Urteil des BGH vom 04.08.2008

BGH (überwiegendes interesse, vollstreckung, zwangsvollstreckung, zpo, umstand, antrag, höhe, unterlagen, begründung, sicherheit)

BUNDESGERICHTSHOF
BESCHLUSS
EnZR 15/08
vom
4. August 2008
in dem Rechtsstreit
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Der Kartellsenat des Bundesgerichtshofs hat am 4. August 2008 durch den
Präsidenten des Bundesgerichtshofs Prof. Dr. Tolksdorf, den Vorsitzenden Richter
Prof. Dr. Bornkamm und die Richter Dr. Raum, Dr. Kirchhoff und Dr. Grüneberg
beschlossen:
Der Antrag der Beklagten, die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des
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Kartellsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom
29. Januar 2008 einstweilen einzustellen, wird abgelehnt.
Gründe:
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I. Die Parteien streiten über die Berechtigung der Klägerin zur Übernahme
des Gasversorgungsnetzes der allgemeinen Versorgung auf dem Gebiet der Ge-
meinde B. . Das Berufungsgericht hat mit dem Urteil, das die Beklagte mit
der Revision anfechten möchte, festgestellt, dass die Beklagte Zug-um-Zug gegen
eine zu bestimmende Vergütung seit dem 1. Januar 2006 verpflichtet ist, das Ei-
gentum an den Verteilungsanlagen und alle zu deren Betrieb notwendigen schuld-
rechtlichen und dinglichen Grundstücksbenutzungsrechte an die Klägerin zu über-
tragen sowie notwendige Unterlagen für den Betrieb des Gasnetzes herauszuge-
ben. Die Beklagte ist durch das Berufungsurteil ferner verurteilt worden, der Kläge-
rin Auskunft hinsichtlich des Mengengerüsts der Verteilungsanlagen zu erteilen
und bestimmte Unterlagen für die Ermittlung einer gegebenenfalls erforderlichen
Netzentflechtung und eines Netzzugangsentgelts herauszugeben. Die in Rede
stehenden Informationen und Unterlagen sind unter I 2 bis 4 des Urteilsaus-
spruchs näher bezeichnet. Das Berufungsgericht hat das Urteil für vorläufig voll-
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streckbar erklärt. Der Beklagten ist nachgelassen worden, eine Vollstreckung der
Klägerin wegen der Kosten durch Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110% des
zu vollstreckenden Betrags und im Übrigen gegen Sicherheitsleistung in Höhe von
25.000 € abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in
gleicher Höhe leistet.
Das Berufungsgericht hat die Revision der Beklagten nicht zugelassen. Hier-
gegen wendet sich die Beklagte mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Sie bean-
tragt,
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die Zwangsvollstreckung aus dem Urteil des Oberlandesgerichts Frank-
furt am Main vom 29. Januar 2008 einstweilen einzustellen.
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Zur Begründung macht sie geltend, zwischen der Klägerin und ihr habe Ei-
nigkeit bestanden, das Verfahren als Musterprozess zu führen. Mit der Herausga-
be der verlangten Informationen und Daten müsse sie Geschäfts- und Betriebsge-
heimnisse offenbaren. Dadurch werde ihre durch Art. 12 und 14 GG gewährleiste-
te Position irreparabel entwertet.
II. Der Antrag der Beklagten, die Zwangsvollstreckung einstweilen einzu-
stellen, ist nicht begründet.
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Das Gesetz knüpft die Einstellung der Zwangsvollstreckung im Revisionsver-
fahren an besonders strenge Voraussetzungen. Sie kommt nur in Betracht, wenn
auf der einen Seite die Vollstreckung dem Schuldner einen nicht zu ersetzenden
Nachteil bringen würde und wenn auf der anderen Seite kein überwiegendes Inter-
esse des Gläubigers entgegensteht (§ 719 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Darüber hinaus
entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass die
Einstellung nach § 719 Abs. 2 ZPO regelmäßig dann zu versagen ist, wenn der
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Schuldner es versäumt hat, im Berufungsrechtszug einen ihm möglichen und zu-
mutbaren Vollstreckungsschutzantrag nach § 712 ZPO zu stellen (BGH, Beschl. v.
25.9.2007 – KZR 24/07, DGVZ 2007, 380 Tz. 4 m.w.N.).
Diese – negative – Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Beklagte hat in der
mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht am 13. November 2007 kei-
nen Vollstreckungsschutzantrag nach § 712 ZPO gestellt, obwohl es ihr möglich
und zumutbar gewesen wäre, die nunmehr zur Begründung angeführten Umstän-
de schon damals vorzutragen und glaubhaft zu machen.
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Die Beklagte trägt hierzu vor, sie habe darauf vertraut, dass die Klägerin
nicht entgegen der Vereinbarung der Parteien, einen Musterprozess zu führen,
aus einem für vorläufig vollstreckbar erklärten Urteil vollstrecken würde. Im Fall ei-
ner Auskunftserteilung würde die Klägerin – so trägt die Beklagte vor – Kenntnis
von allen technischen Einzelheiten des bestehenden Gasnetzes der Gemeinde
B. erhalten. Sie werde damit in die Lage versetzt zu bewerten, welche Kun-
den wirtschaftlich so interessant seien, dass der Bau alternativer Stichkanäle in
Betracht zu ziehen sei; außerdem erhalte die Klägerin auf diese Weise Einblick in
die individuelle Kostensituation der Beklagten und erfahre wichtige technische
Einzelheiten.
Dieser Vortrag reicht nicht aus, um darzulegen, dass ein Vollstreckungs-
schutzantrag nach § 712 ZPO nicht aussichtsreich hätte begründet werden kön-
nen. Die Beklagte durfte auch nicht darauf vertrauen, dass ein solcher Antrag nicht
erforderlich sein würde. Allein der Umstand, dass es sich nach der Vorstellung der
Parteien um ein Musterverfahren handeln sollte, rechtfertigt ein solches Vertrauen
nicht. Eine weitergehende Vereinbarung der Parteien hat die Beklagte nicht darge-
tan. Insbesondere hat sie nicht vorgetragen, dass die Parteien vereinbart haben,
bis zur Rechtskraft einer Entscheidung auf die Zwangsvollstreckung zu verzichten.
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Ein solcher Verzicht lässt sich nicht dem Umstand entnehmen, dass zwischen den
Parteien Einigkeit bestand, das Verfahren als Musterverfahren zur Klärung be-
stimmter Rechtsfragen zu führen. Insofern ist der Streitfall nicht vergleichbar mit
der Fallkonstellation, der der von der Beklagten angeführten Entscheidung des
Bundesgerichtshofs vom 23. Mai 2006 – VIII ZR 28/06, NJW-RR 2007, 11 – zu-
grunde lag.
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Dem Antrag der Beklagten verhilft auch der Umstand nicht zum Erfolg, dass
die vorläufige Vollstreckung eines auf Erteilung einer Auskunft gerichteten Urteils
insoweit endgültig ist, als sich das einmal erlangte Wissen nicht zurückholen lässt.
Denn dieses Risiko ist jeder Vollstreckung aus einem Titel auf Auskunftserteilung
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immanent und musste daher der Beklagten auch schon während des Berufungs-
verfahrens gegenwärtig sein. Allein der Umstand, dass die Vollstreckung das Pro-
zessergebnis vorwegnehmen würde, stellt keinen unersetzlichen Nachteil dar
(BGH, Beschl. v. 9.11.1995 – I ZR 220/95, GRUR 1996, 78 = WRP 1996, 107 –
Umgehungsprogramm, m.w.N.).
Tolksdorf
Bornkamm
Raum
Kirchhoff
Grüneberg
Vorinstanzen:
LG Darmstadt, Entscheidung vom 24.04.2007 - 14 O 494/06 -
OLG Frankfurt/Main, Entscheidung vom 29.01.2008 - 11 U 19/07 (Kart.) -