Urteil des BAG vom 25.08.2020

Tariflicher Mehrurlaub - Befristung- Übertragung - Verfall

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 25. August 2020
Neunter Senat
- 9 AZR 214/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR214.19.0
I. Arbeitsgericht Krefeld
Urteil vom 25. April 2018
- 3 Ca 1944/17 -
II. Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 5. Dezember 2018
- 7 Sa 448/18 -
Entscheidungsstichworte:
Tariflicher Mehrurlaub - Befristung
Leitsatz:
Befristet ein Tarifvertrag den Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub eigen-
ständig und verlangt er zudem, dass der Arbeitnehmer den Mehrurlaub zur
Meidung seines Verfalls vor einem bestimmten Termin geltend zu machen
hat, trägt - abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG - regelmäßig nicht der
Arbeitgeber, sondern der Arbeitnehmer die Initiativlast für die Verwirkli-
chung des Mehrurlaubsanspruchs.
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR214.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
9 AZR 214/19
7 Sa 448/18
Landesarbeitsgericht
Düsseldorf
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
25. August 2020
URTEIL
Brüne, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Beklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Neunte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 25. August 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundes-
arbeitsgericht Prof. Dr. Kiel, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Weber, den
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9 AZR 214/19
ECLI:DE:BAG:2020:250820.U.9AZR214.19.0
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Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Suckow sowie die ehrenamtlichen Richter
Lücke und Neumann-Redlin für Recht erkannt:
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landes-
arbeitsgerichts Düsseldorf vom 5. Dezember 2018
- 7 Sa 448/18 - wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger der tarifliche Mehrurlaub
aus dem Jahr 2016 noch zusteht.
Der Kläger ist seit 1983 bei der Beklagten beschäftigt. Der zwischen dem
Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie e.V., Bonn und der Gewerk-
schaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, Hauptvorstand, Hamburg geschlossene
Bundesmanteltarifvertrag für die Angestellten, gewerblichen Arbeitnehmer und
Auszubildenden in der Süßwarenindustrie vom 1. Februar 2005
, der auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft beiderseitiger Tarifgebun-
denheit Anwendung findet, regelt in den für den Streitzeitraum maßgeblichen
Fassungen ua.:
§ 12
Urlaub
Den Arbeitnehmern steht in jedem Urlaubsjahr ein An-
spruch auf Erholungsurlaub unter Fortzahlung des Arbeits-
entgelts nach Maßgabe der nachstehenden Bestimmungen
zu. Sie gelten, soweit nicht in gesetzlichen Vorschriften
zwingend andere Regelungen enthalten sind.
I.
Urlaubsanspruch und Urlaubsdauer
A.
Urlaub für ständig beschäftigte Arbeitnehmer
1.
Der Anspruch auf den vollen Jahresurlaub kann erst-
malig nach einer ununterbrochenen sechsmonatigen
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9 AZR 214/19
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Betriebszugehörigkeit (Wartezeit) geltend gemacht
werden.
2.
Das Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr.
Das erste Urlaubsjahr ist das Kalenderjahr, in dem die
Wartezeit erfüllt ist.
9.
Die Dauer des Urlaubs beträgt für alle Arbeitnehmer
30 Tage.
IV.
Allgemeines
1.
Der Urlaub soll zusammenhängend nach Möglichkeit
in der Zeit vom 1. April bis 31. Oktober gewährt wer-
den.
Soweit zwingende betriebliche Gründe dem entge-
genstehen, kann eine abweichende Regelung unter
Mitbestimmung des Betriebsrates und Beachtung
des Bundesurlaubsgesetzes getroffen werden. Der
Urlaubsplan wird im Einverständnis mit dem Betriebs-
rat aufgestellt.
Der Zeitpunkt des Urlaubsantritts des einzelnen Ar-
beitnehmers wird vom Arbeitgeber nach Maßgabe
des Betriebsverfassungsgesetzes nach den Be-
triebsnotwendigkeiten unter weitestmöglicher Be-
rücksichtigung der Wünsche der Beschäftigten fest-
gelegt. Der Arbeitgeber ist berechtigt, im Einver-
ständnis mit dem Betriebsrat den Urlaub für den ge-
samten Betrieb oder für Betriebsabteilungen ge-
schlossen zu gewähren.
3.
Der Urlaubsanspruch erlischt am 31. März des fol-
genden Kalenderjahres, sofern er nicht vorher ver-
geblich geltend gemacht worden ist.
4.
Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Urlaubs, so
werden, sofern die Krankheit durch ärztliches Zeug-
nis nachgewiesen wird, die Krankheitstage nicht auf
den Urlaub angerechnet.
Der Arbeitnehmer hat sich jedoch nach terminmäßi-
gem Ablauf seines Urlaubs oder, falls die Krankheit
länger dauert, nach Beendigung der Krankheit dem
Betrieb zur Arbeitsleistung zur Verfügung zu stellen.
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9 AZR 214/19
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§ 14
Ausschlussfrist
Gegenseitige Ansprüche aller Art aus dem Arbeitsverhält-
nis sind innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten
seit Fälligkeit schriftlich geltend zu machen. Der Lauf der
Ausschlussfrist ist in Fällen der Erkrankung des Arbeitneh-
mers gehemmt bis zum Tag seiner Wiederherstellung der
Arbeitsfähigkeit.“
Vom 19. Januar 2016 bis zum 2. Juni 2017 war der Kläger krankheitsbe-
dingt arbeitsunfähig. Am 25. August 2017 beantragte er Urlaub. Die Beklagte
teilte ihm daraufhin am 28. August 2017 mit, aus dem Jahr 2016 seien ihm 20
Arbeitstage gesetzlichen Mindesturlaubs verblieben, während 10 Arbeitstage ta-
riflichen Mehrurlaubs zum 31. März 2017 verfallen seien.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, § 12 IV Ziffer 3 BMTV sei ent-
sprechend § 7 BUrlG unionsrechtskonform auszulegen. Danach bestehe sein
Mehrurlaubsanspruch fort, weil es ihm wegen Krankheit nicht möglich gewesen
sei, den Urlaub zu nehmen, und die Beklagte ihn weder aufgefordert habe, den
Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen habe, dass nicht beantragter Urlaub
verfallen könne. Er begehre die Feststellung seiner Urlaubsansprüche unabhän-
gig davon, ob diese als Primäranspruch oder Ersatzurlaubsanspruch bestünden.
Der Kläger hat zuletzt beantragt
festzustellen, dass er für das Jahr 2016 einen Ersatzur-
laubsanspruch in Höhe von 10 Tagen hat.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffas-
sung vertreten, der tarifliche Mehrurlaub des Klägers für das Jahr 2016 sei mit
Ablauf des 31. März 2017 ersatzlos verfallen. Die Tarifvertragsparteien hätten in
§ 12 BMTV, wie § 12 Satz 2 Eingangsabsatz BMTV und § 12 IV Ziffer 3 BMTV
verdeutlichten, für den tariflichen Urlaubsanspruch ein vollständig eigenständiges
Urlaubsregime geschaffen, das von den Regelungen des Bundesurlaubsgeset-
zes abweiche. Eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 12 IV Ziffer 3 BMTV
komme deshalb nicht in Betracht.
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Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision ver-
folgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
Die Revision hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben die Klage zu
Recht abgewiesen. Dem Kläger stehen aus dem Jahr 2016 keine (restlichen) Ur-
laubsansprüche oder Ersatzurlaubsansprüche zu.
A.
Die Klage ist zulässig. Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind
erfüllt. Der Kläger hat ein besonderes Interesse an der von ihm begehrten Fest-
stellung, weil die Beklagte den von ihm behaupteten Anspruch auf (Ersatz-)Ur-
laub bestreitet
.
B.
Die Klage ist unbegründet.
I.
Der Senat kann ohne Verstoß gegen § 308 Abs. 1 Satz 1 ZPO
über den
Bestand des primären Mehrurlaubsanspruchs aus dem Jahr 2016 entscheiden.
Der Kläger hat ausweislich der Klagebegründung, die bei der Auslegung des Kla-
geantrags zu berücksichtigen ist
, bereits in den Vorinstanzen im Rahmen des zur Entscheidung gestellten
Lebenssachverhalts die Feststellung des Urlaubsanspruchs unabhängig davon
verlangt, auf welcher Anspruchsgrundlage dieser ggf. noch besteht. Er hat den
Klageantrag durchgängig auf die von ihm vertretene Rechtsansicht gestützt, der
Mehrurlaub habe nicht verfallen können, weil § 12 IV Ziffer 3 BMTV entsprechend
§ 7 BUrlG unionsrechtskonform auszulegen sei. Soweit sich der im Berufungs-
verfahren auf Anregung des Gerichts gestellte Klageantrag auf Ersatzurlaub be-
zieht, handelt es sich um eine Bewertung der Rechtsfolgen, die sich aus dem zur
Entscheidung gestellten Lebenssachverhalt ergeben
.
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II.
Dem Kläger steht der tarifliche Mehrurlaub aus dem Jahr 2016 nicht mehr
zu.
1.
Der BMTV findet auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft beiderseiti-
ger Tarifgebundenheit
Anwendung. Der Kläger er-
warb zu Beginn des Jahres 2016 einen tariflichen Urlaubsanspruch von 30 Ar-
beitstagen
, der den gesetzlichen
Urlaubsanspruch einschloss
. Der Urlaubsanspruch ist, soweit
er über den Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub hinausging, nicht durch
Erfüllung gemäß § 362 Abs. 1 BGB erloschen. Dies steht zwischen den Parteien
außer Streit.
2.
Der tarifliche Mehrurlaub des Klägers für das Jahr 2016 ist gemäß § 12
IV Ziffer 3 BMTV verfallen, weil der Kläger dessen Gewährung erstmals nach
dem 31. März 2017 verlangt hat. Die zwischen dem 19. Januar 2016 und dem
2. Juni 2017 durchgehend bestehende krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit
des Klägers stand allein dem Erlöschen seines Anspruchs auf gesetzlichen Min-
desturlaub aus dem Jahr 2016 entgegen. Der Anspruch auf tariflichen Mehrur-
laub ist selbst dann gemäß § 12 IV Ziffer 3 BMTV erloschen, wenn zugunsten
des Klägers unterstellt wird, die Beklagte habe den Kläger weder aufgefordert,
den Mehrurlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht geltend ge-
machter Mehrurlaub mit Ablauf des 31. März 2017 verfallen kann.
a)
Gemäß § 12 IV Ziffer 3 BMTV erlischt der Urlaubsanspruch am 31. März
des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres, sofern er nicht vorher vergeb-
lich geltend gemacht worden ist. Entgegen der Ansicht des Klägers unterliegt da-
nach der Verfall des tariflichen Mehrurlaubs nicht dem gleichen Fristenregime wie
der des gesetzlichen Mindesturlaubs. Dies ergibt die Auslegung der Tarifbestim-
mung.
aa)
§ 7 Abs. 3 BUrlG ist unionsrechtskonform dahingehend auszulegen,
dass der gesetzliche Mindesturlaub
nicht vor Ablauf von
15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitneh-
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mer - wie der Kläger - bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertra-
gungszeitraums krankheitsbedingt arbeitsunfähig ist und es ihm deshalb nicht
möglich ist, den Urlaub zu nehmen. Der aufrechterhaltene Urlaubsanspruch tritt
in diesem Fall zu dem im Folgejahr entstandenen Urlaubsanspruch hinzu und ist
damit erneut nach § 7 Abs. 3 BUrlG befristet. Er kann, ohne Verstoß gegen das
Unionsrecht, bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit frühestens 15 Monate nach
dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen
. Be-
steht die Arbeitsunfähigkeit bis zum 31. März des zweiten auf das Urlaubsjahr
folgenden Jahres fort, liegen besondere Umstände vor, die die Befristung des
Urlaubsanspruchs zum Schutz eines überwiegenden Interesses des Arbeitge-
bers vor dem unbegrenzten Ansammeln von Urlaubsansprüchen rechtfertigen,
obwohl es dem erkrankten Arbeitnehmer nicht möglich war, den Urlaubsan-
spruch zu verwirklichen
. Ein Zeitraum von
15 Monaten, in dem die Übertragung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub
möglich ist, entspricht nach der Feststellung des Gerichtshofs der europäischen
Union unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen von Arbeitnehmer
und Arbeitgeber den Anforderungen der Richtlinie 2003/88/EG und läuft dem
Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwider, weil er dessen
positive Wirkung für den Arbeitnehmer als Erholungszeit gewährleistet
.
bb)
Wäre § 12 IV Ziffer 3 BMTV entsprechend § 7 Abs. 3 BUrlG unions-
rechtskonform auszulegen, bliebe der durch § 12 I A Ziffer 1, Ziffer 2 und Ziffer 9
BMTV begründete Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub, wenn er infolge krank-
heitsbedingter Arbeitsunfähigkeit nicht genommen werden konnte, über den
31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres hinaus erhalten und
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unterläge dem für dieses Urlaubsjahr geltenden Fristenregime. Sein Erlöschen
wäre regelmäßig ausgeschlossen, wenn der Arbeitnehmer - wie der Kläger - die
Gewährung des Mehrurlaubs nach seiner Wiedergenesung vor dem 31. März
des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Jahres verlangt.
cc)
Der BMTV regelt jedoch die Befristung des tariflichen Anspruchs auf
Mehrurlaub abweichend vom Bundesurlaubsgesetz. Eine den gesetzlichen Be-
stimmungen entsprechende unionsrechtskonforme Auslegung von § 12 IV
Ziffer 3 BMTV kommt deshalb nicht in Betracht.
(1)
Die unionsrechtlichen Vorgaben betreffen ausschließlich den gesetzli-
chen Urlaubsanspruch von vier Wochen. Die Tarifvertragsparteien können Ur-
laubs- und Urlaubsabgeltungsansprüche, die den von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie
2003/88/EG gewährleisteten und von §§ 1, 3 Abs. 1 BUrlG begründeten An-
spruch auf Mindestjahresurlaub von vier Wochen übersteigen, frei regeln. Ihre
Regelungsmacht ist nicht durch die für gesetzliche Urlaubsansprüche erforderli-
che richtlinienkonforme Auslegung der §§ 1, 7 BUrlG beschränkt
. Für einen vom Bundesurlaubs-
gesetz abweichenden Regelungswillen der Tarifvertragsparteien müssen deutli-
che Anhaltspunkte vorliegen. Fehlen solche, ist von einem Gleichlauf des gesetz-
lichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub auszuge-
hen
. Der eigenständige,
dem Gleichlauf der Urlaubsansprüche entgegenstehende Regelungswille muss
sich auf den jeweils in Rede stehenden Regelungsgegenstand beziehen. Es ge-
nügt nicht, wenn in einem Tarifvertrag von Regelungen des Bundesurlaubsge-
setzes abgewichen wird, die mit den im Streit stehenden Regelungen nicht in
einem inneren Zusammenhang stehen
. Ein Gleichlauf mit der Befristung des gesetzlichen Mindesturlaubs nach
§ 7 Abs. 3 BUrlG ist danach nicht gewollt, wenn die Tarifvertragsparteien entwe-
der bei der Befristung und Übertragung bzw. beim Verfall des Urlaubs zwischen
gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterschieden oder sich
vom gesetzlichen Fristenregime gelöst und eigenständige, vom BUrlG abwei-
chende Vereinbarungen getroffen haben
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.
(2)
Ausgehend von diesen Grundsätzen weicht die Befristung des tariflichen
Mehrurlaubs vom Bundesurlaubsgesetz ab. Der Tarifvertrag enthält ein eigen-
ständiges, vom BUrlG abweichendes Fristenregime, nach dem tariflicher Mehrur-
laub nach Maßgabe von § 12 IV Ziffer 3 BMTV auch bei fortbestehender Krank-
heit des Arbeitnehmers gemäß drei Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres er-
lischt.
(a)
Ein von § 7 Abs. 3 BUrlG abweichender Regelungswille kommt bereits
im Wortlaut von § 12 BMTV deutlich zum Ausdruck. Nach § 12 IV Ziffer 3 BMTV
erlischt der Anspruch auf Urlaub am 31. März des folgenden Kalenderjahres, so-
fern er nicht vorher vergeblich geltend gemacht worden ist. Dies dokumentiert
den Willen der Tarifvertragsparteien, der Arbeitnehmer könne seinen Urlaub
ohne besondere Gründe und ohne die Notwendigkeit der Übertragung vom 1. Ja-
nuar eines Kalenderjahres bis zum 31. März des Folgejahres geltend machen.
Der Urlaubsanspruch kann abweichend von § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG erstmals mit
Ablauf des 31. März des Folgejahres erlöschen. Das ist, wie das Landesarbeits-
gericht zutreffend erkannt hat, eine wesentliche Abweichung von § 7 Abs. 3
Satz 1 bis 3 BUrlG, mit der sich der Tarifvertrag von dem Fristenregime der ge-
setzlichen Regelung löst. Nach dem Bundesurlaubsgesetz geht der nicht genom-
mene Urlaub grundsätzlich am 31. Dezember des Urlaubsjahres unter und ver-
fällt nur bei Vorliegen der gesetzlichen Übertragungsgründe erst am 31. März des
Folgejahres. Die tarifliche Regelung unterscheidet sich somit einerseits dadurch,
dass der Urlaubsanspruch ohne Übertragungsnotwendigkeit - und damit auch
ohne Übertragungsvoraussetzungen - zumindest bis zum 31. März des Folgejah-
res besteht und genommen werden kann, und zudem sein Erlöschen bei recht-
zeitiger Geltendmachung ausgeschlossen ist. Andererseits wird deutlich, dass
noch offener Urlaub, sofern sich aus § 12 Satz 2 Eingangsabsatz BMTV nichts
Abweichendes ergibt, bei fehlender Geltendmachung ausnahmslos, dh. auch bei
Erkrankung des Arbeitnehmers, am 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden
Kalenderjahres verfallen soll.
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(b)
Die Tarifsystematik bestätigt diese Auslegung des § 12 IV Ziffer 3 BMTV.
Die tariflichen Urlaubsbestimmungen gelten nach § 12 Satz 2 Eingangsabsatz
BMTV nur, soweit nicht in gesetzlichen Vorschriften zwingend andere Regelun-
gen enthalten sind. Die Tarifvertragsparteien haben mit dieser Begrenzung des
Anwendungsbereichs von § 12 BMTV dem unabdingbaren Schutz des gesetzli-
chen Mindesturlaubs
Rechnung getra-
gen, zugleich aber ihre Absicht dokumentiert, den tariflichen Urlaubsanspruch im
Rahmen des gesetzlich Zulässigen eigenständig und unabhängig vom Bundes-
urlaubsgesetz zu regeln. Gleichzeitig haben die Tarifvertragsparteien erkannt,
dass die Erkrankung eines Arbeitnehmers der Wahrung (tariflicher) Rechte ent-
gegenstehen kann. Die tarifliche Ausschlussfrist, die mit § 14 Satz 1 BMTV
grundsätzlich die schriftliche Geltendmachung aller Ansprüche aus dem Arbeits-
verhältnis innerhalb einer Ausschlussfrist von drei Monaten seit Fälligkeit ver-
langt, ist gemäß § 14 Satz 2 BMTV in Fällen der Erkrankung des Arbeitnehmers
bis zum Tag der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit gehemmt. Wäre es die
Absicht der Tarifvertragsparteien gewesen, ein Erlöschen des Mehrurlaubs ent-
sprechend § 7 Abs. 3 BUrlG auszuschließen, wenn es dem Arbeitnehmer krank-
heitsbedingt nicht möglich war, den Mehrurlaub innerhalb der im Tarifvertrag vor-
gesehenen Frist zu nehmen, hätte es nahegelegen, in § 12 IV Ziffer 3 BMTV, wie
in § 14 Satz 2 BMTV geschehen, eine Ausnahme für diese Fälle vorzusehen.
Eine solche Ausnahme sieht der BMTV jedoch nicht vor. Nach den tariflichen
Bestimmungen hat der Arbeitnehmer, auch wenn er über den 31. März des auf
das Urlaubsjahr folgenden Urlaubsjahres hinaus ununterbrochen arbeitsunfähig
ist, das Risiko zu tragen, dass der Mehrurlaub verfällt, wenn er nicht rechtzeitig
geltend gemacht wurde.
b)
Die Befristung des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub nach § 12 IV Zif-
fer 3 BMTV ist nicht von der Erfüllung der für den gesetzlichen Mindesturlaub
bestehenden Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten des Arbeitgebers ab-
hängig.
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aa)
Der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub
erlischt bei einer mit Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG konformen Auslegung von
§ 7 BUrlG nur dann am Ende des Kalenderjahres
oder
eines zulässigen Übertragungszeitraums
,
wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor in die Lage versetzt hat, seinen
Urlaubsanspruch wahrzunehmen, und der Arbeitnehmer den Urlaub dennoch
aus freien Stücken nicht genommen hat. Bei einem richtlinienkonformen Ver-
ständnis von § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG trifft den Arbeitgeber die Initiativlast bei der
Verwirklichung des Urlaubsanspruchs. Die Erfüllung der hieraus in richtlinienkon-
former Auslegung abgeleiteten Mitwirkungsobliegenheiten des Arbeitgebers ist
grundsätzlich Voraussetzung für das Eingreifen des urlaubsrechtlichen Fristen-
regimes des § 7 Abs. 3 BUrlG
. Die Befristung des Urlaubsanspruchs nach
§ 7 Abs. 3 BUrlG setzt danach regelmäßig voraus, dass der Arbeitgeber konkret
und in völliger Transparenz dafür Sorge trägt, dass der Arbeitnehmer tatsächlich
in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dazu muss er den
Arbeitnehmer - erforderlichenfalls förmlich - auffordern, seinen Urlaub zu neh-
men, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass der Urlaub mit Ablauf des Ka-
lenderjahres oder Übertragungszeitraums verfällt, wenn er ihn nicht beantragt
.
bb)
Eine Auslegung von § 12 BMTV, die Befristung des tariflichen Mehrur-
laubs nach § 12 IV Ziffer 3 BMTV setze voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeit-
nehmer rechtzeitig aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen und darauf hingewie-
sen hat, dass nicht verlangter Urlaub verfallen kann, scheidet aus.
(1)
Vom BUrlG abweichende tarifliche Regelungen zur Befristung und Über-
tragung bzw. zum Verfall des Urlaubsanspruchs schließen für sich betrachtet die
Auslegung eines Tarifvertrags nicht aus, die Befristung des Mehrurlaubsan-
spruchs setze, wie § 7 BUrlG für den gesetzlichen Mindesturlaub, die Erfüllung
von Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten durch den Arbeitgeber voraus
. Ob die tarifliche Regelung dem
Arbeitgeber entsprechend § 7 BUrlG Mitwirkungsobliegenheiten auferlegt, ist
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aufgrund einer Gesamtbetrachtung der jeweiligen tariflichen Bestimmungen nach
den bei der Auslegung von Tarifverträgen anzuwendenden allgemeinen Ausle-
gungsgrundsätzen
zu ermitteln. Unterscheidet ein Tarifver-
trag zwischen dem gesetzlichen und tariflichen Urlaubsanspruch und verlangt
zudem im Rahmen eines vom Bundesurlaubsgesetz abweichenden Fristenre-
gimes vom Arbeitnehmer, den tariflichen Mehrurlaub zur Meidung seines Verfalls
vor einem im Tarifvertrag bestimmten Termin geltend zu machen, trägt - abwei-
chend von den Vorgaben des § 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG für den gesetzlichen Min-
desturlaubsanspruch - regelmäßig nicht der Arbeitgeber, sondern der Arbeitneh-
mer die Initiativlast für die Verwirklichung des Mehrurlaubsanspruchs. In diesem
Fall scheidet eine richtlinienkonforme Auslegung des Tarifvertrags aus, die Be-
fristung des tariflichen Mehrurlaubs setze, wie die des gesetzlichen Mindestur-
laubs nach § 7 Abs. 3 BUrlG, voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer
rechtzeitig aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen und darauf hingewiesen hat,
dass nicht verlangter Urlaub verfallen kann.
(2)
Mit § 12 BMTV haben die Tarifvertragsparteien dem Arbeitgeber keine
Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten auferlegt, die denen des BUrlG ent-
sprechen.
(a)
Dies folgt bereits aus dem Wortlaut von § 12 IV Ziffer 3 BMTV. Während
der Arbeitnehmer, der im betreffenden Bezugszeitraum keinen Antrag auf Ge-
währung des gesetzlichen Mindesturlaubs gestellt hat, in richtlinienkonformer
Auslegung von § 7 BUrlG den Anspruch am Ende des Bezugszeitraums oder des
Übertragungszeitraums bei Nichterfüllung der Hinweis- und Aufforderungsoblie-
genheiten durch den Arbeitgeber nicht automatisch verlieren kann
, bestimmt § 12 IV Ziffer 3 BMTV abweichend von § 7 Abs. 3
Satz 3 BUrlG ausdrücklich, dass der Urlaubsanspruch am 31. März des folgen-
den Kalenderjahres erlischt, sofern er nicht vorher vergeblich geltend gemacht
worden ist. § 12 IV Ziffer 3 BMTV weist damit abweichend von den Vorgaben des
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§ 7 Abs. 1 Satz 1 BUrlG für den gesetzlichen Mindesturlaubsanspruch dem Ar-
beitnehmer die Initiativlast für die Verwirklichung des Mehrurlaubsanspruchs zu.
(b)
Für ein vom Wortlaut des § 12 IV Ziffer 3 BMTV abweichendes Verständ-
nis ergeben sich im BMTV keine Anhaltspunkte. § 12 IV Ziffer 1 BMTV weist die
zeitliche Festlegung des Urlaubs unter Beachtung betriebsverfassungsrechtli-
cher Vorgaben dem Arbeitgeber zu. In Zusammenschau mit der durch § 12 IV
Ziffer 3 BMTV begründeten Obliegenheit des Arbeitnehmers, den Urlaub zur Mei-
dung seines Verfalls vor dem 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalen-
derjahres geltend zu machen, beschränkt sich der Regelungsgehalt von § 12 IV
Ziffer 1 BMTV, wie der von § 12 IV Ziffer 4 Abs. 2 BMTV, auf die Ausgestaltung
des Verfahrens der Gewährung und Inanspruchnahme von Urlaub im Übrigen
und darauf, ein Selbstbeurlaubungsrecht des Arbeitnehmers auszuschließen.
III.
Der Kläger hat gegen die Beklagte auch keinen Anspruch auf Gewährung
von Ersatzurlaub im Umfang von 10 Arbeitstagen. Ein Anspruch auf Ersatzurlaub
als Schadensersatz wegen Verzugs des Arbeitgebers gemäß § 275 Abs. 1 und
Abs. 4, § 280 Abs. 1 und Abs. 3, § 283 Satz 1, § 286 Abs. 1 Satz 1, § 287 Satz 2
und § 249 Abs. 1 BGB
kommt nur in Betracht, wenn der Urlaubsanspruch erlischt, weil der
Arbeitgeber rechtzeitig verlangten Urlaub nicht gewährt
. Der Anspruch des Klägers auf
tariflichen Mehrurlaub für das Jahr 2016 ist jedoch, wie unter II ausgeführt, ge-
mäß § 12 IV Ziffer 3 BMTV erloschen, weil der Kläger den Urlaub nicht rechtzeitig
vor dem 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres geltend ge-
macht hat, sodass Ansprüche aus Verzug ausscheiden. Unbeschadet dessen
besteht für einen Anspruch auf Ersatzurlaub für verfallenen Mehrurlaub nach den
Regelungen des BMTV kein Raum, weil § 12 IV Ziffer 3 BMTV das Erlöschen des
tariflichen Urlaubsanspruchs als Primäranspruch bei rechtzeitiger Geltendma-
chung ausschließt.
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C.
Der Kläger hat nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Re-
vision zu tragen.
Kiel
Suckow
Weber
Neumann-Redlin
Lücke
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