Urteil des BFH vom 02.09.2010

Aufwendungen für eine immunbiologische Krebsabwehrtherapie als außergewöhnliche Belastung - Abgrenzung der Krankheitskosten von vorbeugenden Aufwendungen - Nachweis der medizinischen Indikation

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 2.9.2010, VI R 11/09
Aufwendungen für eine immunbiologische Krebsabwehrtherapie als außergewöhnliche Belastung - Abgrenzung der
Krankheitskosten von vorbeugenden Aufwendungen - Nachweis der medizinischen Indikation
Leitsätze
1. Krankheitskosten, denen es objektiv an der Eignung zur Heilung oder Linderung mangelt, können zwangsläufig
erwachsen, wenn der Steuerpflichtige an einer Erkrankung mit einer nur noch begrenzten Lebenserwartung leidet, die nicht
mehr auf eine kurative Behandlung anspricht.
2. Dies gilt selbst dann, wenn sich der Steuerpflichtige für eine aus schulmedizinischer oder naturheilkundlicher Sicht nicht
anerkannte Heilmethode entscheidet.
3. Ihre Grenze findet die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für Außenseitermethoden nach § 33 EStG allerdings, wenn die
Behandlung von einer Person vorgenommen wird, die nicht zur Ausübung der Heilkunde zugelassen ist.
Tatbestand
1 I. Streitig ist, ob Aufwendungen für eine immunbiologische Krebsabwehrtherapie als außergewöhnliche Belastungen
abzugsfähig sind.
2 Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) wurde im Streitjahr (2006) mit seiner mittlerweile verstorbenen Ehefrau H zur
Einkommensteuer zusammen veranlagt. Im August 2006 wurde bei H eine Krebserkrankung der Bauchspeicheldrüse
diagnostiziert und bereits am 21. August 2006 eine Bauchoperation zur chirurgischen Entfernung des Tumors und
seiner regionären Lymphknotenmetastasen durchgeführt. Im Anschluss an die Operation entschied sich H an Stelle der
ihr von dem Krankenhaus angebotenen konventionellen Chemotherapie für eine immunbiologische
Krebsabwehrtherapie mit dem Präparat Ukrain und in Kombination mit einer Sauerstoff-Mehrschritttherapie sowie einer
Ozon-Sauerstoffbehandlung. Hierfür zahlten die Eheleute im Veranlagungszeitraum 2006 30.000 EUR an den
behandelnden Hausarzt Dr. B - einem Facharzt für Allgemeinmedizin, Chirotherapie und Naturheilverfahren.
3 Ausweislich einer Stellungnahme des B war eine nach internationaler Therapieempfehlung in der Situation der H
durchzuführende Kombinationschemotherapie infolge ihres operationsbedingt geschwächten Gesundheitszustandes
und einer Tumorkachexie nicht möglich. B bescheinigte der H zudem, dass sich ihr Allgemeinzustand unter der
Behandlung zunehmend verbessere und die Durchführung der immunbiologischen Krebsabwehrtherapie weiterhin
medizinisch notwendig sei.
4 Die bei der Krankenkasse beantragte Erstattung der Aufwendungen wurde unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen vom 14. November 2006 abgelehnt. Eine im Rahmen des
Einspruchsverfahrens vorgelegte amtsärztliche Stellungnahme vom 26. Juni 2007 erläuterte die Situation der H und
stellte die kritischen Positionen in der Fachwelt in Bezug auf die durchgeführte Behandlung mit Ukrain kurz dar. Unter
Hinweis auf "eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Untersuchungen ..., die den Grundlagen einer wissenschaftlichen
Untersuchungsmethode durchaus entsprechen", kam der Amtsarzt zu folgendem Ergebnis:
5 "Diese Untersuchungen legen die Möglichkeit sehr nahe, dass Ukrain zukünftig möglicherweise eine interessante
Medikation für die Onkologie werden könnte. ... Soweit sich jemand bei fraglicher Effektivität schulmedizinischer
Behandlungsmöglichkeiten auch zur Vermeidung Lebensqualität reduzierender Nebenwirkungen dann für einen
alternativ medizinischen Behandlungsweg einer immunbiologischen Krebsabwehrtherapie entscheidet, sehe ich
amtsärztlicherseits vergleichbar die Voraussetzungen für die Anerkennung einer außergewöhnlichen Belastung im
Sinne des § 33 Einkommensteuergesetz als gegeben an."
6 Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte gleichwohl eine Anerkennung der Aufwendungen
als außergewöhnliche Belastung sowohl im Einkommensteuerbescheid als auch in der Einspruchsentscheidung ab.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage --nach Einholung eines klinisch-pharmakologischen
Sachverständigengutachtens-- mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2009, 752 veröffentlichten Gründen ab.
7 Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Außerdem sei dem FG mangelnde Sachaufklärung
vorzuwerfen.
8 Der Kläger beantragt,
das Urteil des Niedersächsischen FG vom 8. Januar 2009 11 K 490/07 und die Einspruchsentscheidung vom 19.
Oktober 2007 aufzuheben und die Einkommensteuer unter Berücksichtigung von Aufwendungen für eine
immunbiologische Krebsabwehrtherapie in Höhe von 30.000 EUR als außergewöhnliche Belastung herabzusetzen.
9 Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
10 II. 1. Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Klage stattzugeben (§
126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Entgegen der Ansicht der Vorinstanz sind die
streitbefangenen Aufwendungen für die immunbiologische Krebsabwehrtherapie als außergewöhnliche Belastung
abzugsfähig.
11 a) Nach § 33 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn
einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen
gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands (außergewöhnliche
Belastung) erwachsen. Zwangsläufig erwachsen dem Steuerpflichtigen Aufwendungen dann, wenn er sich ihnen aus
rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den
Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG).
12 aa) In ständiger Rechtsprechung geht der Bundesfinanzhof (BFH) davon aus, dass Krankheitskosten --ohne Rücksicht
auf die Art und die Ursache der Erkrankung-- dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig
erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der
Heilung einer Krankheit (z.B. Medikamente, Operation) oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglich zu
machen, beispielsweise Aufwendungen für einen Rollstuhl (BFH-Urteile vom 17. Juli 1981 VI R 77/78, BFHE 133, 545,
BStBl II 1981, 711; vom 13. Februar 1987 III R 208/81, BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427, und vom 20. März 1987 III R
150/86, BFHE 149, 539, BStBl II 1987, 596).
13 bb) Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche Belastung
berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der
Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf (BFH-Urteile vom 1. Februar 2001 III R 22/00, BFHE 195,
144, BStBl II 2001, 543, und vom 3. Dezember 1998 III R 5/98, BFHE 187, 503, BStBl II 1999, 227, m.w.N.). Eine derart
typisierende Behandlung der Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die
Privatsphäre geboten (BFH-Urteil in BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543). Dies gilt aber nur dann, wenn die
Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines
gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt (vertretbar) sind und vorgenommen
werden (vgl. BFH-Urteil vom 18. Juni 1997 III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805), also medizinisch indiziert
sind.
14 cc) Vorbeugende Aufwendungen, die der Gesundheit allgemein dienen, und solche, die auf einer medizinisch nicht
indizierten Behandlung beruhen, zählen hingegen nicht zu den Krankheitskosten. Es handelt sich insoweit vielmehr
um Aufwand, der nicht aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig i.S. des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG entsteht, sondern auf
einer freien Willensentschließung beruht und deshalb gemäß § 12 Nr. 1 EStG den nicht abzugsfähigen Kosten der
Lebenshaltung zuzurechnen ist.
15 dd) Für die mitunter schwierige Trennung von echten Krankheitskosten einerseits und lediglich
gesundheitsfördernden Vorbeuge- oder Folgekosten andererseits fordert der BFH seit dem Urteil vom 14. Februar
1980 VI R 218/77 (BFHE 130, 54, BStBl II 1980, 295, betr. Badekur auf Ibiza) in ständiger Rechtsprechung regelmäßig
die Vorlage eines zeitlich vor der Aufwendung erstellten amts- oder vertrauensärztlichen Gutachtens bzw. eines
Attestes eines anderen öffentlich-rechtlichen Trägers, aus dem sich die Krankheit und die medizinische Indikation der
den Aufwendungen zugrundeliegenden Behandlung zweifelsfrei entnehmen lässt (vgl. BFH-Urteile in BFHE 133, 545,
BStBl II 1981, 711, betr. Frischzellenbehandlung; vom 11. Januar 1991 III R 70/88, BFH/NV 1991, 386, betr.
Frischzellenbehandlung und rezeptfreie Arzneimittel; vom 11. Dezember 1987 III R 95/85, BFHE 152, 131, BStBl II
1988, 275, betr. Heilkur; in BFHE 149, 222, BStBl II 1987, 427, betr. Gruppensitzung bei den Anonymen Alkoholikern;
in BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543, betr. Ayur-Veda-Behandlung; BFH-Beschluss vom 15. November 2007 III B
205/06, BFH/NV 2008, 368, betr. Delfintherapie). Auch bei Aufwendungen für Maßnahmen, die ihrer Art nach nicht
eindeutig nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen können und deren medizinische Indikation deshalb
schwer zu beurteilen ist, verlangt der BFH diesen formalisierten Nachweis (beispielsweise BFH-Urteile vom 9. August
1991 III R 54/90, BFHE 165, 272, BStBl II 1991, 920, betr. Bett mit motorgetriebener Oberkörperaufrichtung; vom 9.
August 2001 III R 6/01, BFHE 196, 492, BStBl II 2002, 240, betr. Asbestsanierung der Außenfassade eines
Wohnhauses; vom 23. Mai 2002 III R 52/99, BFHE 199, 287, BStBl II 2002, 592, betr. Neuanschaffung von Mobiliar
wegen Formaldehydemission; vom 21. April 2005 III R 45/03, BFHE 209, 365, BStBl II 2005, 602, betr. Unterbringung
in einer sozialtherapeutischen Wohngruppe; vom 15. März 2007 III R 28/06, BFH/NV 2007, 1841, betr. Beseitigung
von Birken; BFH-Beschlüsse vom 10. Dezember 2004 III B 56/04, juris, betr. Asbestbeseitigung; vom 24. November
2006 III B 57/06, BFH/NV 2007, 438, betr. Aufwendungen für Fettabsaugung).
16 ee) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob an diesem formalisierten Nachweisverlangen stets festzuhalten ist.
17 Denn im Streitfall geht es ersichtlich nicht um die Abgrenzung echter Krankheitskosten von nur allgemein
gesundheitsfördernden oder vorbeugenden Maßnahmen. Vielmehr ist die schwerwiegende Erkrankung der
zwischenzeitlich verstorbenen Ehefrau des Klägers völlig unstreitig (vgl. insoweit BFH-Beschluss vom 15. November
1999 III B 76/99, BFH/NV 2000, 697). Auch liegt die in Frage stehende immunbiologische Krebsabwehrtherapie nicht
auf der Ebene von Geister- oder Wunderheilern; Fälle, in denen die Rechtsprechung einen zielgerichteten Eingriff zur
Heilbehandlung verneint hat (vgl. BFH-Urteil vom 18. April 1990 III R 38/86, BFH/NV 1991, 27, m.w.N.). Es handelt sich
vielmehr um eine gezielte therapeutische Maßnahme, die durch eine gesetzlich zur Ausübung der Heilkunde
zugelassene Person, einen Facharzt für Allgemeinmedizin, Chirotherapie und Naturheilverfahren, durchgeführt
worden ist.
18 ff) Ebenfalls offenlassen kann der Senat im Streitfall, ob bei Behandlungen mit wissenschaftlich umstrittenen
Methoden der Nachweis der medizinischen Indikation durch eine amts- oder vertrauensärztliche Begutachtung
unerlässlich ist (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2008, 368).
19 Denn in Fällen wie dem vorliegenden stellt sich jedenfalls die Frage nach der objektiven Eignung einer medizinischen
Maßnahme zur Heilung oder Linderung der Krankheit nicht mehr.
20 Leidet der Steuerpflichtige --wie hier die Ehefrau des Klägers-- so schwer an einer Erkrankung mit einer nur noch
begrenzten Lebenserwartung, die soweit fortgeschritten ist, dass sie nicht mehr auf eine kurative Behandlung
anspricht, wird diese letzte Lebensphase von dem Konflikt zwischen der schicksalhaften Realität, dem Wunsch nach
Heilung und der Hoffnung des Patienten, seine eigene Erkrankung möge prinzipiell anders verlaufen als nach den
statistisch gewonnenen Erfahrungen zu erwarten ist, geprägt. In dieser notstandsähnlichen Situation erwachsen
Patienten, die mit den heute verfügbaren schulmedizinischen Verfahren nicht oder nicht mehr zu heilen sind, auch
Aufwendungen für Maßnahmen, denen es objektiv an der Eignung zur Heilung oder Linderung der Krankheit mangeln
mag, tatsächlich zwangsläufig. Dies gilt selbst dann, wenn der Steuerpflichtige die notstandsähnliche Zwangslage
zwischen Realität und Wunsch nach Heilung durch Kontakte mit ärztlichen Außenseitern zu lösen sucht und sich --
nach intensiver Beratung über palliative Behandlungsmöglichkeiten-- für eine aus schulmedizinischer oder
naturheilkundlicher Sicht nicht anerkannte Heilmethode entscheidet. Nicht die medizinische Notwendigkeit der
Maßnahme begründet in diesen Fällen die tatsächliche Zwangsläufigkeit, sondern die Ausweglosigkeit der
Lebenssituation, die den "Griff nach jedem Strohhalm" gebietet.
21 gg) Ihre Grenzen findet die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für Außenseitermethoden nach § 33 EStG allerdings,
wenn Maßnahmen --anders als im Streitfall-- von Personen vorgenommen werden, die nicht zur Ausübung der
Heilkunde zugelassen sind (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2000, 697; Kanzler in Herrmann/ Heuer/Raupach, --HHR--
, § 33 EStG Rz 93, m.w.N.).
22 Damit sind die streitgegenständlichen Aufwendungen für die immunbiologische Krebsabwehrtherapie als
außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen.
23 b) Wer von den Ehegatten diese der Klägerin aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig entstandenen Kosten
wirtschaftlich getragen hat, ist für den Abzug als außergewöhnliche Belastung bei Ehegatten, die --wie vorliegend--
zusammen zur Einkommensteuer veranlagt worden sind, ohne Bedeutung. Denn nach § 26b EStG werden die
Eheleute insoweit gemeinsam als Steuerpflichtiger behandelt (sog. Einheitsgedanke, HHR/Kanzler, § 33 EStG Rz 21;
Seiler in Kirchhof, EStG, 9. Aufl., § 26b Rz 8; Schneider, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 26b Rz B 76).
24 2. Der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2006 ist deshalb dahingehend zu ändern, dass bei der
Einkommensteuerfestsetzung weitere Aufwendungen in Höhe von 30.000 EUR als außergewöhnliche Belastung zu
berücksichtigen sind. Die Neuberechnung der Steuer wird dem FA übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2, § 121 Satz 1
FGO).