Urteil des BFH vom 14.03.2017

BFH (venire contra factum proprium, gerichtshof der europäischen gemeinschaften, richtlinie, eugh, bemessungsgrundlage, unternehmen, auslegung, ewg, rückwirkung, vorsteuerabzug)

BUNDESFINANZHOF Urteil vom 19.4.2007, V R 56/04
Höhe der Bemessungsgrundlage für die Besteuerung der unentgeltlichen privaten Nutzung eines dem Unternehmen
zugeordneten Gebäudes
Leitsätze
Die Neuregelung der Bemessungsgrundlage in § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 durch das EURLUmsG vom 9. Dezember
2004 (BGBl I 2004, 3310) gilt mit Wirkung vom 1. Juli 2004. Soweit sich das zuvor erlassene BMF-Schreiben vom 13. April
2004 (BStBl I 2004, 468) als "Interpretation" des bisherigen Kostenbegriffs in § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 a.F.
Rückwirkung auf davor liegende "offene" Besteuerungszeiträume beilegt, gibt es dafür keine Rechtsgrundlage.
Tatbestand
1
I. Streitig ist die Höhe der Bemessungsgrundlage für die Besteuerung der unentgeltlichen privaten Nutzung eines dem
Unternehmen der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) zugeordneten Gebäudes.
2
Die Klägerin errichtete im Jahr 2001 (Streitjahr) in einem Gewerbegebiet ein Einfamilienhaus für insgesamt 249
855,31 DM; in einem Teilbetrag in Höhe von 245 933,31 DM waren Umsatzsteuerbeträge von 33 921,84 DM
enthalten. Teile des Hauses --ein Büroraum, ein Lagerraum und eine dahinter liegende Garage-- sind seit dem 1.
Oktober 2002 an ein Bauunternehmen gewerblich vermietet. Der Mieter hat sich im "Gewerberaummietvertrag"
verpflichtet, die gemieteten Räume ausschließlich zur Ausführung umsatzsteuerpflichtiger Umsätze zu verwenden. Im
Übrigen wird das Haus von der Klägerin zu eigenen Wohnzwecken genutzt. Von der Gesamtnutzfläche entfallen
29,66 v.H. auf die gewerbliche Vermietung und 70,34 v.H. auf die Nutzung zu privaten Wohnzwecken.
3
Die Klägerin ordnete das Gebäude insgesamt ihrem Unternehmen zu und machte in ihrer Umsatzsteuererklärung für
2001 die gesamten Vorsteuerbeträge von 33 921,84 DM geltend. Den privaten Nutzungsanteil versteuerte sie nach §
3 Abs. 9a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) 1999, wobei sie für die Ermittlung der Kosten i.S. des § 10 Abs. 4 Satz 1
Nr. 2 UStG aus dem Betrag von 245 933,31 DM eine Abschreibung nach § 7 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes
(EStG) mit 2 v.H. = 4 918,67 DM, im Streitjahr für zwei Monate, d.h. 2/12 = 819,78 DM zugrunde legte; diesen Betrag
teilte sie zunächst nach Mietwerten auf und ermittelte eine Bemessungsgrundlage von 360,70 DM.
4
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt --FA--) legte der Besteuerung den beantragten Vorsteuerabzug
zugrunde, ermittelte jedoch die Bemessungsgrundlage für die private Gebäudenutzung unter Verteilung des Betrages
von 245 933,31 DM auf zehn Jahre, d.h. 24 593,33 DM für zwei Monate = 4 098,88 DM, teilte diesen Betrag schließlich
nach Nutzflächen auf und setzte eine Bemessungsgrundlage mit 70,34 v.H. von 4 098,88 DM = 2 883,15 DM an. Das
FA war entsprechend den Anweisungen im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 13. April
2004 IV B 7 -7206- 3/04 (BStBl I 2004, 468) der Auffassung, die Verteilung der vorsteuerbelasteten Herstellungskosten
müsse sich am Berichtigungszeitraum des § 15a UStG 1999 von 10 Jahren orientieren; nur so könne im Interesse der
steuerlichen Neutralität der vorgenommene Vorsteuerabzug wirksam ausgeglichen werden, während die
ertragsteuerrechtliche Verteilung auf den Zeitraum des wirtschaftlichen Wertverzehrs des Gebäudes von 50 Jahren
hierfür nicht geeignet sei.
5
Nach erfolglosem Einspruchsverfahren gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte
(EFG) 2005, 72 abgedruckten Urteil der Klage statt. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, für die Ermittlung
der Bemessungsgrundlage für die unentgeltliche Wertabgabe seien die maßgeblichen Herstellungskosten auf die
Dauer des Wertverzehrs des Gebäudes von 50 Jahren zu verteilen. Dies sei bis zum Ergehen des BMF-Schreibens in
BStBl I 2004, 468 einhellige Meinung gewesen (Hinweis auf Abschn. 155 Abs. 2 Satz 2 der Umsatzsteuer-Richtlinien -
-UStR-- 2000).
6
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt das FA unzutreffende Auslegung des Kostenbegriffs in § 10 Abs. 4 Nr. 2
UStG 1999; dieser "müsse" anhand von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. c sowie Art. 6 Abs. 2 Buchst. a der Sechsten
Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuern 77/388/EWG (Richtlinie 77/388/EWG) aus Gründen der Neutralität der Mehrwertsteuer so ausgelegt
werden, dass eine Nichtbesteuerung privaten Endverbrauchs ausgeschlossen sei. Deshalb müsse eine vollständige
Kompensation des ursprünglichen Vorsteuerabzugs während des zehnjährigen Berichtigungszeitraumes des § 15a
UStG 1999 erfolgen, soweit eine nichtunternehmerische Nutzung vorliege.
7
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
8
Die Klägerin ist der Revision entgegengetreten.
9
Mit Zustimmung der Beteiligten hat der Senat mit Beschluss vom 13. Dezember 2005 die Verhandlung bis zur
Erledigung des Vorabentscheidungsersuchens des FG München vom 1. Februar 2005 14 K 2966/04 (EFG 2005, 649)
an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) Rs. C-72/05, Wollny ausgesetzt. Nach Ergehen der
Entscheidung des EuGH vom 14. September 2006 (BFH/NV Beilage 2007, 66) nahm der Senat das
Revisionsverfahren wieder auf und wies die Beteiligten mit Schreiben vom 18. Oktober 2006 auf die Problematik der
rückwirkenden Anwendung einer geänderten Verwaltungspraxis hin.
10 Das BMF ist dem Verfahren beigetreten. Es entnimmt der Vorabentscheidung des EuGH in der Rechtssache Wollny,
dass der Finanzverwaltung bei der Auslegung des Begriffs "Kosten" ein gewisser Entscheidungsspielraum zustehe,
den diese auch wahrgenommen habe. Ein Vertrauen der Klägerin auf die Beibehaltung der bis dahin existierenden
Verwaltungsmeinung auf ihren Fall sei nicht schutzwürdig. Es verstoße gegen das Verbot des venire contra factum
proprium (sich in Widerspruch zum eigenen Verhalten setzen), wenn sie --die Klägerin-- sich einerseits auf die sie
begünstigende Konsequenz (der Seeling-Rechtsprechung) berufe, ohne andererseits die für sie negativen Folgen
tragen zu wollen.
11 Die Finanzverwaltung wende höchstrichterliche Rechtsprechung, die der bisherigen Verwaltungsmeinung
widerspreche, grundsätzlich erst an, wenn diese im BStBl veröffentlicht und damit eine neue Verwaltungsanweisung
begründet werde. Dies sei auch bei den Seeling-Urteilen des EuGH und des Bundesfinanzhofs (BFH) der Fall
gewesen. Bis zu deren Veröffentlichung im BStBl II 2004, 371 und 378 am 12. Mai 2004 habe ein Steuerpflichtiger
nicht darauf vertrauen können, dass die Finanzverwaltung ohne weitere Kommentierung die Seeling-Rechtsprechung
übernehme.
12 Durch diese Rechtsprechung habe sich eine Ungleichbehandlung von Nichtunternehmern und Unternehmern in
erheblichem Ausmaß ergeben. Unternehmer hätten durch die Zuordnungsgestaltung von gemischt genutzten
Gebäuden zum Unternehmen einen ganz erheblichen Liquiditätsvorteil und die Möglichkeit unversteuerten
Letztverbrauchs erreichen können. Für die differenzierte Auslegung des Begriffs "Kosten" durch das BMF-Schreiben
vom 13. April 2004 bestehe daher ein sachlicher Rechtfertigungsgrund.
13 Ferner sei es zulässig, dass die Finanzverwaltung --anders als der Gesetzgeber-- diese neue Interpretation auch auf
Fälle anwende, die Besteuerungszeiträume vor dem 1. Juli 2004 beträfen. Der Gesetzgeber habe eine weitergehende
Rückwirkung als zu diesem Stichtag sowohl für nicht zwingend als auch für zu weitgehend erachtet, zumal für die
Besteuerung der unentgeltlichen Wertabgabe von Gebäuden bereits mit dem BMF-Schreiben vom 13. April 2004 eine
Regelung existiert habe. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass im Wege der Gesetzgebung eine entsprechend
dem BMF-Schreiben vorgenommene differenzierte Auslegung bzw. Statuierung des Begriffs "Kosten" bzw.
"Ausgaben" wohl nicht besonders praktikabel gewesen wäre.
14 Im Übrigen habe der Gesetzgeber das BMF-Schreiben in die Gesetzesregelung "aufgenommen".
Entscheidungsgründe
15 II. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).
16 Für das Streitjahr 2001 sind die Kosten der unentgeltlichen Verwendung zum privaten Bedarf des dem Unternehmen
der Klägerin zugeordneten Gebäudes, das zum vollen Vorsteuerabzug berechtigt hat, unter Verteilung der
maßgeblichen Herstellungskosten auf 50 Jahre zu ermitteln (§ 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 3 Abs. 9a Satz 1 Nr. 1
UStG 1999).
17 Die Neuregelung des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 durch das Richtlinien-Umsetzungsgesetz (EURLUmsG) vom
9. Dezember 2004 (BGBl I 2004, 3310) mit Wirkung vom 1. Juli 2004 (vgl. Art. 22 Abs. 3 i.V.m. Art. 5 Nr. 7 EURLUmsG)
entfaltet für Zeiträume davor keine Wirkung. Dies schließt es aus, dass die Finanzverwaltung die Rückwirkung für vor
diesem Zeitpunkt (1. Juli 2004) liegende Zeiträume durch Verwaltungsanweisung anordnet.
18 1. Nach § 3 Abs. 9a Satz 1 Nr. 1 UStG 1999 ist einer sonstigen Leistung gegen Entgelt gleichgestellt die Verwendung
eines dem Unternehmen zugeordneten Gegenstandes, der zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt hat,
durch den Unternehmer für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen. Diese Voraussetzungen liegen
unstreitig vor: Die Klägerin hat --rechtlich zulässig-- das Einfamilienhaus, das nur teilweise unternehmerisch
verwendet wird, in vollem Umfang ihrem Unternehmen zugeordnet und den vollen Vorsteuerabzug in Anspruch
genommen (vgl. BFH-Urteil vom 24. Juli 2003 V R 39/99, BFHE 203, 206, BStBl II 2004, 371 --Nachfolgeentscheidung
zum EuGH-Urteil vom 8. Mai 2003 Rs. C-269/00, Seeling, Slg. 2003, I-04101, BStBl II 2004, 378). Mit der teilweisen
Nutzung des Gebäudes für private Wohnzwecke verwendet die Klägerin das Gebäude für Zwecke, die außerhalb des
Unternehmens --der gewerblichen Vermietung-- liegen.
19 2. Dieser Umsatz wird nach § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 bemessen nach den bei der Ausführung dieser
Umsätze entstandenen Kosten, soweit sie zum vollen oder teilweisen Vorsteuerabzug berechtigt haben; nach Satz 2
der Vorschrift gehört die Umsatzsteuer nicht zur Bemessungsgrundlage.
20 Streitig ist hier allein die Frage nach den entstandenen Kosten für die Nutzung des Gebäudes zu privaten
Wohnzwecken, soweit sie auf die Herstellungskosten entfallen, die zum Vorsteuerabzug berechtigt haben; das ist im
Streitfall der Betrag von 245 933,31 DM abzüglich der hierin enthaltenen Umsatzsteuer in Höhe von 33 921,84 DM,
die als Vorsteuer abgezogen wurde, also 212 011,47 DM.
21 Nach der Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs der "Kosten" i.S. des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 (z.B.
BFH-Urteile vom 18. Dezember 1996 XI R 12/96, BFHE 182, 395, BStBl II 1997, 374; vom 20. Juli 1988 X R 8/80,
BFHE 154, 255, BStBl II 1988, 1012; vom 15. September 1994 XI R 82/92, BFH/NV 1995, 645), der auch die Literatur
(vgl. z.B. Schuhmann in Rau/Dürrwächter/ Flick/Geist, Umsatzsteuergesetz, § 10 Rz 539; Handzik in
Offerhaus/Söhn/Lange, § 10 UStG Rz 186) und die Verwaltung folgten (vgl. Abschn. 155 Abs. 2 Satz 2 UStR), ist
grundsätzlich von den bei der Einkommensteuer zugrunde gelegten Kosten auszugehen, d.h. bezüglich der
Herstellungskosten von einer jährlichen Abschreibung nach § 7 Abs. 4 EStG in Höhe von 2 v.H. Danach berechnen
sich die Kosten wie folgt: 2 v.H. von 212 011,47 DM = 4 240,23 DM, im Streitjahr für zwei Monate, d.h. 2/12 = 706,70
DM. Dieser Betrag ist auf die unternehmerische und die nichtunternehmerische Verwendung aufzuteilen; dafür haben
die Beteiligten inzwischen einvernehmlich das Verhältnis nach den Nutzflächen zugrunde gelegt, so dass auf die
nichtunternehmerische Verwendung ein Anteil von 70,34 v.H. = 497,10 DM entfällt. Dies ist die Bemessungsgrundlage
des Umsatzes für die sonstige Leistung nach § 3 Abs. 9a Satz 1 Nr. 2 UStG 1999. Daraus ergäbe sich zwar eine
geringfügig niedrigere Festsetzung der Umsatzsteuer für 2001 als sie das FG vorgenommen hat, weil das FG den
Brutto- und nicht den Nettobetrag der Kosten angesetzt hat; da die Klägerin aber selbst nicht Revision eingelegt hat,
sondern nur das FA, darf der Senat nicht über den Revisionsantrag des FA hinaus dessen Rechtsposition
verschlechtern (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 6. Aufl., § 121 Rz 1, mit Nachweisen).
22 a) Zwar hat der EuGH in seinem Urteil in BFH/NV Beilage 2007, 66 die gesetzliche Neuregelung in § 10 Abs. 4 Satz 1
Nr. 2 UStG 1999 i.d.F. des EURLUmsG, wonach mit Wirkung vom 1. Juli 2004 (vgl. Art. 22 Abs. 3 i.V.m. Art. 5 Nr. 7
EURLUmsG) der Umsatz für die sonstige Leistung nach § 3 Abs. 9a Nr. 1 UStG 1999 nach den Ausgaben bemessen
wird und die Herstellungskosten gleichmäßig auf den für das Wirtschaftsgut maßgeblichen Berichtigungszeitraum
nach § 15a UStG 1999 zu verteilen sind, als mit Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. c, Art. 20 der Richtlinie 77/388/EWG
vereinbar angesehen. Die Antwort des EuGH auf die Vorlagefrage lautet insoweit:
23 "Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. c der 6. Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 … in der durch die Richtlinie
95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass der Festsetzung der
Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer für die private Nutzung eines Teils eines Gebäudes, das der
Steuerpflichtige in vollem Umfang seinem Unternehmen zugeordnet hat, auf einen Teil der Anschaffungs- oder
Herstellungskosten des Gebäudes, der sich nach dem gemäß Artikel 20 dieser Richtlinie vorgesehenen Zeitraum für
die Berichtigung der Vorsteuerabzüge bestimmt, nicht entgegensteht."
24 Der EuGH betont jedoch, dass diese Definition nicht zwingend aus der Richtlinie 77/388/EWG folge, die
Mitgliedstaaten vielmehr zur Bestimmung dieser Grundsätze über einen gewissen Ermessensspielraum verfügten,
vorausgesetzt, dass sie den Sinn und Zweck der fraglichen Vorschrift und ihrer Stellung im Gefüge der Richtlinie
77/388/EWG nicht verkennen (Rn. 28 des Urteils).
25 Vielmehr war nach den Ausführungen des EuGH in Rn. 41, 42 des Urteils --unter Hinweis auf sein Enkler-Urteil vom
26. September 1996 C-230/94 (Slg. 1996, I-4517)-- die (bisherige) Anknüpfung an "die Abschreibungen für die
Abnutzung des Gegenstands" eine mit der Zielsetzung des Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG vereinbare
Auslegung des Begriffs der Ausgaben.
26 Daraus folgt aber, dass auch die Praxis der Anknüpfung an die ertragsteuerrechtlichen Kosten bis zum 30. Juni 2004
mit der Richtlinie 77/388/EWG vereinbar war (s. auch Widmann, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2006, 644) und der
Begriff der Kosten i.S. des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG 1999 nicht zwingend im Sinne der gesetzlichen Neuregelung
auszulegen war.
27 Zudem verweist der EuGH im Urteil Wollny (Rn. 46) auf seine Ausführungen im Urteil Seeling (vgl. BStBl II 2004, 378
Rn. 54):
28 "Wenn die Tatsache, dass der Steuerpflichtige ein Gebäude insgesamt seinem Unternehmen zuordnen und somit die
für die gesamten Herstellungskosten geschuldeten Vorsteuerbeträge abziehen kann, zur Folge haben kann, dass ein
Letztverbrauch nicht versteuert wird, weil bei dem in Artikel 20 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen
Berichtigungszeitraum der Vorsteuerabzug, der im Zeitpunkt der Herstellung eines Gebäudes erfolgt, nur teilweise
korrigiert werden kann, so ist dies das Ergebnis einer bewussten Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers und
kann nicht dazu führen, dass eine weite Auslegung des Artikels 13 Teil B Buchstabe b dieser Richtlinie geboten wäre."
29 Diese "bewusste Entscheidung des Gemeinschaftsgesetzgebers" nahm somit auch die bisherige Bestimmung der
"Ausgaben" in Kauf.
30 b) Mit der Änderung des § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 UStG durch das EURLUmsG nahm der Gesetzgeber nicht nur eine
begriffliche Änderung vor: Statt des seit dem UStG 1967 verwendeten national-rechtlichen Begriffs der "Kosten", der
durch den ertragsteuerrechtlichen Inhalt geprägt war, übernahm er den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen
Begriff "Ausgaben" aus Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 77/388/EWG. Die Neuregelung enthält vielmehr
auch eine materielle Änderung der Bemessungsgrundlage. Diese wird in § 10 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Satz 3 UStG 2005
abweichend von der bisherigen Rechtsprechung zum Kostenbegriff und seiner einhelligen Handhabung durch die
Praxis von den ertragsteuerrechtlichen Abschreibungsvorschriften entkoppelt; es wird eine Verteilung der
Anschaffungs- oder Herstellungskosten eines Wirtschaftsguts (von mehr als 500 EUR) auf den Zeitraum angeordnet,
der dem für das Wirtschaftsgut maßgeblichen Berichtigungszeitraum nach § 15a UStG entspricht. Der ausführlichen
Gesetzesbegründung (vgl. BTDrucks 15/3677, S. 40) lässt sich entnehmen, dass dem Gesetzgeber bewusst war, dass
er eine materielle Änderung vornimmt und nicht nur eine klarstellende Anpassung.
31 Der Gesetzgeber hat für diese Gesetzesänderung nur eine Rückwirkung zum 1. Juli 2004 angeordnet. Die Ansicht des
BMF, der Gesetzgeber habe eine weitergehende Rückwirkung sowohl für nicht erforderlich als auch für zu weitgehend
erachtet, zumal für die Besteuerung der unentgeltlichen Verwendung von Gebäuden bereits mit dem BMF-Schreiben
vom 13. April 2004 eine Regelung existiert habe, ist mit der eindeutigen gesetzlichen Rückwirkungsbestimmung
unvereinbar.
32 c) Schon aus diesen Gründen kann eine Rückwirkung auf noch "offene" Umsatzsteuerfestsetzungen gemäß dem
BMF-Schreiben in BStBl I 2004, 468 nicht mit einer lediglich geänderten Auslegung des Kostenbegriffs begründet
werden. Abgesehen davon, dass hierdurch nicht die dazu vorliegende Rechtsprechung des BFH beseitigt wird,
vermag das BMF-Schreiben in BStBl I 2004, 468 auch die bisherige Verwaltungsübung nicht außer Kraft zu setzen.
33 Das BMF kann die Zulässigkeit der Rückwirkung seiner im Schreiben vom 13. April 2004 auf noch "offene"
Steuerfestsetzungen früherer Besteuerungszeiträume auch nicht mit Erfolg auf die Begründung stützen, ein Vertrauen
der Klägerin auf die Beibehaltung der bis dahin existierenden Verwaltungsmeinung sei nicht schutzwürdig gewesen,
ihr Anspruch verstoße gegen das Verbot des venire contra factum proprium.
34 Vielmehr stützt sich die Klägerin auf eine rechtmäßige, wenn auch der gesetzlichen Zielsetzung nicht förderliche
rechtliche Ausgangslage, die sich durch die Aufdeckung nationaler Umsetzungsmängel durch die EuGH-
Rechtsprechung ergeben hatte.
35 d) Die Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache Seeling in BStBl II 2004, 378 und ihr nachfolgend des BFH in
BFHE 203, 206, BStBl II 2004, 371 interpretiert die bereits anfängliche bestehende Rechtslage zur Zuordnung nur
teilweise unternehmerisch verwendeter Grundstücke zum Unternehmen und dem daraus resultierenden
"Eigenverbrauch" und dessen Wirkung auf den Vorsteuerabzug; als Auslegung des Gemeinschaftsrechts gilt sie daher
auch rückwirkend.
36 In der Rechtssache Wollny in BFH/NV Beilage 2007, 66 hat der EuGH klargestellt, dass daraus keine rechtlich
zwingende Verknüpfung mit der Höhe der Bemessungsgrundlage für die Besteuerung der nichtunternehmerischen
Verwendung solcher Gegenstände folgt, diese vielmehr vom nationalen Gesetzgeber unterschiedlich gestaltet werden
kann. Auf den Aspekt einer sachlogischen inneren Abhängigkeit von der Seeling-Rechtsprechung kann eine
Rückwirkung der nachfolgenden Änderung der Verwaltungspraxis zur Bemessungsgrundlage nicht gestützt werden.
Anders als im Fall des BFH-Urteils vom 7. Juli 2005 V R 32/04 (BFHE 211, 74, BStBl II 2005, 907) gibt die Richtlinie
77/388/EWG hier keine eindeutige Regelung vor; außerdem handelte es sich in diesem Fall um eine gesetzlich
angeordnete Rückwirkung zur Schließung einer offenkundigen Lücke und nicht um eine rückwirkende
Verwaltungsanweisung. Der nationale Gesetzgeber hat eine gesetzliche Änderung erst mit Wirkung vom 1. Juli 2004
vorgenommen; auch deshalb kann die vorangehende Verwaltungsauffassung nicht mit Wirkung für einen früheren
Zeitpunkt geändert werden (vgl. auch BFH-Beschluss vom 27. Februar 2003 V B 166/02, BFH/NV 2003, 874, wonach
eine rückwirkende steuererhöhende Anwendung einer neuen gesetzlichen Vorschrift durch Auslegung des bisherigen
Gesetzes im Sinne der Neuregelung nicht für Zeiträume erfolgen darf, für die der Gesetzgeber keine Rückwirkung
angeordnet hat).