei-
le einer Verteidigung durch Einlassung zur Sache zu erfassen und zwischen
Aussage und Schweigen eine informierte Entscheidung zu treffen (vgl. dazu
Gleß in Löwe/Rosenberg, StPO 26. Aufl. § 136 Rn. 34).
Tepperwien Athing Solin-Stojanović
Ernemann Franke