Urteil des BFH vom 29.06.2018

Zur Sachaufklärungspflicht des FG bei Anfechtung der Steuerberaterprüfung wegen eines angeblich eingeschlafenen Prüfers

BUNDESFINANZHOF Beschluss vom 29.6.2018, VII B 189/17
ECLI:DE:BFH:2018:B.290618.VIIB189.17.0
Zur Sachaufklärungspflicht des FG bei Anfechtung der
Steuerberaterprüfung wegen eines angeblich eingeschlafenen Prüfers
Leitsätze
1. NV: Macht der Bewerber geltend, ein Prüfer habe während der
mündlichen Prüfung geschlafen, können keine Angaben verlangt werden,
wie lange der Prüfer geschlafen habe und welche Vorgänge ihm deshalb
entgangen seien.
2. NV: Die Rechtsprechung zur mangelhaften Besetzung des Gerichts bei
einem schlafenden Richter ist nicht ohne Weiteres auf den Fall eines
angeblich eingeschlafenen Prüfers übertragbar. In der Prüfungssituation
kommt es unter Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit nicht
auf die Dauer der Schlafanzeichen an. Zweifel und Unsicherheiten
müssen ausgeschlossen sein.
3. NV: Die Verwertung einer schriftlichen Stellungnahme reicht nicht aus,
wenn der Bewerber die Vernehmung der Prüfer als Zeugen beantragt.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird
das Urteil des Finanzgerichts Hamburg vom 12. Oktober 2017 1 K 54/15
aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Hamburg zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des
Beschwerdeverfahrens übertragen.
Gründe
1 Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der
Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das
Finanzgericht (FG) zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung
(FGO).
2 Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO liegen vor. Die
Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat mit ihrem
Vorbringen, das FG sei seiner Sachaufklärungspflicht nicht
nachgekommen, einen Verfahrensmangel geltend gemacht, der
auch vorliegt und auf dem die Vorentscheidung beruhen kann.
3 Das FG hat gegen seine Sachaufklärungspflicht nach § 76 Abs. 1
Satz 1 FGO verstoßen, konkret gegen den Grundsatz der
Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gemäß § 81 Abs. 1 Satz 1
FGO. Es hätte die Mitprüflinge und die Prüfungskommission zu
der Behauptung, die Prüfer X und Y seien in der mündlichen
Prüfung während der Prüfungsteile Z und W eingeschlafen, als
Zeugen vernehmen müssen, wie von der Klägerin schriftsätzlich
mehrfach beantragt.
4 Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das
FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel
vermeiden will (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom
21. Dezember 2005 I B 249/04, BFH/NV 2006, 780). Allerdings ist
das FG nicht verpflichtet, unsubstantiierten Beweisanträgen
nachzugehen (z.B. BFH-Beschlüsse vom 2. August 2006
IX B 58/06, BFH/NV 2006, 2117; vom 2. März 2006 XI B 79/05,
BFH/NV 2006, 1132; vom 22. Juni 2016 III B 134/15, BFH/NV
2016, 1571). In welchem Maß eine solche Substantiierung zu
fordern ist, hängt vom Umfang der Mitwirkungspflicht des
Beteiligten im Einzelfall (BFH-Beschluss vom 12. März 2014
XI B 97/13, BFH/NV 2014, 1062) bzw. davon ab, wessen
Wissens- und Einflussbereich die Tatsachen zuzurechnen sind
(BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 10/14, BFHE 250, 145, BStBl
II 2015, 940).
5 Unter Anwendung dieser Grundsätze hat das FG die
Anforderungen an den Vortrag der Klägerin überspannt.
6 Die Klägerin hatte im Rahmen des Erörterungstermins am
20. Januar 2016 vorgetragen, die Prüfer X und Y seien in den
Prüfungsabschnitten zur Z und zur W eingeschlafen. Sie hätten
die Augen geschlossen und ihre Köpfe seien nach vorn gefallen.
Dieser Vortrag ist ausreichend. Die Klägerin musste nicht --wie
vom FG verlangt-- darüber hinaus vortragen, wie lange die Prüfer
dem Prüfungsgeschehen nicht folgen konnten und welche
Vorgänge ihnen entgangen seien (Rz 183 im FG-Urteil). Es ist in
der besonderen Prüfungssituation nicht zu verlangen, dass ein
Prüfling derartige Aufzeichnungen anfertigt. Das würde bedeuten,
dass er bereits zu diesem Zeitpunkt für eventuelle Rechtsmittel
Vorsorge schafft.
7 Die Prüfungssituation ist nicht mit der allgemeinen Situation in
einer mündlichen Verhandlung vor einem Gericht vergleichbar.
Deshalb kann die vom FG zitierte Rechtsprechung (Rz 180 im
FG-Urteil) zur mangelhaften Besetzung bei einem schlafenden
Richter nicht ohne Weiteres auf den vorliegenden Fall übertragen
werden. Die BFH-Rechtsprechung fordert sichere Anzeichen für
das Schlafen wie beispielsweise tiefes, hörbares und
gleichmäßiges Atmen oder gar Schnarchen oder eindeutige
Anzeichen von fehlender Orientierung (vgl. BFH-Beschlüsse vom
16. Juni 2009 X B 202/08, BFH/NV 2009, 1659; vom 17. Februar
2011 IV B 108/09, BFH/NV 2011, 996; vom 27. April 2011
III B 62/10, BFH/NV 2011, 1379).
8 In der Prüfungssituation ist der Grundsatz der Chancengleichheit
als prüfungsrechtliche Ausprägung des allgemeinen
Gleichheitssatzes zu beachten (Senatsurteil vom 20. Juli 1999
VII R 111/98, BFHE 189, 280, BStBl II 1999, 803). Die
Chancengleichheit ist verletzt, wenn die konkrete Ausgestaltung
des Prüfungsverfahrens zur Folge haben kann, dass das
Leistungsvermögen des Prüflings beeinträchtigt und dieser damit
gegenüber anderen Prüflingen in einer vergleichbaren
Prüfungssituation benachteiligt ist (vgl. Senatsurteil vom 10. März
1992 VII R 87/90, BFHE 167, 480, 482, BStBl II 1992, 634,
m.w.N.), wenn sich also nicht ausschließen lässt, dass die
Prüfungsbedingungen wesentlich dazu beigetragen haben, dass
der Prüfling kein besseres Prüfungsergebnis erzielt hat (vgl.
Senatsurteil vom 27. Juli 1993 VII R 11/93, BFHE 172, 254, BStBl
II 1994, 259, und in BFHE 189, 280, BStBl II 1999, 803). Unter
Anwendung dieser Grundsätze kommt es auf die Dauer der
Schlafanzeichen nicht an, weil der Prüfling bereits verunsichert
sein kann, wenn wegen äußerer Anzeichen anzunehmen ist, dass
ein Prüfer schläft, und weil einem Prüfer auch im Fall eines nur
kurz währenden Schlafs für die Bewertung wichtige Vorgänge
entgehen können. Unter dem Gesichtspunkt der
Chancengleichheit muss gewährleistet sein, dass solche Zweifel
und Unsicherheiten ausgeschlossen sind. Die Klägerin hat
schließlich zutreffend auf die Bedeutung von Art. 12 des
Grundgesetzes (GG) verwiesen. Die Klägerin hat aufgrund ihres
durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Rechtes, den Beruf eines
Steuerberaters zu ergreifen, ein subjektives öffentliches Recht
("Anspruch"), dass eine Prüfungsentscheidung, die ihr jenen
Qualifikationsnachweis versagt, nicht auf der Grundlage eines
Prüfungsverfahrens getroffen wird, in dem der Grundsatz der
Chancengleichheit in einer Weise verletzt worden ist, die sich auf
das Ergebnis der Prüfung ausgewirkt haben kann (Senatsurteil in
BFHE 189, 280, BStBl II 1999, 803).
9 Ist danach die Vernehmung der Zeugen erforderlich, reicht es
nicht aus --wie vorliegend geschehen-- eine schriftliche
Stellungnahme des Prüfungsausschusses einzuholen. Darin liegt
ein Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der
Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Grundsatz der
Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme gilt zwar nicht ausnahmslos.
Das mittelbare Beweismittel kann verwendet werden, wenn die
Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig
oder unzumutbar erscheint oder wenn die Beteiligten der
Berücksichtigung des mittelbaren Beweismittels nicht
widersprechen (Senatsurteil vom 26. April 1988 VII R 124/85,
BFHE 153, 463, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern 1988,
297, m.w.N.). Im Urteil muss zum Ausdruck kommen, dass der
unterschiedliche Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis
gesehen und berücksichtigt wurde (BFH-Beschluss vom 26. Juli
2010 VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096; Senatsbeschluss vom
12. Januar 2016 VII B 111/15, BFH/NV 2016, 579). Bereits daran
fehlt es. Im Übrigen hatte die Klägerin noch mit Schriftsatz vom
11. Oktober 2017 den Antrag wiederholt, die Prüfungskommission
zu laden. Sie war mithin nicht mit der Verwendung des mittelbaren
Beweises einverstanden.
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Die Klägerin hat ihr Rügerecht nicht nach § 155 FGO i.V.m. § 295
der Zivilprozessordnung (ZPO) verloren, weil ihr Prozessvertreter
die Sitzung nach Ablehnung des Befangenheitsantrags verlassen
hat. Zwar ist die Verletzung der aus § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO
folgenden Sachaufklärungspflicht ein verzichtbarer
Verfahrensmangel (§ 155 FGO i.V.m. § 295 ZPO), bei dem das
Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente
Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren geht, sondern
auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge. Ein
Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht liegt aber trotz
unterlassener Rüge vor, wenn das FG --wie hier-- eine konkrete
Möglichkeit, den entscheidungserheblichen Sachverhalt
aufzuklären, nicht genutzt hat, obwohl sich ihm die Notwendigkeit
der weiteren Aufklärung auch ohne Antrag nach Lage der Akten
und dem Ergebnis der Verhandlung hätte aufdrängen müssen
(vgl. u.a. BFH-Beschlüsse vom 17. März 2010 X B 95/09, BFH/NV
2010, 1827; vom 3. April 2007 I B 151, 152/06, BFH/NV 2007,
1671). Die Klägerin hatte in ihrer Beschwerde darauf hingewiesen,
dass das FG im Rahmen seiner Amtsermittlung die Zeugen hätte
laden müssen. Hinzu kommt, dass das FG begründet hat,
weshalb es von der Beweiserhebung abgesehen hat. Denn es hat
ausgeführt, der Vortrag der Klägerin sei nicht hinreichend
substantiiert (Rz 183 im FG-Urteil). In einem derartigen Fall bedarf
es keiner Rüge in der mündlichen Verhandlung, weil aus dem
Urteil selbst hervorgeht, dass dem FG die Existenz des
übergangenen Beweismittels bewusst war (BFH-Beschlüsse vom
29. Juni 2011 X B 242/10, BFH/NV 2011, 1715; vom
26. November 2008 IX B 122/08, BFH/NV 2009, 600; vom
28. Februar 2018 V B 145/16, BFH/NV 2018, 636).
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Schließlich kann der Senat dahinstehen lassen, ob eine
unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung vorliegt, weil
das FG darauf abgestellt hat (Rz 184 im FG-Urteil), dass die
Klägerin erst im Überdenkungsverfahren (§ 29 der Verordnung zur
Durchführung der Vorschriften über Steuerberater,
Steuerbevollmächtigte und Steuerberatungsgesellschaften --
DVStB--) gerügt hatte, die beiden Prüfer seien eingeschlafen.
Dem Senat erschließt sich allerdings nicht, weshalb es
nahegelegen haben soll, spätestens bei der Mitteilung des
Prüfungsergebnisses auf diesen Umstand hinzuweisen. Wie das
FG zutreffend festgestellt hat, erfasst § 26 Abs. 8 DVStB nur
Störungen der mündlichen Prüfung, die durch äußere
Einwirkungen verursacht werden. Um eine solche äußere
Einwirkung handelte es sich hier nicht.
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Soweit die Klägerin rügt, das FG hätte die Mitprüflinge zum Ablauf
der mündlichen Prüfung vernehmen müssen, liegt --ungeachtet
der Frage, ob der Vortrag der Klägerin den Anforderungen nach
§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO genügt-- insoweit kein
Verfahrensmangel vor. Auf die beantragte Beweiserhebung
konnte das FG verzichten, weil es bezüglich einiger
Prüfungsabschnitte das Beweismittel für die zu treffende
Entscheidung für unerheblich erachtet hat und in den übrigen
Fällen den Vortrag der Klägerin als wahr unterstellt hat (zu den
Anforderungen nach ständiger Rechtsprechung, z.B. BFH-
Beschluss vom 1. Februar 2007 VI B 118/04, BFHE 216, 409,
BStBl II 2007, 538, m.w.N.).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.