Urteil des BFH vom 11.12.1953

Kindergeldanspruch eines türkischen Staatsbürgers nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit - Auslegung des Vorläufigen Europäischen Abkommens

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 17.6.2010, III R 42/09
Kindergeldanspruch eines türkischen Staatsbürgers nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit
- Auslegung des Vorläufigen Europäischen Abkommens
Leitsätze
Ab einem Aufenthalt im Bundesgebiet von sechs Monaten besteht nach dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über
soziale Sicherheit vom 11. Dezember 1953 für türkische Staatsbürger ein Anspruch auf Kindergeld unter denselben
Voraussetzungen wie für einen deutschen Staatsbürger .
Tatbestand
1 I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger), ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit Ende 1995 in der
Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) auf. Er lebt mit seiner Familie in einer Gemeinschaftsunterkunft und
erhält Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Eine Erwerbstätigkeit ist ihm nicht gestattet. Das
Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
2 Am 4. Mai 2006 beantragte der Kläger rückwirkend Kindergeld für seine im Januar 1996, August 1998, Dezember 1999
und Oktober 2003 geborenen Kinder. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag ab. Den
Einspruch wies sie durch Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 2008 zurück.
3 Mit der Klage begehrte der Kläger Kindergeld von Januar 2003 bis September 2003 für drei Kinder und von Oktober
2003 bis Mai 2008 für vier Kinder. Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab (Urteil vom 30. April 2009 1 K 1031/08
(Kg), Entscheidungen der Finanzgerichte --EFG-- 2010, 154). Es führte im Wesentlichen aus, ein nicht
freizügigkeitsberechtigter Ausländer erhalte Kindergeld nur, wenn er --anders als der Kläger-- einen der in § 62 Abs. 2
des Einkommensteuergesetzes (EStG) genannten Aufenthaltstitel besitze. Ein Anspruch auf Kindergeld ergebe sich
auch nicht aus Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Vorläufigen Europäischen Abkommens über soziale Sicherheit unter
Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen vom 11. Dezember
1953 (BGBl II 1956, 507) --Vorläufiges Europäisches Abkommen (VEA)--, da der Kläger mit seiner Familie nicht seit
wenigstens sechs Monaten in der Bundesrepublik "gewohnt" habe. Das Merkmal "Wohnen" sei im VEA nicht definiert.
Allerdings unterscheide das VEA in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a bis d die Begriffe "Wohnen" und "Aufenthalt" bzw.
"gewöhnlicher Aufenthalt", so dass dem Merkmal "Wohnen" eine eigene Bedeutung zukommen müsse. Nach § 8 der
Abgabenordnung (AO) habe jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehabe, die darauf
schließen ließen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen werde. Der bloße Aufenthalt in einem
Übergangsheim, der von vornherein nicht auf Dauer angelegt sei und zudem nicht auf einer freien Entscheidung,
sondern auf einer staatlichen Zuweisung beruhe, erfülle nicht das Merkmal "Wohnen".
4 Zur Begründung der Revision trägt der Kläger vor, das FG habe bei der Auslegung des Begriffs "Wohnen" nicht die
Gesetzesmaterialien herangezogen und sich nicht mit der Begrifflichkeit im englischen Text "that he has been resident
for six months" und der Übersetzung des Wortes "resident" auseinandergesetzt. Die Unterscheidung zwischen den
Begriffen "Wohnen", "Aufenthalt" sowie "gewöhnlicher Aufenthalt" beruhe auf der Übersetzung in die deutsche Sprache.
Aus der englischen Originalfassung des VEA ergebe sich kein Anhaltspunkt für das vom FG vertretene
Begriffsverständnis.
5 Der Kläger beantragt sinngemäß, das Urteil des FG, den Ablehnungsbescheid vom 22. Juni 2006 und die
Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld von Januar
2003 bis September 2003 für drei Kinder und von Oktober 2003 bis Mai 2008 für vier Kinder festzusetzen.
6 Die Familienkasse beantragt, die Revision des Klägers zurückzuweisen.
7 Sie beruft sich auf die Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit vom 3. Dezember 2002, BA-Rundbrief
76/2002, Anlage 2 Tz. 2.5 Abs. 4 (abgedruckt bei Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, III.
Rundschreiben, 3.). Danach setze der Begriff "Wohnen" in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA voraus, dass der Betreffende
über eine eigene Wohnung verfüge.
Entscheidungsgründe
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II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, des Ablehnungsbescheids und der
Einspruchsentscheidung sowie zur Verpflichtung der Familienkasse, Kindergeld gemäß dem Antrag des Klägers
festzusetzen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1, § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
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1. Das am 11. Dezember 1953 u.a. von der Bundesrepublik und der Türkei unterzeichnete VEA basiert auf der
Satzung des Europarates vom 5. Mai 1949 und hat mit Gesetz vom 7. Mai 1956 (BGBl II 1956, 507) innerstaatliche
Geltung erlangt. Entgegen seiner ursprünglichen Intention als "vorläufiges" Abkommen ist es nach wie vor gültig. Das
VEA ist in englischer und französischer Sprache abgefasst, wobei beide Fassungen gleichermaßen als authentisch
festgelegt wurden (Art. 16 VEA). Art. 1 VEA gibt ein Grundmuster vor, welche Leistungssysteme von dem Abkommen
grundsätzlich erfasst werden; orientiert an diesem Grundmuster bestimmen die vertragschließenden Staaten sodann
im Anhang I (Art. 7 Abs. 1 und 2 VEA) jeweils für sich, auf welche nationalen Systeme sozialer Sicherheit das VEA
angewendet werden soll (vgl. Urteil des Bundessozialgerichts --BSG-- vom 23. September 2004 B 10 EG 3/04 R,
BSGE 93, 194).
10 Das VEA ist auf alle Gesetze und Regelungen über soziale Sicherheit anzuwenden, die in jedem Teil des Gebietes
der Vertragschließenden am Tage der Unterzeichnung Geltung haben oder in der Folge in Kraft treten und sich auf
Familienbeihilfen beziehen (Art. 1 Abs. 1 Buchst. d VEA). Durch das Schreiben des Ständigen Vertreters der
Bundesrepublik vom 19. August 1956 wurde der Anhang I zum VEA in Bezug auf die Bundesrepublik um "(d) Family
allowances" erweitert. Entsprechend berücksichtigen die Bekanntmachung über das Inkrafttreten sowie über den
Geltungsbereich des VEA vom 8. Januar 1958 (BGBl II 1958, 18) sowie die Neufassungen der Anhänge I, II und III
vom 8. März 1972 (BGBl II 1972, 175) und vom 25. Januar 1985 (BGBl II 1985, 311) im Anhang I für die
Bundesrepublik unter Buchst. d "Family allowances" bzw. "Les allocations familiales" und in der deutschen
Übersetzung "Kindergeld".
11 2. Der Kläger erfüllt die persönlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld nach dem VEA.
12 a) Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA haben die Staatsangehörigen eines der Vertragschließenden Anspruch auf die
Leistungen nach den Gesetzen und Regelungen jedes anderen Vertragschließenden unter denselben Bedingungen
wie die Staatsangehörigen des letzteren, sofern sie bezüglich der nicht auf Beiträgen beruhenden Leistungen, unter
Ausschluss der Leistungen bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten, seit wenigstens sechs Monaten im Gebiet des
letzteren Vertragschließenden "wohnen".
13 b) Türkische Staatsangehörige, die seit wenigstens sechs Monaten in der Bundesrepublik wohnen, haben daher wie
deutsche Staatsangehörige einen Anspruch auf Kindergeld unter den Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG.
Obwohl sie nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländer sind, gelten für sie aufgrund des VEA die Einschränkungen des §
62 Abs. 2 EStG nicht.
14 c) Der Begriff "Wohnen" ist im VEA nicht definiert. Für die Begriffsauslegung sind im Rahmen der innerstaatlichen
Rechtsanwendung die Grundsätze des Teil III Abschnitt 3 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge
(WÜRV) vom 23. Mai 1969 (BGBl II 1985, 926) heranzuziehen. Das WÜRV ist für die Bundesrepublik seit dem 20.
August 1987 in Kraft (BGBl II 1987, 757). Seine Auslegungsgrundsätze sind zugleich Ausdruck allgemeiner Regeln
des Völkerrechts, die als solche auch auf Verträge angewendet werden können, die wie das VEA bereits vor dem
Inkrafttreten des WÜRV abgeschlossen wurden (vgl. BSG-Urteil in BSGE 93, 194).
15 Wurde ein Vertrag in zwei oder mehr Sprachen als authentisch festgelegt, ist nach Art. 33 Abs. 1 WÜRV der Text in
jeder Sprache in gleicher Weise maßgebend, sofern nicht der Vertrag vorsieht oder die Vertragsparteien vereinbaren,
dass bei Abweichungen ein bestimmter Text vorgehen soll. Eine Vertragsfassung in einer anderen Sprache als einer
der Sprachen, deren Text als authentisch festgelegt wurde, gilt nach Art. 33 Abs. 2 WÜRV nur dann als authentischer
Wortlaut, wenn der Vertrag dies vorsieht oder die Vertragsparteien dies vereinbaren. Danach gilt die deutsche
Übersetzung des VEA nicht als authentischer Wortlaut. Die Auslegung hat sich vielmehr an dem englischen und dem
französischen Vertragstext zu orientieren.
16 Nach Art. 31 Abs. 1 WÜRV ist ein Vertrag "nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen
Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes
auszulegen". Die Präambel des VEA betont den Grundsatz der Gleichbehandlung der Angehörigen aller
Vertragschließenden bei Anwendung der in jedem dieser Staaten geltenden Gesetze und Regelungen über soziale
Sicherheit. Ziel des VEA ist danach --soweit die jeweilige Regelung reicht-- die Gleichstellung Angehöriger anderer
Vertragschließender mit Inländern.
17 Gemäß der Systematik des VEA werden alle Vertragschließenden durch Art. 2 VEA dem Grunde nach gleichermaßen
verpflichtet. Verpflichtungen im Besonderen kann sich ein Vertragschließender entweder durch Nichtaufnahme des
betreffenden Systems der sozialen Sicherheit in Anhang I (Art. 7 Abs. 1 VEA) oder durch einen in Anhang III
aufzunehmenden Vorbehalt (Art. 9 VEA) entziehen. Das bundesdeutsche Kindergeld ist im Anhang I zum VEA
angeführt, einen Vorbehalt i.S. des Art. 9 VEA hat die Bundesrepublik nicht formuliert. Danach verbietet es sich, den
Anwendungsbereich des für alle Vertragschließenden gleichermaßen geltenden Art. 2 VEA in Bezug auf die
Bundesrepublik durch eine nicht authentische Übersetzung des englischen und französischen Vertragstextes
einzuschränken.
18 Nach der englischen Fassung hängen die unterschiedlichen zu gewährenden Leistungen gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst.
a bis d VEA davon ab, ob jemand im Inland "resides" (Buchst. a), "is ordinarily resident" bzw. "had become ordinarily
resident" (Buchst. b und c) oder "has been resident for six months" (Buchst. d). Die französische Fassung
unterscheidet danach, ob die Personen "résident" (Buchst. a), "aient leur résindence normale" (Buchst. b und c) oder
"résident depuis six mois" (Buchst. d). Es wird offensichtlich angeknüpft an den Aufenthalt oder den --in den einzelnen
Rechtsordnungen unterschiedlich definierten-- gewöhnlichen Aufenthalt, oder an einen Aufenthalt von mindestens
sechs Monaten Dauer. Dementsprechend sind nach der deutschen Fassung die Leistungen geknüpft an den
Aufenthalt (Buchst. a) und den gewöhnlichen Aufenthalt (Buchst. b und c). Abweichend von der englischen und
französischen Fassung wird in der deutschen Fassung in Buchst. d aber nicht derselbe Begriff wie in Buchst. a bis c
verwendet ("sich aufhalten" oder "Aufenthalt"), sondern der Begriff "Wohnen". Nach dem Wortsinn umfasst der Begriff
"Wohnen" auch den Aufenthalt in einer Gemeinschaftsunterkunft. Eine -wegen der von Buchst. a bis c abweichenden
Wortwahl- einschränkende Auslegung in dem Sinne, dass zu Leistungen nach Buchst. d nur der Aufenthalt in einer
eigenen Wohnung berechtigt, würde dem authentischen englischen und französischen Text widersprechen. Auch
nach der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des
Einkommensteuergesetzes 2009 --DA-FamEStG 2009-- (BStBl I 2009, 1030) 62.4.3 Abs. 3 Satz 6 folgt aus dem VEA
nach einem sechsmonatigen Aufenthalt im Bundesgebiet ein Anspruch auf Kindergeld für türkische Staatsangehörige
(so bereits Verfügung vom 13. Juni 2007 zur Änderung der DA-FamEStG 2004, BStBl I 2007, 489, 492; zustimmend
Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, II. Kommentierung VEA Rz 5; a.A. noch
die Geschäftsanweisung der Bundesagentur für Arbeit vom 3. Dezember 2002, BA-Rundbrief 76/2002, Anlage 2, Tz.
2.5 Abs. 4, abgedruckt bei Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, III. Rundschreiben, 3.).
19 d) Da der Kläger nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d VEA einem Inländer gleichzustellen ist, waren die Voraussetzungen des
§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu prüfen. Der Kläger hatte bis zuletzt --wie die übrigen Familienmitglieder-- im Inland seinen
gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Nach § 9 Satz 2 AO ist als gewöhnlicher Aufenthalt im
Geltungsbereich der AO stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs
Monaten Dauer anzusehen. Aufgrund der unwiderlegbaren gesetzlichen Vermutung des § 9 Satz 2 AO (vgl.
Senatsurteil vom 11. September 1987 III R 148/86, BFHE 151, 46, BStBl II 1988, 14) kommt es nicht darauf an, ob in
einem Übergangswohnheim ein gewöhnlicher Aufenthalt i.S. des § 30 Abs. 3 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch
begründet werden kann (bejahend Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. März 1999 5 C 11/98, Buchholz,
Sammel- und Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, 436.0, § 107 BSHG Nr. 1;
ablehnend für die Dauer des Asylverfahrens noch BSG-Urteil vom 31. Januar 1980 8b RKg 4/79, BSGE 49, 254).
20 3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1 i.V.m. § 135 Abs. 1 FGO.