Urteil des BFH vom 28.06.2000

Gutachtertätigkeit einer Krankenschwester zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht umsatzsteuerbefreit

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 8.10.2008, V R 32/07
Gutachtertätigkeit einer Krankenschwester zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nicht umsatzsteuerbefreit
Leitsätze
Erstellt eine Krankenschwester (mit entsprechender Zusatzausbildung) im Auftrag des Medizinischen Dienstes der
Krankenversicherung für Zwecke der Pflegeversicherung Gutachten zur Feststellung von Art und Umfang der
Pflegebedürftigkeit der Versicherten, ist diese Tätigkeit weder nach dem UStG noch nach der Richtlinie 77/388/EWG
steuerfrei (Ergänzung zum BFH-Urteil vom 28. Juni 2000 V R 72/99, BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554) .
Tatbestand
1 I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist ausgebildete Krankenschwester mit einer Zusatzausbildung für
medizinische Gutachtertätigkeit zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.
2 Sie erstellte im Streitjahr 2003 im Auftrag des Medizinischen Dienstes einer Krankenversicherung Gutachten, in denen
Art und Umfang der Pflegebedürftigkeit von Versicherten festgestellt wurden. Die auf einem Vordruck zu erstellenden
Gutachten sind in neun Punkte untergliedert, in dem sich der Gutachter u.a. zu den Punkten "Derzeitige Versorgungs-
und Betreuungssituation", "Pflegerelevante Vorgeschichte und Befunde", "Krankheit(en)/Behinderungen und ihre
Auswirkung(en) auf die Aktivitäten des täglichen Lebens" und "Pflegebegründende Diagnose(n)" äußert. Die
Gutachten, die gegenüber der Krankenkasse erstellt werden, enden u.a. mit der Beurteilung, ob eine
Pflegebedürftigkeit vorliegt und ggf. der Empfehlung einer Pflegestufe.
3 Nachdem die Klägerin dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt --FA--) auf Anfrage mitgeteilt hatte, dass sie
lediglich steuerfreie Umsätze erziele, erließ das FA anhand der Gewinn- und Verlustrechnung der Klägerin einen
Umsatzsteuerbescheid für 2003, in dem es die Umsätze der Klägerin als steuerpflichtig ansah und die abziehbaren
Vorsteuerbeträge schätzte.
4 Nach Zurückweisung des Einspruchs wies das Finanzgericht (FG) die Klage mit dem in "Entscheidungen der
Finanzgerichte" 2007, 1045 veröffentlichten Urteil ab. Zur Begründung führte das FG aus, die Leistungen der Klägerin
an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung seien nicht nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes 1999
(UStG) steuerfrei, weil die Gutachten keinem therapeutischen Ziel dienten, sondern der Einordnung in die richtige
Pflegestufe. Auch die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG befreie nur die Leistungen der Medizinischen
Dienste selbst, nicht aber diejenigen selbständig tätiger Dritter, die im Auftrag des Medizinischen Dienstes handelten
(Hinweis auf Urteil des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 28. Juni 2000 V R 72/99, BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554).
Insoweit habe der Gesetzgeber Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie
77/388/EWG) ermessensfehlerfrei umgesetzt. Der Klägerin sei nicht der Status einer "Einrichtung" im Sinne dieser
Richtlinienvorschrift zuzubilligen. Ein Verstoß gegen den Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer liege nicht vor, da
Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG die Steuerbefreiung nur bestimmten Einrichtungen vorbehalte,
zu denen die Klägerin nicht gehöre.
5 Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin. Sie ist der Auffassung, im Streitfall sei § 4 Nr. 14 UStG anwendbar. Sie
habe vor dem FG ausführlich vorgetragen, wie die Gutachtertätigkeit in der Praxis ablaufe und welche Vorgaben nach
einem Handbuch (120 Seiten) zu beachten seien, insbesondere welchen Umfang im Formulargutachten die Bereiche
"Erhebung zur Versorgungs- und Befundsituation", "Bewertung dieser Befundsituation" und "abschließende
Empfehlungen" hätten. Das FG habe nicht gewürdigt, dass nur zwei Punkte des Gutachtens sich mit der Grundpflege
und der hauswirtschaftlichen Versorgung und sieben Punkte sich mit der Behandlungspflege der kranken bis
schwerstkranken Menschen befassten. Das BFH-Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554 beruhe auf der
"Grundaussage", dass im dort entschiedenen Streitfall die Gutachten nicht eine evtl. notwendige Behandlungspflege
zum Gegenstand gehabt hätten. Für die Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 14 UStG komme es darauf an, ob sich ein Gutachten
zu mehr als der Hälfte mit der Behandlungspflege befasse.
6 Zudem habe das FG § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG unrichtig angewendet, weil diese Vorschrift bei zutreffender Auslegung
unter Beachtung des Grundsatzes der steuerrechtlichen Neutralität nicht nur die Medizinischen Dienste der
Krankenversicherung, sondern auch diejenigen von der Umsatzsteuer befreie, die als Subunternehmer für die
Medizinischen Dienste der Krankenversicherung Gutachten erstellten. Dies entspreche auch dem Zweck der
Steuerbefreiung, die Sozialversicherungsträger nicht mit Umsatzsteuer zu belasten.
7 Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung sowie den Umsatzsteuerbescheid für 2003 vom 27. April 2005
und die Einspruchsentscheidung vom 28. Oktober 2005 aufzuheben.
8 Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
9
II. Die Revision ist unbegründet und war daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
10 1. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Anfertigung eines Gutachtens, in dem sich der Gutachter zur
Pflegebedürftigkeit und ggf. zur Einstufung in eine Pflegestufe nach § 18 Abs. 6 des Elften Buches Sozialgesetzbuch
(SGB XI) äußert, keine Heilbehandlung i.S. des § 4 Nr. 14 UStG ist.
11 a) Gemäß § 4 Nr. 14 UStG sind steuerfrei die Umsätze aus der Tätigkeit als Arzt, Zahnarzt, Heilpraktiker,
Physiotherapeut (Krankengymnast), Hebamme oder aus einer ähnlichen heilberuflichen Tätigkeit. Dies entspricht Art.
13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG, die "Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin"
begünstigen will. Demgemäß sind z.B. Gutachten, die der Feststellung der Vaterschaft, der Gewährung einer
Invaliditätspension, eines Kriegsrentenanspruchs, der Haftung wegen eines ärztlichen Kunstfehlers oder zur
Anfertigung eines Rentengutachtens dienen, keine Heilmaßnahme nach § 4 Nr. 14 UStG (BFH-Urteil vom 15. Juli
2004 V R 27/03, BFHE 206, 471, BStBl II 2004, 862, m.w.N.; BFH-Beschluss vom 31. Juli 2007 V B 98/06, BFHE 217,
94, BStBl II 2008, 35). Dies entspricht der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften --
EuGH-- (Urteile vom 20. November 2003 C-212/01 --Margarete Unterpertinger--, Slg. 2003, I-13859, BFH/NV Beilage
2004, 111, und vom 20. November 2003 C-307/01 --Peter d'Ambrumenil--, Slg. 2003, I-13989, BFH/NV Beilage 2004,
115).
12 b) Nach diesen Rechtsgrundsätzen ist die Anfertigung von Gutachten für Zwecke der Einstufung von Versicherten in
der Pflegeversicherung nicht nach § 4 Nr. 14 UStG steuerbefreit. Denn die Gutachtertätigkeit dient ihrem Hauptzweck
nach weder der Behandlung, Linderung oder Vorbeugung einer Krankheit, sondern der Feststellung, in welcher Höhe
dem Versicherten ein Anspruch auf Ersatz von Kosten nach dem Gesetz über die Pflegeversicherung zusteht. Aufgabe
des Medizinischen Dienstes ist die Begutachtung für Zwecke der Sozialversicherung, nicht die Therapie (BFH-Urteil in
BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 1.; Tehler in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 4 Nr. 15a Rz 41).
13 c) Entgegen dem Revisionsvorbringen hat das FG nicht verfahrensfehlerhaft entscheidungserheblichen Sachvortrag
übergangen, weil es nicht gewürdigt habe, ob sich das Gutachten überwiegend mit der Behandlungspflege befasst
hat.
14 Denn das FG hat diesen Sachvortrag nicht übergangen, sondern ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die
Gutachtertätigkeit der Klägerin auch einen Bezug zur Behandlungspflege gehabt habe; denn Hauptziel des
Gutachtens sei es gewesen, dem Medizinischen Dienst eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, in welche
Pflegestufe die begutachtete Person einzustufen sei (Urteil S. 10).
15 Nach dieser --revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden-- Würdigung des FG diente das Gutachten im Wesentlichen
nicht --wie in § 4 Nr. 14 UStG vorausgesetzt-- medizinischen Zwecken. Dies widerspricht auch dem Senatsurteil in
BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 1. e nicht.
16 2. Wie der Senat ferner bereits in seinem Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 2. entschieden hat, fällt
die Tätigkeit der Klägerin auch nicht unter die Steuerbefreiung des § 4 Nr. 16 Buchst. d oder Buchst. e UStG, weil die
Klägerin keine Einrichtungen der Altenheime, Altenwohnheime oder eines Pflegeheimes unterhält. Dass die Klägerin
Leistungen an den Medizinischen Dienst einer Krankenversicherung erbringt, die ihrerseits im Zusammenhang mit
Leistungen an Pflegeheime stehen können, reicht nicht aus.
17 3. Die Gutachtertätigkeit der Klägerin zur Einstufung von Versicherten in die Pflegeversicherung ist auch nicht nach §
4 Nr. 15 Buchst. a UStG befreit. Nach dieser Vorschrift sind steuerbefreit die auf Gesetz beruhenden Leistungen der
Medizinischen Dienste der Krankenversicherung und des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der
Krankenkassen untereinander und für die gesetzlichen Träger der Sozialversicherung und deren Verbände.
18 Die Voraussetzungen dieser Befreiung liegen nach deren Wortlaut nicht vor, denn befreit sind nur die auf Gesetz
beruhenden Leistungen der Medizinischen Dienste selbst. Zwar darf der Medizinische Dienst --wie beispielsweise in
§ 18 Abs. 6 SGB XI vorgesehen-- die gesetzlich vorgesehene Begutachtung auch Personen überlassen, die nicht
selbst dem Medizinischen Dienst angehören. Dies allein rechtfertigt jedoch nicht, die Befreiung auch auf deren
Leistungen auszudehnen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 191, 463, BStBl II 2000, 554, unter II. 3.).
19 Der Grundsatz der Neutralität der Umsatzsteuer führt zu keiner anderen Beurteilung (a.A. Tehler in Rau/Dürrwächter,
a.a.O., § 4 Nr. 15a Rz 118), denn er gebietet nicht, dass unterschiedlich ausgestaltete rechtliche Gestaltungen
umsatzsteuerrechtlich gleich behandelt werden müssen (vgl. Senatsurteil vom 8. November 2007 V R 2/06, BFHE
219, 428, BStBl II 2008, 634, unter II. 2. c dd).
20 4. Schließlich ist die Tätigkeit der Klägerin auch nicht aufgrund unmittelbarer Anwendung des Art. 13 Teil A Abs. 1
Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG befreit.
21 Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die Steuerbefreiung für "eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen
Sicherheit verbundenen Dienstleistungen" zu gewähren, wenn sie durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder
"andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen"
erfolgen. Die Anfertigung von Pflegegutachten für den Medizinischen Dienst einer Krankenkasse ist zwar eine "eng
mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit" verbundene Leistung. Die Klägerin ist jedoch nicht als "anerkannte
Einrichtung" im Sinne dieser Vorschrift anzusehen.
22 a) Nach der Rechtsprechung des EuGH kann der Einzelne die Eigenschaft einer "Einrichtung mit sozialem Charakter"
nicht schon dadurch erlangen, dass er sich auf diese Bestimmung beruft. Vielmehr ist es Sache der nationalen
Behörden, nach dem Gemeinschaftsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte, insbesondere unter
Berücksichtigung der Praxis der zuständigen Verwaltung in ähnlichen Fällen zu bestimmen, welche Einrichtungen als
Einrichtungen mit sozialem Charakter i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG anzuerkennen
sind. So kann insbesondere gewürdigt werden:
23 - das Bestehen spezifischer Vorschriften, gleich ob es sich dabei um nationale oder regionale, um Rechts- oder
Verwaltungsvorschriften, um Steuervorschriften oder im Bereich der sozialen Sicherheit handelt,
24 - das mit den betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse,
25 - die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen
Anerkennung kommen sowie
26 - der Umstand, dass die Kosten der Leistung zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der
sozialen Sicherheit übernommen werden
27 (EuGH-Urteil vom 26. Mai 2005 Rs. C-498/03 --Kingscrest Associates Ltd. und Montecello Ltd.--, Slg. 2005, I-4427,
BFH/NV Beilage 2005, 310 Rz 53 ff., m.w.N.; BFH-Urteil vom 22. April 2004 V R 1/98, BFHE 205, 514, BStBl II 2004,
849).
28 b) Nach diesen Grundsätzen ist die Klägerin keine "anerkannte Einrichtung" i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der
Richtlinie 77/388/EWG. Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG räumt den Mitgliedstaaten ein
Ermessen bei der Frage ein, ob sie bestimmten Einrichtungen sozialen Charakter zuerkennen (vgl. z.B. BFH-Urteil
vom 18. August 2005 V R 71/03, BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143, 146, unter II. 2. d cc (2)). Der nationale
Gesetzgeber hat die Steuerbefreiung in § 4 Nr. 15 Buchst. a UStG ermessensfehlerfrei lediglich für die Leistungen des
Medizinischen Dienstes selbst vorgesehen, den er als soziale Einrichtung i.S. des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der
Richtlinie 77/388/EWG angesehen hat (so ausdrücklich BTDrucks 13/3084, S. 25), nicht aber für Leistungen Dritter
(Subunternehmer), die an den Medizinischen Dienst Leistungen erbringen (vgl. auch BFH-Urteil in BFHE 219, 428,
BStBl II 2008, 634 mit krit. Anmerkung Hölzer in Umsatzsteuer-Rundschau 2008, 234 zu § 4 Nr. 25 UStG).
29 Eine hinreichende Anerkennung i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG ergibt sich deshalb
auch nicht daraus, dass in § 18 Abs. 7 Satz 2 SGB XI dem Medizinischen Dienst die Befugnis erteilt wird, den nicht
dem Medizinischen Dienst angehörenden Pflegefachkräften die für deren jeweilige Beteiligung erforderlichen
personenbezogenen Daten zu übermitteln.