Urteil des BAG vom 07.07.2020

Vorabentscheidungsersuchen - Erlöschen des Urlaubsanspruchs - ununterbrochene Langzeiterkrankung

Bundesarbeitsgericht
Vorlagebeschluss (EuGH) vom 7. Juli 2020
Neunter Senat
- 9 AZR 401/19 (A) -
ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR401.19A.0
I. Arbeitsgericht Paderborn
Urteil vom 4. April 2019
- 2 Ca 1602/18 -
II. Landesarbeitsgericht Hamm
Urteil vom 24. Juli 2019
- 5 Sa 676/19 -
Entscheidungsstichworte:
Vorabentscheidungsersuchen - Urlaub - Langzeiterkrankung
Leitsatz:
Der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts ersucht den Gerichtshof der
Europäischen Union um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV über die
Frage, ob das Unionsrecht das Erlöschen des Urlaubsanspruchs bei
einer
ununterbrochen fortbestehenden Erkrankung
des Arbeitnehmers 15 Mo-
nate nach Ablauf des Urlaubsjahres oder einer längeren Frist auch dann
gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegen-
heiten nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt
der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können.
ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR401.19A.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZR 401/19 (A)
5 Sa 676/19
Landesarbeitsgericht
Hamm
Verkündet am
7. Juli 2020
BESCHLUSS
Brüne, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
7. Juli 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Dr. Kiel, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Weber, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Zimmermann sowie den ehrenamtlichen Richter Müller und
die ehrenamtliche Richterin Lipphaus beschlossen:
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9 AZR 401/19 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR401.19A.0
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I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird nach
Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung über folgende
Fragen ersucht:
1. Stehen Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Par-
laments und des Rates vom 4. November 2003 über
bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und
Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union der Auslegung einer nationalen
Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen, der zufolge
der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jah-
resurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeits-
unfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor
Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr - zumindest
teilweise - noch hätte nehmen können, bei ununter-
brochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Mo-
nate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall
erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer
nicht durch entsprechende Aufforderung und Hin-
weise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Ur-
laubsanspruch auszuüben?
2. Sofern die Frage zu 1. bejaht wird: Ist unter diesen
Voraussetzungen bei fortbestehender Arbeitsunfähig-
keit auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt aus-
geschlossen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vor-
abentscheidungsverfahren ausgesetzt.
Gründe
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 7
Abs. 1 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom
4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Richtli-
nie 2003/88/EG) und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der
Europäischen Union (Charta).
A.
Gegenstand des Ausgangsverfahrens
Die Parteien streiten über das Bestehen von Urlaubsansprüchen der Klä-
gerin aus dem Jahr 2017.
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Die bei der Beklagten beschäftigte Klägerin ist seit ihrer Erkrankung im
Verlauf des Jahres 2017 durchgehend arbeitsunfähig. Ihren gesetzlichen Urlaub
für das Jahr 2017 nahm sie nicht vollständig in Anspruch. Die Beklagte hatte die
Klägerin weder aufgefordert, ihren Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen,
dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungs-
zeitraums verfallen kann. Mit der Klage begehrt die Klägerin festzustellen, dass
ihr die restlichen 14 Urlaubstage aus dem Kalenderjahr 2017 weiterhin zustehen.
Sie hat die Auffassung vertreten, der Urlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte
es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Die
Beklagte hat geltend gemacht, der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 sei spä-
testens mit Ablauf des 31. März 2019 erloschen.
Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt
die Klägerin ihr Klageziel weiter.
B.
Das einschlägige nationale Recht
Im Bundesurlaubsgesetz, das auf das Arbeitsverhältnis der Parteien An-
wendung findet, heißt es ua.:
§ 7
Zeitpunkt, Übertragbarkeit und Abgeltung des Urlaubs
(1) Bei der zeitlichen Festlegung des Urlaubs sind die Ur-
laubswünsche des Arbeitnehmers zu berücksichtigen,
es sei denn, dass ihrer Berücksichtigung dringende
betriebliche Belange oder Urlaubswünsche anderer
Arbeitnehmer, die unter sozialen Gesichtspunkten
den Vorrang verdienen, entgegenstehen. Der Urlaub
ist zu gewähren, wenn der Arbeitnehmer dies im An-
schluss an eine Maßnahme der medizinischen Vor-
sorge oder Rehabilitation verlangt.
(2) Der Urlaub ist zusammenhängend zu gewähren, es
sei denn, dass dringende betriebliche oder in der Per-
son des Arbeitnehmers liegende Gründe eine Teilung
des Urlaubs erforderlich machen. Kann der Urlaub
aus diesen Gründen nicht zusammenhängend ge-
währt werden, und hat der Arbeitnehmer Anspruch auf
Urlaub von mehr als zwölf Werktagen, so muss einer
der Urlaubsteile mindestens zwölf aufeinanderfol-
gende Werktage umfassen.
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(3) Der Urlaub muss im laufenden Kalenderjahr gewährt
und genommen werden. Eine Übertragung des Ur-
laubs auf das nächste Kalenderjahr ist nur statthaft,
wenn dringende betriebliche oder in der Person des
Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im
Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten
drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt
und genommen werden. Auf Verlangen des Arbeit-
nehmers ist ein nach § 5 Abs. 1 Buchstabe a entste-
hender Teilurlaub jedoch auf das nächste Kalender-
jahr zu übertragen.
(4) Kann der Urlaub wegen Beendigung des Arbeitsver-
hältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt
werden, so ist er abzugelten.“
C.
Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
Die Richtlinie 2003/88/EG lautet auszugsweise:
Artikel 7
Jahresurlaub
(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnah-
men, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindest-
jahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedin-
gungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung er-
hält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/
oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgese-
hen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Been-
digung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzi-
elle Vergütung ersetzt werden.“
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es ua.:
Artikel 31
Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das
Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf
tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf be-
zahlten Jahresurlaub.“
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D.
Nationale Rechtsprechung
I.
Der gesetzliche Mindesturlaub entsteht gemäß §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG für
das Kalenderjahr als Urlaubsjahr und muss nach § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG im lau-
fenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Ur-
laubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft,
wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende
Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub nach § 7
Abs. 3 Satz 3 BUrlG grundsätzlich in den ersten drei Monaten des folgenden Ka-
lenderjahrs gewährt und genommen werden; andernfalls erlischt er nach § 7
Abs. 3 Satz 3 BUrlG. Das Bundesarbeitsgericht hat diese Bestimmungen unter
Beachtung der Entscheidungen des Gerichtshofs unter zwei Aspekten richtlinien-
konform ausgelegt:
1.
Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November
2018
zu Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie zu Art. 31 Abs. 2 der Charta hat
das Bundesarbeitsgericht erkannt, dass bei einer mit Art. 7 der Richtli-
nie 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG der Anspruch auf den ge-
setzlichen Mindesturlaub grundsätzlich nur dann am Ende des Kalenderjahres
oder eines zulässigen Übertragungszeitraums
erlischt, wenn der Arbeitgeber den Arbeitneh-
mer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und
der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch aus freien Stücken nicht genommen hat.
a)
In richtlinienkonformer Auslegung von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den
Arbeitgeber die Initiativlast bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Be-
fristung des Urlaubsanspruchs nach § 7 Abs. 3 BUrlG setzt grundsätzlich voraus,
dass der Arbeitgeber konkret und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass
der Arbeitnehmer tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu
nehmen. Dazu muss er den Arbeitnehmer - erforderlichenfalls förmlich - auffor-
dern, seinen Urlaub zu nehmen, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der
Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn
er ihn nicht beantragt
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. Zudem darf der Arbeitgeber, will er seinen Mitwirkungsoblie-
genheiten genügen, den Arbeitnehmer nicht in sonstiger Weise daran hindern,
den Urlaub in Anspruch zu nehmen
.
b)
Hat der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nicht entspro-
chen, tritt der am 31. Dezember des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem
Urlaubsanspruch hinzu, der am 1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gel-
ten, wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7
Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG. Der Arbeitgeber kann deshalb das uneinge-
schränkte Kumulieren von Urlaubsansprüchen aus mehreren Jahren dadurch
vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurück-
liegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt. Nimmt der Arbeitneh-
mer in einem solchen Fall den kumulierten Urlaubsanspruch im laufenden Ur-
laubsjahr nicht wahr, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, verfällt der Urlaub
am Ende des Kalenderjahres bzw. eines (zulässigen) Übertragungszeitraums
. Die
Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts bezogen sich jeweils auf Sachver-
halte, in denen die Arbeitnehmer nicht langzeiterkrankt waren.
2.
Das Bundesarbeitsgericht hat außerdem unter Beachtung der Recht-
sprechung des Gerichtshofs vom 20. Januar 2009
und vom 22. November 2011
entschieden, dass der gesetz-
liche Urlaub nach § 7 Abs. 3 BUrlG nicht verfällt, wenn der Arbeitnehmer bis zum
Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums krankheitsbedingt
arbeitsunfähig ist und es ihm deshalb nicht möglich ist, den Urlaub zu nehmen.
Der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch tritt in diesem Fall zu dem im Folgejahr
entstandenen Urlaubsanspruch hinzu und ist damit erneut nach § 7 Abs. 3 BUrlG
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befristet. Er erlischt allerdings bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate
nach dem Ende des Urlaubsjahres
.
II.
Im Nachgang zur Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018
be-
durfte es bisher noch keiner Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts darüber,
ob und in welchen Fällen Urlaubsansprüche langzeiterkrankter Arbeitnehmer bei
fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres
erlöschen
. Mit dem Gerichtshof geht das Bun-
desarbeitsgericht davon aus, dass ein Erlöschen von Urlaubsansprüchen in Fäl-
len, in denen es dem Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaub zu nehmen,
nur ausnahmsweise in Betracht kommt, wenn besondere Umstände vorliegen,
die den Verfall des Urlaubs rechtfertigen
. Solche besonderen Umstände
bestehen nach der Rechtsprechung des Senats grundsätzlich nicht, wenn der
Arbeitnehmer nicht in der Lage war, seinen Urlaub zu nehmen, weil der Arbeit-
geber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen
ist
, oder weil
er den Arbeitnehmer in sonstiger Weise daran gehindert hat,
seinen Urlaubsan-
spruch zu realisieren
. Die vom Senat unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des
Gerichtshofs entwickelten Rechtsgrundsätze zum Verfall von Urlaubsansprüchen
bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers sind jedoch in Fällen der Lang-
zeiterkrankung von Arbeitnehmern weiter aufeinander abzustimmen. In den fol-
genden Fallkonstellationen ist - nach dem Verständnis des Senats - eine mit dem
Unionsrecht in Einklang stehende Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG möglich, ohne
dass es insoweit einer Vorabentscheidung des Gerichtshofs bedarf.
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1.
Hat der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten rechtzeitig erfüllt,
ist § 7 Abs. 3 BUrlG unverändert richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der
gesetzliche Urlaubsanspruch eines seit Beginn oder im Verlauf des Urlaubsjah-
res arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei ununterbrochen fortbestehen-
der Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres verfällt. Besteht
die Arbeitsunfähigkeit bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgen-
den Jahres fort, liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des Urlaubs-
anspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses des Arbeitgebers vor
dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen, obwohl es
dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsanspruch zu ver-
wirklichen. Dies ist durch das Urteil des Gerichtshofs vom 25. Juni 2020
geklärt
.
2.
Hat der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten
nicht erfüllt und war es dem Arbeitnehmer bis zum 31. März des zweiten auf das
Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres allein aufgrund durchgehend bestehender
krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht möglich, den Urlaub zu nehmen, ist
§ 7 Abs. 3 BUrlG richtlinienkonform dahin auszulegen, dass der Anspruch des
Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub erlischt. Dies betrifft den Urlaub für
Urlaubsjahre, in denen der Arbeitnehmer durchgehend arbeitsunfähig krank war
und deshalb - unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seine Aufforderungs- und
Hinweisobliegenheiten erfüllt hat - überhaupt keinen Urlaub nehmen konnte.
Auch in diesem Fall ist von besonderen Umständen auszugehen, die den Verfall
des Urlaubsanspruchs rechtfertigen.
a)
Allerdings bestehen - anders als von den Vorinstanzen im vorliegenden
Rechtsstreit angenommen - die Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des
Arbeitgebers regelmäßig auch, wenn und solange der Arbeitnehmer arbeitsunfä-
hig ist. Sie können ihren Zweck erfüllen, weil sich die Dauer der Erkrankung nicht
von vornherein absehen lässt.
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aa)
Dem Arbeitgeber ist es möglich, den arbeitsunfähigen Arbeitnehmer ent-
sprechend den gesetzlichen Vorgaben
rechtzeitig und zutreffend über den Umfang
und die Befristung des Urlaubsanspruchs unter Berücksichtigung des bei einer
langandauernden Erkrankung geltenden Übertragungszeitraums zu unterrichten.
Der Arbeitgeber ist nicht gehindert, den Arbeitnehmer rechtzeitig aufzufordern,
den Urlaub bei Wiedergenesung vor Ablauf des Urlaubsjahres oder des Übertra-
gungszeitraums zur Vermeidung des Verfalls so rechtzeitig zu beantragen, dass
er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres oder des Übertragungszeitraums ge-
währt und genommen werden kann.
bb)
Die Aufforderungen und Hinweise des Arbeitgebers sind auch nicht ent-
behrlich. Das Bundesurlaubsgesetz ermöglicht es dem Arbeitnehmer mit den Re-
gelungen in § 7 Abs. 1 und Abs. 2 BUrlG, durch seine Urlaubswünsche, die sich
auf das gesamte Urlaubsjahr bzw. ggf. den zulässigen Übertragungszeitraum be-
ziehen können, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig
gestaffelt und geplant werden können
. Die rechtzeitige Erfüllung
der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten stellt sicher, dass der Arbeitneh-
mer die durch das Bundesurlaubsgesetz mit § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG intendierte
Dispositionsmöglichkeit hinsichtlich des Zeitraums der Inanspruchnahme des Ur-
laubs nutzen und ab dem ersten Arbeitstag nach seiner Wiedergenesung Urlaub
in Anspruch nehmen kann, sofern der Arbeitgeber nicht berechtigt ist, die Ge-
währung von Urlaub nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 BUrlG abzulehnen.
b)
Jedoch ist die Befristung des Urlaubsanspruchs bei einem richtlinienkon-
formen Verständnis des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht von der Erfüllung der Aufforde-
rungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es - was erst im Nachhinein
feststellbar ist - objektiv unmöglich gewesen wäre, den Arbeitnehmer durch Mit-
wirkung des Arbeitgebers in die Lage zu versetzen, den Urlaubsanspruch zu re-
alisieren.
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aa)
Der Zweck der aus § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG abgeleiteten Obliegenheiten,
zu verhindern, dass der Arbeitnehmer den Urlaubsanspruch verliert, weil er ihn
in Unkenntnis der Befristung und des damit einhergehenden Risikos des
Erlöschens nicht rechtzeitig gegenüber dem Arbeitgeber geltend macht
, bestimmt nicht nur
den Inhalt der rechtlich gebotenen Aufforderungen und Hinweise
, sondern ist auch auf der
Rechtsfolgenseite zu berücksichtigen.
(1)
Regelmäßig ist dem Arbeitgeber die Berufung auf die Befristung und das
Erlöschen des Urlaubsanspruchs versagt, wenn er seine Aufforderungs- und Hin-
weisobliegenheiten nicht erfüllt hat, denn ein verständiger Arbeitnehmer hätte bei
gebotener Aufforderung und Unterrichtung seinen Urlaub typischerweise recht-
zeitig vor dem Verfall beantragt
.
(2)
Anders verhält es sich, wenn auch bei Erfüllung der Aufforderungs- und
Hinweisobliegenheiten deren Zweck nicht hätte erreicht werden können, es dem
Arbeitnehmer zu ermöglichen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber
zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt
. Unter diesen Umständen ist es
dem Arbeitgeber, der seinen Obliegenheiten nicht nachgekommen ist, nicht ver-
wehrt, sich auf die Befristung und das Erlöschen des Urlaubsanspruchs zu beru-
fen. War der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum
31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfä-
hig oder trat die bis zu diesem Zeitpunkt fortbestehende Arbeitsunfähigkeit im
Verlauf des Urlaubsjahres ein, ohne dass dem Arbeitnehmer vor deren Beginn
(weiterer) Urlaub hätte gewährt werden können, sind nicht Handlungen oder Un-
terlassungen des Arbeitgebers, sondern allein die Arbeitsunfähigkeit des Arbeit-
nehmers für den Verfall des Urlaubs kausal. Der Urlaubsanspruch ist auf eine
bezahlte Befreiung von der Arbeitspflicht gerichtet
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. Kann der Arbeitnehmer die geschuldete Arbeitsleistung krankheitsbe-
dingt nicht erbringen, wird ihm die Arbeitsleistung unmöglich. Er wird nach § 275
Abs. 1 BGB von der Pflicht zur Arbeitsleistung frei. Eine Befreiung von der Ar-
beitspflicht durch Urlaubsgewährung ist deshalb rechtlich unmöglich
.
bb)
Dieses Ergebnis steht nach Überzeugung des Senats im Einklang mit
der durch den Gerichtshof gefundenen Auslegung des Unionsrechts. Die gemäß
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta bestehende Ob-
liegenheit des Arbeitgebers, den Arbeitnehmer ua. erforderlichenfalls mittels ent-
sprechender Aufforderungen und Hinweise in die Lage zu versetzen, den Urlaub
wahrzunehmen
, dient nach Feststellung des
Gerichtshofs der Vermeidung einer Situation, in der die Aufgabe, für die tatsäch-
liche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu sorgen, voll-
ständig auf den Arbeitnehmer verlagert würde, während der Arbeitgeber die Mög-
lichkeit erhielte, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeit-
nehmers seinen eigenen Pflichten zu entziehen
. Ein Arbeitnehmer, der während des Bezugs- und/oder Übertragungs-
zeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist, kann seinen Anspruch auf bezahl-
ten Jahresurlaub nicht ausüben
. Eine freie Entscheidung
über die Verwirklichung des Anspruchs ist - ohne dass es auf die Aufforderungen
und Hinweise des Arbeitgebers ankäme - von vornherein ausgeschlossen, weil
die Arbeitsunfähigkeit auf psychischen oder physischen Beschwerden beruht und
vom Willen des Arbeitnehmers unabhängig ist
.
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E.
Erforderlichkeit
der
Entscheidung
des
Gerichtshofs
der
Europäischen Union und Erläuterung der Vorlagefragen
Für die Entscheidung des Rechtstreits bedarf es einer Klärung durch den
Gerichtshof, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs bei ununter-
brochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubs-
jahres oder ggf. einer längeren Frist auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber
seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht erfüllt hat und der Arbeit-
nehmer den Urlaub im Urlaubsjahr bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumin-
dest noch teilweise hätte nehmen können. Seit dem Ablauf der Umsetzungsfrist
für die erste Arbeitszeitrichtlinie 93/104/EG am 23. November 1996 ist das Uni-
onsrecht bei der Auslegung und Anwendung des § 7 Abs. 3 BUrlG zu berück-
sichtigen
. Für das Verständnis der Bestimmung
kommt es daher auf die Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG sowie
von Art. 31 Abs. 2 der Charta an. Darüber kann der Senat nicht befinden, ohne
den Gerichtshof anzurufen, dem nach Art. 267 AEUV die Aufgabe der verbindli-
chen Auslegung des Unionsrechts zugewiesen ist.
I.
Erläuterung der ersten Vorlagefrage
1.
Nach Erkenntnis des Gerichtshofs ist Art. 7 Abs. 1 der Richtli-
nie 2003/88/EG dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften
oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, die die Möglichkeit für einen während
mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmer, Ansprüche
auf bezahlten Jahresurlaub anzusammeln, dadurch einschränken, dass sie einen
Übertragungszeitraum von 15 Monaten vorsehen, nach dessen Ablauf der An-
spruch auf bezahlten Urlaub erlischt
. Ein Zeitraum von 15 Monaten, in dem die
Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub möglich ist, entspricht
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nach der Feststellung des Gerichtshofs unter Berücksichtigung der schutzwürdi-
gen Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Anforderungen der Richt-
linie 2003/88/EG und läuft dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresur-
laub nicht zuwider, weil er dessen positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Er-
holungszeit gewährleistet
.
a)
Gestattete es das Unionsrecht, diese Grundsätze auch im Fall einer im
Verlauf des Urlaubsjahres eintretenden Erkrankung anzuwenden, obwohl der Ar-
beitgeber den Arbeitnehmer vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit nicht durch ent-
sprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, sei-
nen Urlaubsanspruch auszuüben und der Urlaub vor der Erkrankung im Urlaubs-
jahr - zumindest teilweise - noch hätte genommen werden können, wäre die Re-
vision der Klägerin unbegründet. Ihr Urlaubsanspruch für das Jahr 2017 wäre
gemäß § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG spätestens mit Ablauf des 31. März 2019 erlo-
schen
.
b)
Demgegenüber wäre die Revision der Klägerin im Sinne einer Zurück-
verweisung der Sache an das Berufungsgericht begründet, wenn das Unions-
recht unter den genannten Umständen bei unterlassenen Aufforderungen und
Hinweisen des Arbeitgebers eine Auslegung von § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG nicht
zuließe, der zufolge der aus gesundheitlichen Gründen nicht erfüllbare gesetzli-
che Urlaubsanspruch bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers mit
Ablauf eines Übertragungszeitraums von 15 Monaten untergeht. Über das Be-
stehen des Urlaubsanspruchs der Klägerin wäre unter Beachtung der unions-
rechtlichen Grundsätze erneut zu befinden.
2.
Durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bislang - soweit ersicht-
lich - nicht zweifelsfrei geklärt, ob und unter welchen Voraussetzungen der An-
spruch auf bezahlten Jahresurlaub im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig
erkrankter Arbeitnehmer bei seither ununterbrochen fortbestehender Arbeitsun-
fähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlöschen kann, wenn der
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Arbeitgeber seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekom-
men ist. Für diesen Fall stellt sich mit Blick - einerseits - auf die Entscheidung des
Gerichtshofs vom 22. November 2011
und - andererseits -
ua. die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November 2018
die Frage, ob mit
Rücksicht auf den Erholungszweck des Urlaubs der Grundsatz, dass das Erlö-
schen des Anspruchs von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegen-
heiten abhängt, nur eingeschränkt gilt.
a)
Ausgangspunkt ist die Entscheidung des Gerichtshof vom 6. November
2018
, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta einer
nationalen Regelung entgegensteht, nach der ein Arbeitnehmer, der im Bezugs-
zeitraum keinen Antrag auf Wahrnehmung seines gemäß diesen Bestimmungen
erworbenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, automatisch,
ohne vorherige Prüfung, ob der Arbeitgeber ihn tatsächlich in die Lage versetzt
hat, diesen Anspruch wahrzunehmen, am Ende des Bezugszeitraums die ihm für
diesen Zeitraum zustehenden Urlaubstage verliert
.
aa)
In diesem Urteil hat der Gerichtshof betont, dass jede Praxis oder Unter-
lassung eines Arbeitgebers, die den Arbeitnehmer davon abhalten kann, den
Jahresurlaub zu nehmen, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte
Ziel verstößt
. Der Arbeitgeber, der einen Arbeitnehmer nicht in die Lage versetzt
hat, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub auszuüben, habe die sich hie-
raus ergebenden Folgen zu tragen
.
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bb)
Gölten diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr, in dem die
seither ununterbrochen fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers
eingetreten ist, träte ein Verfall des Urlaubs auch 15 Monate nach Ablauf dieses
Urlaubsjahres insoweit nicht ein, als der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei
rechtzeitiger Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn
seiner Erkrankung noch hätte in Anspruch nehmen können. Der Arbeitgeber
hätte bei Unterlassen der gebotenen Aufforderung und Hinweise das Risiko zu
tragen, dass der Urlaubsanspruch nicht vollständig verfällt, auch wenn der Ar-
beitnehmer über den 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Ur-
laubsjahres hinaus arbeitsunfähig ist. Er könnte dieses Risiko faktisch nur dann
ausschließen, wenn er seinen Obliegenheiten bereits zu Beginn des Kalender-
jahres nachkäme. Der Arbeitnehmer hätte unter den genannten Voraussetzun-
gen (nur dann) das Risiko zu tragen, den Urlaubsanspruch wegen einer im Ver-
lauf des Urlaubsjahres eintretenden, unter Umständen langandauernden Arbeits-
unfähigkeit nicht mehr in vollem Umfang realisieren zu können, wenn der Arbeit-
geber die Mitwirkungsobliegenheiten - in diesem Sinne - rechtzeitig erfüllt und
damit die Voraussetzungen der Befristung des Urlaubsanspruchs nach § 7
Abs. 3 BUrlG geschaffen hat.
b)
Demgegenüber hat der Gerichtshof mit Urteil vom 22. November 2011
erkannt, dass mit dem in Art. 31 Abs. 2 der Charta und in
Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG verankerten Anspruch auf bezahlten Jahresur-
laub ein doppelter Zweck verfolgt wird, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer
zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeits-
vertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum
für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Ein Recht auf ein unbegrenztes An-
sammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus mehreren Bezugszeit-
räumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erworben wurden,
entspräche nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub
. Dessen positive Wir-
kung für die Sicherheit und die Gesundheit des Arbeitnehmers verliere zwar nicht
an Bedeutung, wenn der Urlaub zu einer späteren Zeit genommen werde. Der
Urlaub könne seiner Zweckbestimmung jedoch nur insoweit entsprechen, als der
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ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR401.19A.0
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Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreite. Über eine solche
Grenze hinaus fehle dem Jahresurlaub seine positive Wirkung für den Arbeitneh-
mer als Erholungszeit; erhalten bleibe ihm lediglich seine Eigenschaft als Zeit-
raum für Entspannung und Freizeit
.
aa)
Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hat der Gerichtshof festge-
stellt, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG einzelstaatlichen Rechtsvor-
schriften nicht entgegensteht, die in Fällen der Langzeiterkrankung von Arbeit-
nehmern einen auf 15 Monate begrenzten Übertragungszeitraum vorsehen, nach
dessen Ablauf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erlischt
.
bb)
Fänden diese Grundsätze auch bezogen auf das Urlaubsjahr Anwen-
dung, in dem die seither ununterbrochen fortbestehende Arbeitsunfähigkeit des
Arbeitnehmers eingetreten ist, könnte dieser Urlaub 15 Monate nach Ablauf die-
ses Urlaubsjahres auch dann verfallen, wenn der Arbeitgeber seinen Aufforde-
rungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen ist. Vor der Erkrankung
liegende Ansprüche aus dem Urlaubsjahr würden dann erlöschen, auch soweit
der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub bei rechtzeitiger Erfüllung der Aufforde-
rungs- und Hinweisobliegenheiten vor Beginn seiner Erkrankung noch hätte in
Anspruch nehmen können.
c)
Die Bewertung, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2
der Charta im Hinblick auf den Erholungszweck des Anspruchs auf bezahlten
Jahresurlaub eine Einschränkung des Grundsatzes, demzufolge die Befristung
des Urlaubsanspruchs die Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten voraussetzt,
zulassen, wenn Arbeitnehmer aus Krankheitsgründen daran gehindert waren,
den Urlaub zu nehmen, sie den Urlaubsanspruch aber vor Eintritt ihrer Arbeits-
unfähigkeit im Verlauf des Urlaubsjahres bei Erfüllung der Aufforderungs- und
Hinweisobliegenheiten noch hätten realisieren können, hat der Gerichtshof bis-
her nicht vorgenommen; die unter Rn. 35 f. genannten Entscheidungen betrafen
nicht den Urlaubsanspruch von Arbeitnehmern, die - wie die Klägerin - langzeit-
erkrankt waren. Die mit den Vorabentscheidungsersuchen gestellte erste Frage
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ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR401.19A.0
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ist daher aus Sicht des Senats bisher durch den Gerichtshof nicht geklärt. Ebenso
ist durch den Gerichtshof bisher nicht geklärt, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG
und Art. 31 Abs. 2 der Charta einen Zeitpunkt im Urlaubsjahr vorgeben, bis zu
dem der Arbeitgeber spätestens seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenhei-
ten nachzukommen hat, um den Anforderungen an
deren „Rechtzeitigkeit“ im
Sinne des Unionsrechts zu genügen, was für die unter Rn. 37 dargestellte und
ggf. - unter Beachtung der Beantwortung des Vorlageersuchens durch den Ge-
richtshof - vorzunehmende Risikoverteilung von Bedeutung ist.
3.
Der Senat kann erst nach der Auslegung von Art. 7 der Richtli-
nie 2003/88/EG und Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof beurteilen,
ob und inwieweit § 7 Abs. 3 BUrlG - unter Berücksichtigung des gesamten inner-
staatlichen Rechts und unter Anwendung der danach anerkannten Auslegungs-
methoden - so ausgelegt werden kann, dass die volle Wirksamkeit des Unions-
rechts gewährleistet wird, ohne eine Auslegung contra legem zu erfordern
.
Dabei schließt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung im deut-
schen Recht - wo dies nötig und möglich ist - das Gebot einer richtlinienkonfor-
men Rechtsfortbildung ein
.
4.
Der Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 6. November 2018
aus-
geführt, dass eine nationale Regelung über den Verfall des Urlaubs nicht anzu-
wenden sei, wenn sie nicht im Einklang mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und
Art. 31 Abs. 2 der Charta ausgelegt werden könne. Das nationale Gericht habe
aber auch dann dafür Sorge zu tragen, dass der Arbeitnehmer, wenn der Arbeit-
geber nicht nachweisen könne, dass er ihn tatsächlich in die Lage versetzt habe,
den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen,
seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub nicht verliere
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ECLI:DE:BAG:2020:070720.B.9AZR401.19A.0
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. Stehe dem Arbeitnehmer in einem Rechtsstreit ein
staatlicher Arbeitgeber gegenüber, ergebe sich dieses Ergebnis aus Art. 7 der
Richtlinie 2003/88/EG und aus Art. 31 Abs. 2 der Charta. Stehe ihm ein privater
Arbeitgeber gegenüber, folge dies aus Art. 31 Abs. 2 der Charta
. Die Beklagte ist eine Gesellschaft mit be-
schränkter Haftung (GmbH), dh. ein privater Arbeitgeber. Sollte § 7 Abs. 3 BUrlG
einer unionsrechtskonformen Auslegung nicht zugänglich sein, was allerdings
erst auf der Grundlage der Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und
Art. 31 Abs. 2 der Charta durch den Gerichtshof festgestellt werden könnte,
stellte sich die Frage, ob § 7 Abs. 3 BUrlG - ggf. teilweise - unangewendet zu
lassen wäre.
II.
Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
Sollte der Gerichtshof die erste Vorlagefrage bejahen, ist es für den
Rechtsstreit entscheidungserheblich, ob Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG und
Art. 31 Abs. 2 der Charta unter den in der Frage zu 1. genannten Umständen der
Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegensteht der
zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub zu einem
späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres erlischt, wenn
die Arbeitsunfähigkeit - wie bei der Klägerin - über den 31. März des zweiten auf
das Urlaubsjahr folgenden Jahres hinaus ununterbrochen fortbesteht. Auch diese
Frage ist bislang - soweit ersichtlich - durch die Entscheidung des Gerichtshofs
vom 6. November 2018
nicht zweifelsfrei geklärt, denn der Gerichtshof hat in seiner
Entscheidung vom 22. November 2011
erkannt, dass ein
unbegrenztes Ansammeln von Ansprüchen auf bezahlten Jahresurlaub aus meh-
reren Bezugszeiträumen, die während eines Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit er-
worben wurden, nicht mehr dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresur-
laub entspricht
.
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1.
Im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs vom 6. November
2018
tritt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts der infolge unter-
lassener Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten am 31. Dezember des Ur-
laubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der am
1. Januar des Folgejahres entsteht. Für ihn gelten, wie für den neu entstandenen
Urlaubsanspruch, die Regelungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 BUrlG
.
2.
Aus Sicht des Senats ist - bejahte der Gerichtshof die erste Vorlage-
frage - durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs bisher nicht geklärt, ob Art. 7
der Richtlinie 2003/88/EG sowie Art. 31 Abs. 2 der Charta es zuließen, dass der
ggf. wegen unterlassener Aufforderung und Hinweise nicht verfallene Urlaubsan-
spruch aus dem fraglichen Urlaubsjahr - im Streitfall das Urlaubsjahr 2017 - bei
fortbestehender Arbeitsunfähigkeit uneingeschränkt das Schicksal des im ersten
Folgejahr - hier das Urlaubsjahr 2018 - entstehenden Urlaubsanspruchs teilt. Der
Urlaub aus dem ersten Folgejahr wäre unabhängig davon, ob der Arbeitgeber
seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten erfüllt hat, nach Ablauf von
15 Monaten verfallen, weil es objektiv unmöglich gewesen wäre, den schon zu
Beginn des ersten Folgeurlaubsjahres weiterhin durchgehend krankheitsbedingt
arbeitsunfähigen Arbeitnehmer durch Mitwirkung des Arbeitgebers in die Lage zu
versetzen, den Urlaubsanspruch zu realisieren
. Ließe das Unionsrecht diese zeitliche Begrenzung der Übertragung
des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu, wäre der Urlaubsanspruch der
Klägerin aus dem Jahr 2017 aufgrund fortbestehender Arbeitsunfähigkeit spätes-
tens 15 Monate nach Ablauf des auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres 2018 er-
loschen, dh. am 31. März 2020.
3.
Ebenfalls ungeklärt ist aus Sicht des Senats, ob der Arbeitgeber auch
nach Eintritt der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers seine Aufforderungs- und
Hinweisobliegenheiten noch erfüllen und so die Befristung des Urlaubsanspruchs
und dessen Erlöschen zu einem späteren Zeitpunkt als 15 Monate nach Ablauf
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9 AZR 401/19 (A)
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des Urlaubsjahres herbeiführen kann, wenn der Arbeitnehmer während der ge-
samten Zeit fortdauernd arbeitsunfähig krank bleibt und deshalb seinen Urlaubs-
anspruch nicht realisieren kann.
Kiel
Weber
Zimmermann
G. Müller
Lipphaus