Urteil des BAG vom 27.08.2020

Schwerbehinderter Bewerber - Vorstellungsgespräch

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 27. August 2020
Achter Senat
- 8 AZR 45/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:270820.U.8AZR45.19.0
I. Arbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 15. November 2017
- 3 Ca 2796/17 -
II. Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 26. September 2018
- 7 Sa 227/18 -
Entscheidungsstichworte:
Schwerbehinderter Bewerber - Vorstellungsgespräch
Leitsätze:
1. Nach § 82 Satz 2 SGB IX in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden
Fassung (aF) hat der öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte Bewer-
ber/innen zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Eine Einladung ist
nach § 82 Satz 3 SGB IX aF entbehrlich, wenn die fachliche Eignung of-
fensichtlich fehlt.
2. Schwerbehinderte Bewerber sollen durch das in § 82 Satz 2 SGB IX aF
genannte Vorstellungsgespräch die Möglichkeit erhalten, ihre Chancen im
Auswahlverfahren zu verbessern. Sie sollen die Chance haben, den Arbeit-
geber von ihrer fachlichen und persönlichen Eignung zu überzeugen.
3. Der Begriff „Vorstellungsgespräch“ in § 82 Satz 2 SGB IX aF ist dahin
auszulegen, dass er - auch bei mehrstufigen Auswahlprozessen - grund-
sätzlich alle Instrumente des Verfahrens der Personalauswahl unabhängig
von ihrer Bezeichnung, der angewandten Methode und der konkreten
Durchführungsform erfasst, die nach der eigenen Konzeption des Arbeit-
gebers erforderlich sind, um sich ein umfassendes Bild von der fachlichen
und persönlichen Eignung des Bewerbers zu machen.
ECLI:DE:BAG:2020:270820.U.8AZR45.19.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
8 AZR 45/19
7 Sa 227/18
Landesarbeitsgericht
Düsseldorf
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
27. August 2020
URTEIL
Wirth, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
beklagtes, berufungsbeklagtes und revisionsbeklagtes Land,
hat der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 27. August 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesar-
beitsgericht Prof. Dr. Schlewing, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Win-
ter, den Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Vogelsang sowie die ehrenamtli-
chen Richter Schirp und Henniger für Recht erkannt:
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8 AZR 45/19
ECLI:DE:BAG:2020:270820.U.8AZR45.19.0
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Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesar-
beitsgerichts Düsseldorf vom 26. September 2018 - 7 Sa
227/18 - aufgehoben.
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsge-
richts Düsseldorf vom 15. November 2017 - 3 Ca 2796/17 -
teilweise abgeändert und zur Klarstellung wie folgt neu ge-
fasst:
Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger
7.674,00 Euro nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunk-
ten über dem Basiszinssatz seit dem 30. Mai 2017
zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz - unter Zu-
grundelegung eines Streitwerts iHv. 30.510,00 Euro -
haben der Kläger 75 vH und das beklagte Land 25 vH zu
tragen.
Die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens
- unter Zugrundelegung eines Streitwerts iHv. jeweils
7.674,00 Euro - hat das beklagte Land zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob das beklagte Land verpflichtet ist, an
den Kläger eine Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Verbot der
Benachteiligung wegen der (Schwer)Behinderung zu zahlen.
Der Kläger bewarb sich mit Schreiben vom 21. November 2016 - unter
Hinweis auf seine Schwerbehinderung - auf die vom Bau- und Liegenschaftsbe-
trieb des beklagten Landes (im Folgenden BLB N) ausgeschriebene Stelle einer
„Fachbereichsleitung Marketing und Kommunikation in der Zentrale“.
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8 AZR 45/19
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Mit E-Mail des BLB N vom 12. Dezember 2016 wurde der Klä-
ger - ebenso wie fünf andere Bewerber/innen - zu einem Auswahlgespräch am
22. Dezember 2016 eingeladen. In dem Einladungsschreiben heißt es:
„Sehr geehrter Herr Dr. G,
vielen Dank für Ihre Bewerbung auf die Fachbereichslei-
tung Marketing und Kommunikation.
Wir möchten Sie gerne persönlich kennenlernen und laden
Sie zum Auswahlgespräch am 22.12.2016 um 13:00 Uhr in
die Zentrale des Bau- und Liegenschaftsbetriebes N ein.
Das Gespräch dauert ca. eine Stunde. Das Gespräch wird
durch eine/n VertreterIn des Personalbereichs moderiert,
teilnehmen werden außerdem die Führungskraft, ein/e Ver-
treterln des Gesamtpersonalrates, die Gleichstellungsbe-
auftragte und ggfs. die Schwerbehindertenvertretung.
Die Führungskräfteauswahl erfolgt zweistufig: Wenn Sie
uns im Auswahlgespräch überzeugen, laden wir Sie im An-
schluss zu einer Potenzialanalyse ein, in der wir Ihre Kom-
petenzen mit dem Anforderungsprofil für Führungskräfte im
BLB N abgleichen.
Diese dauert ca. 5 Stunden und wird voraussichtlich in der
3. KW 2017 stattfinden.
….“
Bei dem BLB N erfolgt die Führungskräfteauswahl generell unter Einbe-
ziehung der og. ca. fünfstündigen Potenzialanalyse, die aus schriftlichen Tests,
einem Interview und Präsentationen besteht.
Der Kläger nahm an dem Auswahlgespräch am 22. Dezember 2016 teil.
Im Anschluss daran lud der BLB N zwei Bewerberinnen zur Teilnahme an der
angekündigten Potenzialanalyse ein. Dem Kläger wurde mit E-Mail vom 27. De-
zember 2016 mitgeteilt, dass man ihn
„bei der Auswahl der Stellenbesetzung
nicht in die engere Wahl gezogen
“ habe. Ferner heißt es in der E-Mail des BLB
N:
„Wir bedanken uns für Ihr Interesse an einer Beschäftigung
beim Bau- und Liegenschaftsbetrieb N und wünschen
Ihnen für die berufliche Zukunft alles Gute und viel Erfolg.“
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Der Kläger verlangte mit E-Mail vom 27. Dezember 2016 erfolglos Akten-
einsicht sowie die Mitteilung der Ablehnungsgründe. Zur Erledigung eines einst-
weiligen Verfügungsverfahrens vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf schlossen die
Parteien am 6. Januar 2017 einen gerichtlichen Vergleich, in dem sich das be-
klagte Land ua. verpflichtete, dem Kläger unverzüglich Akteneinsicht zu gewäh-
ren und diesen zur Teilnahme an der og. Potenzialanalyse einzuladen.
Am 31. Januar 2017 nahm der Kläger an der für den BLB N durch einen
Dienstleister durchgeführten Potenzialanalyse teil. Wenige Tage später teilte der
BLB N dem Kläger mit, dass die Stelle nicht mit ihm besetzt werde. Hiergegen
setzte sich der Kläger in dem beim Arbeitsgericht Düsseldorf unter dem Akten-
zeichen - 3 Ca 849/17 - geführten Verfahren zur Wehr. Das Arbeitsgericht wies
mit - inzwischen rechtskräftigem - Urteil vom 28. Juni 2017 den Antrag des Klä-
gers, die Stelle mit ihm zu besetzen, ab und verurteilte das beklagte Land auf
den Hilfsantrag des Klägers, das Auswahlverfahren zur Besetzung der Stelle un-
ter Einbeziehung des Klägers zu wiederholen.
In dem beim Landesarbeitsgericht Düsseldorf unter dem Aktenzei-
chen - 12 Sa 135/18 - geführten Verfahren, in dem die Parteien über einen An-
spruch des Klägers auf erneute Durchführung des Auswahlverfahrens zur Beset-
zung einer anderen Stelle beim beklagten Land stritten, wies das Landesarbeits-
gericht die Klage mit Urteil vom 27. Juni 2018 - ebenso wie das Arbeitsgericht
Düsseldorf mit Urteil vom 31. Januar 2018
- mit der Begrün-
dung ab, eine Besetzung der dort in Rede stehenden Stelle mit dem Kläger
scheide aus, da es diesem an der erforderlichen persönlichen Eignung fehle. Der
Kläger habe in dem dem Hauptsacheverfahren vorausgegangenen einstweiligen
Verfügungsverfahren bewusst wahrheitswidrig zu seinem Lebenslauf vorgetra-
gen, um dieses Verfahren zu seinen Gunsten zu beeinflussen.
Nachdem der Kläger bereits zuvor mit Schreiben vom 21. Februar 2017
gegenüber dem BLB N wegen einer Benachteiligung wegen seiner (Schwer)Be-
hinderung im Stellenbesetzungsverfahren
„Fachbereichsleitung Marketing und
Kommunikation in der Zentrale“ erfolglos sowohl Schadensersatz- als auch Ent-
schädigungsansprüche nach § 15 AGG geltend gemacht hatte, hat er mit seiner
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am 19. Mai 2017 beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage ausschließlich sein
Begehren auf Zahlung einer Entschädigung weiterverfolgt.
Er hat die Auffassung vertreten, das beklagte Land sei ihm nach § 15
Abs. 2 AGG zur Zahlung einer Entschädigung verpflichtet, weil es ihn den Vor-
gaben des AGG sowie des SGB IX
zuwider wegen seiner (Schwer)Behinde-
rung benachteiligt habe. Dies folge bereits daraus, dass er entgegen der gesetz-
lichen Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zur Potenzialanalyse und
damit nicht zu allen Teilen des Vorstellungsgesprächs eingeladen worden sei.
Entscheide sich der öffentliche Arbeitgeber für ein mehrstufiges Auswahlverfah-
ren, müsse er den schwerbehinderten Bewerber nach dem Sinn und Zweck von
§ 82 Satz 2 SGB IX aF zu jeder Stufe einladen. Nur so könnten eventuelle Vor-
behalte wegen der Schwerbehinderung ausgeräumt werden. Dass er nachträg-
lich zur Potenzialanalyse eingeladen worden sei, lasse die Vermutungswirkung
des Verstoßes gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht entfallen.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
das beklagte Land zu verurteilen, an ihn eine der Höhe
nach in das Ermessen des Gerichts gestellte Entschädi-
gung gemäß § 15 Abs. 2 AGG nebst Zinsen seit Rechts-
hängigkeit iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen
Basiszinssatz zu zahlen.
Das beklagte Land hat Klageabweisung beantragt und die Ansicht ver-
treten, dem Kläger keine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG zu schulden. Der
Kläger habe im Auswahlgespräch am 22. Dezember 2016 nicht überzeugt und
sei deshalb nicht zur Potenzialanalyse eingeladen worden. Es habe ohnehin
keine Verpflichtung bestanden, ihn überhaupt zu einem Vorstellungsgespräch
einzuladen. Der Kläger sei nämlich offensichtlich persönlich ungeeignet. Wie sich
aus den Urteilen des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 31. Januar 2018
sowie des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 27. Juni 2018
ergebe, fehle es ihm an der für eine Einstellung in den öffent-
lichen Dienst erforderlichen Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit. Im Übrigen könne der-
jenige, der keinen Anspruch auf Teilnahme an einem Bewerbungsverfahren
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habe, auch keine Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG wegen angeblicher Be-
nachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung verlangen.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Klä-
ger sein Klagebegehren weiter. Das beklagte Land beantragt die Zurückweisung
der Revision.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Entgegen der An-
nahme des Landesarbeitsgerichts hat der Kläger gegen das beklagte Land einen
Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Der Senat
hält unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls eine Entschädigung
iHv. 7.674,00 Euro für angemessen.
A.
Die auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG gerichtete
Klage ist zulässig, insbesondere ist der Klageantrag hinreichend bestimmt iSv.
§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Der Kläger durfte die Höhe der von ihm begehrten Ent-
schädigung in das Ermessen des Gerichts stellen.
§ 15 Abs. 2 AGG räumt dem Gericht bei der Bestimmung der Höhe der
Entschädigung einen Ermessensspielraum ein
, weshalb eine Bezifferung des Zahlungsantrags nicht notwendig
ist. Der Kläger hat auch Tatsachen benannt, die das Gericht dabei heranziehen
soll und die Größenordnung der geltend gemachten Forderung angegeben
. Ausgehend von einem durchschnittlichen Bruttomonatsentgelt iHv.
5.116,00 Euro einschließlich anteiliger Jahressonderzahlung sollten aus seiner
Sicht - soweit in der Revisionsinstanz noch von Interesse - 1,5 Bruttomonatsent-
gelte als „übliche“ Entschädigungshöhe nicht unterschritten werden.
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B.
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat gegen das beklagte Land
einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG. Unter
Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls hält der Senat einen Betrag iHv.
7.674,00 Euro für angemessen.
I.
Der persönliche Anwendungsbereich des AGG ist eröffnet. Für den Klä-
ger ergibt sich dies aus § 6 Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG. Der Kläger ist als Bewerber
für ein Beschäftigungsverhältnis Beschäftigter iSd. AGG
. Dies folgt aus dem Umstand, dass er eine Bewerbung eingereicht hat. § 6
Abs. 1 Satz 2 Alt. 1 AGG enthält einen formalen Bewerberbegriff
. Das beklagte Land
ist Arbeitgeber iSv. § 6 Abs. 2 AGG.
II.
Der Kläger hat den Entschädigungsanspruch auch frist- und formgerecht
geltend gemacht und eingeklagt
.
Der Kläger hat seinen Entschädigungsanspruch gegenüber dem beklag-
ten Land mit Schreiben vom 21. Februar 2017 frist- und formgerecht geltend ge-
macht. Das beklagte Land hatte die Bewerbung des Klägers mit E-Mail vom
27. Dezember 2016, in dem ihm nicht nur mitgeteilt wurde, dass er nicht in die
engere Wahl für die Stelle gezogen worden war, sondern ihm zudem für die be-
rufliche Zukunft alles Gute und viel Erfolg gewünscht wurde, abgelehnt. Der Klä-
ger musste dieser E-Mail entnehmen, dass seine Bewerbung erfolglos geblieben
war
. Seine
am 19. Mai 2017 beim Arbeitsgericht eingegangene Klage wahrt die Frist des
§ 61b Abs. 1 ArbGG.
III.
Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts liegen die Vorausset-
zungen des § 15 Abs. 2 AGG für einen Anspruch auf Zahlung einer Entschädi-
gung vor. Das beklagte Land hat den Kläger entgegen den Vorgaben des AGG
sowie des SGB IX aF unmittelbar wegen seiner (Schwer)Behinderung benach-
teiligt.
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1.
Der Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG setzt einen Ver-
stoß gegen das in § 7 Abs. 1 AGG geregelte Benachteiligungsverbot voraus, wo-
bei § 7 Abs. 1 AGG sowohl unmittelbare als auch mittelbare Benachteiligungen
verbietet. Das Benachteiligungsverbot in § 7 Abs. 1
AGG untersagt im Anwendungsbereich dieses Gesetzes eine Benachteiligung
wegen eines genannten Grundes, ua. wegen einer Behinderung. Zu-
dem dürfen Arbeitgeber nachaF schwerbehinderte
Beschäftigte nicht wegen ihrer Behinderung benachteiligen. Im Einzelnen gelten
hierzu nachaF die Regelungen des AGG.
2.
Der Kläger wurde dadurch, dass er von dem beklagten Land im Aus-
wahl-/Stellenbesetzungsverfahren für die Stelle als
„Fachbereichsleitung Marke-
ting und Kommunikation in der Zentrale“ nicht berücksichtigt wurde, unmittelbar
iSvbenachteiligt, denn er hat eine weniger günstige Behandlung
erfahren als eine andere Person in einer vergleichbaren Situation erfährt, erfah-
ren hat oder erfahren würde. Darauf, ob ein/e vom beklagten Land ausgewählte/r
Bewerber/in die Stelle angetreten hat, kommt es nicht an
.
3.
Der Kläger hat die unmittelbare Benachteiligung iSv. § 3 Abs. 1 AGG
auch wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren. Das beklagte Land hat den
Kläger entgegen seiner Verpflichtung nach § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht zu einem
Vorstellungsgespräch eingeladen. Dieser Umstand begründet die Vermutung
iSv
dass der Kläger wegen seiner (Schwer)Behinderung benachteiligt
wurde. Das beklagte Land hat diese Vermutung nicht widerlegt.
a)
Das Benachteiligungsverbot deerfasst nicht jede Un-
gleichbehandlung, sondern nur eine Ungleichbehandlung wegen eines in
genannten Grundes. Zwischen der Benachteiligung und einem in
genannten Grund muss demnach ein Kausalzusammenhang bestehen.
aa)
Soweit es - wie hier - um eine unmittelbare Benachteiligung iSv.
geht, ist hierfür nicht erforderlich, dass der betreffende Grund iSv.
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das ausschließliche oder auch nur ein wesentliches Motiv für das Han-
deln des Benachteiligenden ist; vielmehr ist der Kausalzusammenhang bereits
dann gegeben, wenn die Benachteiligung iSvan einen Grund
iSvanknüpft oder durch diesen motiviert ist, wobei die bloße Mitursäch-
lichkeit genügt
.
bb)
§ 22 AGG sieht für den Rechtsschutz bei Diskriminierungen im Hinblick
auf den Kausalzusammenhang eine Erleichterung der Darlegungslast, eine Ab-
senkung des Beweismaßes und eine Umkehr der Beweislast vor. Wenn im Streit-
fall die eine Partei Indizien beweist, die eine Benachteiligung wegen eines in § 1
AGG genannten Grundes vermuten lassen, trägt die andere Partei die Beweislast
dafür, dass kein Verstoß gegen die Bestimmungen zum Schutz vor Benachteili-
gung vorgelegen hat
.
(1)
Danach genügt eine Person, die sich durch eine Verletzung des Gleich-
behandlungsgrundsatzes für beschwert hält, ihrer Darlegungslast bereits dann,
wenn sie Indizien vorträgt, die mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf
schließen lassen, dass eine Benachteiligung wegen eines in § 1 AGG genannten
Grundes erfolgt ist. Dabei sind alle Umstände des Rechtsstreits in einer Gesamt-
würdigung des Sachverhalts zu berücksichtigen
.
(2)
Nach ständiger Rechtsprechung des Senats begründet der Verstoß des
Arbeitgebers gegen Vorschriften, die Verfahrens- und/oder Förderpflichten zu-
gunsten schwerbehinderter Menschen enthalten, mithin auch der Verstoß des
öffentlichen Arbeitgebers gegen die in § 82 Satz 2 SGB IX aF geregelte Pflicht,
eine/n schwerbehinderte/n Bewerber/in zu einem Vorstellungsgespräch einzula-
den, regelmäßig die Vermutung einer Benachteiligung wegen der (Schwer)Be-
hinderung. Diese Pflichtverletzungen sind nämlich grundsätzlich geeignet, den
Anschein zu erwecken, an der Beschäftigung schwerbehinderter Menschen un-
interessiert zu sein
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(3)
Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, trägt die andere Partei die
Darlegungs- und Beweislast dafür, dass der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht
verletzt worden ist. Hierfür gilt jedoch das Beweismaß des sog. Vollbeweises.
Der Arbeitgeber muss Tatsachen vortragen und ggf. beweisen, aus denen sich
ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG genannten Gründe zu einer
ungünstigeren Behandlung geführt haben
cc)
Die Würdigung der Tatsachengerichte, ob die von einem Bewerber vor-
getragenen und unstreitigen oder bewiesenen Tatsachen eine Benachteiligung
wegen der Behinderung vermuten lassen, ist nur eigeschränkt revisibel. Die re-
visionsgerichtliche Kontrolle beschränkt sich darauf, ob die Würdigung der Tat-
sachengerichte möglich und in sich widerspruchsfrei ist und nicht gegen Rechts-
sätze, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt
.
b)
Danach besteht die Vermutung, dass der Kläger die unmittelbare Be-
nachteiligung wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren hat. Das beklagte
Land war nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet, den schwerbehinderten Klä-
ger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen. Anders als das Landesarbeits-
gericht angenommen hat, war es dieser Verpflichtung mit der Einladung zu dem
Auswahlgespräch am 22. Dezember 2016 nicht ausreichend nachgekommen. Es
hätte den fachlich nicht offensichtlich ungeeigneten Kläger, anstatt ihm unter dem
27. Dezember 2016 eine Absage zu erteilen, zudem zu der Potenzialanalyse ein-
laden müssen. Der Umstand, dass dies unterblieben ist, begründet die Vermu-
tung iSv. § 22 AGG, dass der Kläger wegen seiner (Schwer)Behinderung be-
nachteiligt wurde.
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aa)
Nach § 82 Satz 1 SGB IX aF melden die Dienststellen der öffentlichen
Arbeitgeber den Agenturen für Arbeit frühzeitig freiwerdende und neu zu beset-
zende sowie neue Arbeitsplätze. Haben schwerbehinderte Menschen sich um
einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für
Arbeit oder von einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorge-
schlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, § 82
Satz 2 SGB IX aF. Nach § 82 Satz 3 SGB IX aF ist eine Einladung entbehrlich,
wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt.
bb)
Das beklagte Land war nach § 82 Satz 2 SGB IX aF verpflichtet, den Klä-
ger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen.
(1)
Dem Kläger fehlte nicht offensichtlich die fachliche Eignung iSv. § 82
Satz 3 SGB IX aF.
(a)
Maßstab für die fachliche Eignung eines Bewerbers ist der Aufgabenbe-
reich des zu besetzenden Arbeitsplatzes. Ob ein schwerbehinderter Mensch für
eine zu besetzende Stelle fachlich ungeeignet ist, ist demnach anhand eines Ver-
gleichs zwischen dem (fachlichen) Anforderungsprofil des zu besetzenden Ar-
beitsplatzes und dem (fachlichen) Leistungsprofil des Bewerbers oder der Be-
werberin zu ermitteln
.
„Offensichtlich” fachlich nicht geeignet ist, wer „unzweifelhaft” insoweit
nicht dem (fachlichen) Anforderungsprofil der zu vergebenden Stelle entspricht.
Bloße Zweifel an der fachlichen Eignung rechtfertigen es nicht, von einer Einla-
dung abzusehen, weil sich Zweifel im Vorstellungsgespräch ausräumen lassen
können
Lassen allerdings bereits die Bewerbungsunterlagen zweifels-
frei erkennen, dass die durch das Anforderungsprofil zulässig vorgegebenen
fachlichen Kriterien nicht erfüllt werden, besteht für den öffentlichen Arbeitgeber
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keine Verpflichtung, den schwerbehinderten Menschen zu einem Vorstellungs-
gespräch einzuladen
.
(b)
Darüber, dass dem Kläger die fachliche Eignung für die ausgeschriebene
Stelle nicht offensichtlich fehlt, besteht unter den Parteien kein Streit.
(2)
Es kann dahinstehen, ob der öffentliche Arbeitgeber - wie das beklagte
Land meint - über den Wortlaut von § 82 Satz 3 SGB IX aF hinaus auch dann
von der Verpflichtung befreit ist, einen schwerbehinderten Bewerber zu einem
Vorstellungsgespräch einzuladen, wenn der Bewerber zwar nicht offensichtlich
fachlich ungeeignet ist, ihm jedoch die persönliche Eignung
in dem Sinne fehlt, dass er nicht über charakterliche Eigenschaften
verfügt, die für die ausgeschriebene Stelle von Bedeutung sind
.
(a)
Da die in § 82 Satz 3 SGB IX aF bestimmte Ausnahme mit dem Erforder-
nis der „offensichtlichen fachlichen Nichteignung“ eine abschließende Regelung
enthält
, könnte eine Befreiung des öffentlichen Arbeitgebers von der Einladungs-
pflicht nach § 82 Satz 2 SGB IX aF wegen fehlender persönlicher Eignung des
Bewerbers im og. Sinne nur dann in Betracht gezogen werden, wenn sich die
Einladung zum Vorstellungsgespräch in einem solchen Fall als bloße Förmelei
erweisen würde. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Besetzung der
Stelle mit dem Bewerber offensichtlich aus Rechtsgründen ausscheidet
, weil seine charakterlichen
Mängel ein offensichtliches Einstellungs- bzw. Besetzungshindernis darstellen.
(aa)
Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollen schwerbehinderte Be-
werber/innen durch das in § 82 Satz 2 SGB IX aF genannte Vorstellungsge-
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spräch die Möglichkeit erhalten, ihre Chancen im Auswahlverfahren zu verbes-
sern. Sie sollen die Chance haben, den Arbeitgeber von ihrer Eignung zu über-
zeugen
.
Dabei ist der Begriff der „Eignung“ als umfassen-
des Qualifikationsmerkmal zu verstehen, das die ganze Persönlichkeit des Be-
werbers über rein fachliche Gesichtspunkte hinaus erfasst
.
Der Begriff „Eignung“ verweist ganz allgemein auf
die Eigenschaften, welche die zu besetzende Stelle von dem Bewerber fordert.
Hierzu gehören über die fachliche Eignung hinaus insbesondere die oftmals als
„charakterliche Eignung“ bezeichnete Eignung und die gesundheitliche Eignung
, aber auch sonstige körperliche und psychische
Voraussetzungen, die Teamfähigkeit sowie Umgangsformen und sonstige Fähig-
keiten im Umgang mit Menschen, zB mit Publikumsverkehr, sowie Führungskom-
petenzen können - je nach dem Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle -
dazugehören.
(bb)
Stellen die charakterlichen Mängel eines Bewerbers ein offensichtliches
Einstellungs- bzw. Besetzungshindernis dar, kann der vom Gesetzgeber mit § 82
Satz 2 SGB IX aF verfolgte Zweck, dem schwerbehinderten Bewerber die
Chance zu geben, den Arbeitgeber von seiner Eignung im weiteren Sinne zu
überzeugen, von vornherein nicht erreicht werden. Die Einladung zu einem Vor-
stellungsgespräch würde sich in einem solchen Fall als bloße Förmelei erweisen.
(b)
Es kann an dieser Stelle offenbleiben, ob die vom beklagten Land be-
haupteten charakterlichen Mängel des Klägers ein offensichtliches Einstellungs-
bzw. Besetzungshindernis für die ausgeschriebene Stelle einer
„Fachbereichs-
leitung Marketing und Kommunikation in der Zentrale“ darstellen würden und da-
mit überhaupt geeignet wären, eine Ausnahme von der in § 82 Satz 2 SGB IX aF
bestimmten Pflicht zur Einladung zum Vorstellungsgespräch zu begründen. Denn
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das beklagte Land hat schon nicht dargetan, dass es bis zu seiner E-Mail vom
27. Dezember 2016, mit der es dem Kläger eine Absage erteilte, davon ausge-
gangen ist und ausgehen durfte, dass eine Einladung des Klägers zum Vorstel-
lungsgespräch wegen offensichtlicher fehlender persönlicher im Sinne charakter-
licher Eignung entbehrlich gewesen wäre. Im Gegenteil, es hatte den Kläger zu
dem Auswahlgespräch am 22. Dezember 2016 eingeladen. Aus den Urteilen des
Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 31. Januar 2018
und des Lan-
desarbeitsgerichts Düsseldorf vom 27. Juni 2018
kann das be-
klagte Land bereits deshalb nichts zu seinen Gunsten ableiten, weil beide Urteile
erst nach der dem Kläger erteilten Absage ergangen sind. Zum Zeitpunkt der
Mitteilung des beklagten Landes an den Kläger vom 27. Dezember 2016, dass
dieser für die ausgeschriebene Stelle nicht in die engere Wahl gezogen worden
sei, stand eine etwaige charakterliche Nichteignung des Klägers mithin nicht im
Raum.
cc)
Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts war das beklagte
Land seiner Verpflichtung, den schwerbehinderten Kläger zu einem Vorstellungs-
gespräch einzuladen, nicht bereits dadurch nachgekommen, dass es diesen zu
dem Auswahlgespräch am 22. Dezember 2016 eingeladen hat. Es hätte den Klä-
ger, anstatt ihm mit Schreiben vom 27. Dezember 2016 eine Absage zu erteilen,
auch zu der Potenzialanalyse einladen müssen.
Der Begriff „Vorstellungsge-
spräch“ in § 82 Satz 2 SGB IX aF ist nicht eng im Sinne eines Gesprächs, in dem
sich der Bewerber einmalig vorstellt, zu verstehen, sondern weit auszulegen. Er
umfasst - auch bei mehrstufigen Auswahlprozessen - grundsätzlich alle Instru-
mente im Verfahren der Personalauswahl
un-
abhängig von ihrer Bezeichnung (zB als Auswahlgespräch, Test, Assessment
Center, Interview etc.), der angewandten Methode (zB biografie-, test- oder si-
mulationsorientierte Verfahren) und der konkreten Durchführungsform (zB Rol-
lenspiele, Fallbeispiele, Ad-hoc-Präsentationen etc.), die nach der eigenen Kon-
zeption des Arbeitgebers erforderlich sind, um sich einen umfassenden Eindruck
von der fachlichen und persönlichen Eignung des Bewerbers zu machen. Dies
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folgt aus einer am Sinn und Zweck
orientierten Auslegung des Begriffs „Vorstel-
lungsgespräch“ in § 82 Satz 2 SGB IX aF unter Berücksichtigung der in Art. 5 der
sowie in Art. 5 Abs.
3, Art.  27 Abs.  1 und Art. 2
Unterabs. 3 UN-BRK getroffenen Bestimmungen.
(1)
Wie unter Rn. 41 ausgeführt, sollen schwerbehinderte Bewerber/innen
nach den Vorstellungen des Gesetzgebers durch das in § 82 Satz 2 SGB IX aF
genannte Vorstellungsgespräch ihre Chancen im Auswahlverfahren verbessern
können. Sie sollen die Möglichkeit haben, den Arbeitgeber von ihrer Eignung zu
überzeugen, wobei
der Begriff der „Eignung“ als umfassendes Qualifikations-
merkmal zu verstehen ist, das die ganze Persönlichkeit des Bewerbers über rein
fachliche Gesichtspunkte hinaus erfasst.
Insoweit verweist
der Begriff „Eignung“
ganz allgemein auf die Eigenschaften, welche die zu besetzende Stelle erfordert.
Über die fachlichen Gesichtspunkte hinaus gehören zur Eignung deshalb insbe-
sondere die oftmals als „charakterliche Eignung“ bezeichnete Eignung und die
gesundheitliche Eignung; aber auch sonstige körperliche und psychische Vo-
raussetzungen, die Teamfähigkeit sowie Umgangsformen und Fähigkeiten im
Umgang mit Menschen, zB mit Publikumsverkehr, und Führungsqualitäten kön-
nen - je nach dem Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle - dazugehören.
(2)
Bereits dieser Gesetzeszweck gebietet eine weite Auslegung des Be-
griffs „Vorstellungsgespräch“ in § 82 Satz 2 SGB IX aF dahin, dass er - auch bei
mehrstufigen Auswahlprozessen - grundsätzlich alle Instrumente des Verfahrens
der Personalauswahl unabhängig von ihrer Bezeichnung, der angewandten Me-
thode und der konkreten Durchführungsform
erfasst, die nach der eigenen Konzeption des Arbeitgebers erforderlich
sind, um sich ein umfassendes Bild von der fachlichen und persönlichen Eignung
des Bewerbers zu machen. Andernfalls hätte der schwerbehinderte Mensch ent-
gegen dem gesetzgeberischen Anliegen nicht die Möglichkeit, einen nach dem
bisherigen Verlauf des Auswahlverfahrens ggf. bestehenden Vorsprung anderer,
nicht schwerbehinderter Bewerber durch einen umfassenden persönlichen Ein-
druck auszugleichen.
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8 AZR 45/19
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Nach alledem ist es zwar - auch im Hinblick auf die Regelung in § 82
Satz 2 SGB IX aF - nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass der Arbeitgeber
mehrstufig in dem Sinne verfährt, dass er zunächst mit allen Bewerber/innen auf
einer ersten Stufe ein Vorstellungsgespräch führt und sodann nur diejenigen, die
auf dieser ersten Stufe überzeugt haben, zu einem weiterführenden Auswahlge-
spräch, Test etc. einlädt. Allerdings kommt der öffentliche Arbeitgeber mit der
Einladung eines/r schwerbehinderten Bewerbers/in allein zu dem auf der ersten
Stufe stattfindenden Vorstellungsgespräch seiner Verpflichtung nach § 82 Satz 2
SGB IX aF nur dann nach, wenn er sich bereits aufgrund dieses Vorstellungsge-
sprächs einen umfassenden Eindruck darüber verschaffen kann, ob diese/r Be-
werber/in über die fachliche und persönliche Eignung verfügt, die für die zu be-
setzende Stelle erforderlich ist.
(3)
Eine weite Auslegung
des Begriffs „Vorstellungsgespräch“ in § 82 Satz 2
SGB IX aF in dem unter Rn. 46 ausgeführten Sinn ist auch mit Blick auf die in
Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie in Art. 5 Abs.
3, Art.  27 Abs.  1 und Art. 2
Unterabs. 3 UN-BRK getroffenen Bestimmungen geboten.
(a)
Nach Art. 5 Satz 1 der Richtlinie 2000/78/EG haben die Mitgliedstaaten
angemessene Vorkehrungen zu treffen, um die Anwendung des Gleichbehand-
lungsgrundsatzes auf Menschen mit Behinderung zu gewährleisten, was nach
Art. 5 Satz 2 der Richtlinie 2000/78/EG bedeutet, dass der Arbeitgeber die geeig-
neten und im konkreten Fall erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen hat, um
Menschen mit Behinderung ua. nicht nur den Zugang zur Beschäftigung, sondern
auch den beruflichen Aufstieg zu ermöglichen, es sei denn, diese Maßnahmen
würden den Arbeitgeber unverhältnismäßig belasten
-
.
(b)
Art. 5 Abs. 3 UN-BRK bestimmt, dass die Vertragsstaaten zur Förderung
der Gleichberechtigung und zur Beseitigung von Diskriminierungen alle geeigne-
ten Schritte unternehmen, um die Bereitstellung angemessener Vorkehrungen zu
gewährleisten. Nach Art. 27 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a UN-BRK sichern und fördern
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die Vertragsstaaten die Verwirklichung des Rechts auf Arbeit durch geeignete
Schritte, einschließlich des Erlasses von Rechtsvorschriften, um ua. „Diskriminie-
rung aufgrund von Behinderung in allen Angelegenheiten im Zusammenhang mit
einer Beschäftigung gleich welcher Art, einschließlich der Auswahl-, Einstellungs-
und Beschäftigungsbedingungen, der Weiterbeschäftigung, des beruflichen Auf-
stiegs sowie sicherer und gesunder Arbeitsbedingungen zu verbieten“. Zudem
bestimmt Art. 2 Unterabs. 3 UN-
BRK, dass von der „Diskriminierung aufgrund
von Behinderung“ alle Formen der Diskriminierung erfasst sind, einschließlich der
Versagung angemessener Vorkehrungen. Die Bestimmungen der UN-BRK sind
Bestandteil der Unionsrechtsordnung
und damit
zugleich Bestandteil des - unionsrechtskonform auszulegenden - deutschen
Rechts
. Der Umstand, dass die
UN-BRK seit ihrem Inkrafttreten integrierender Bestandteil der Unionsrechtsord-
nung ist, führt darüber hinaus dazu, dass auch die Richtlinie 2000/78/EG ihrer-
seits nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesem Übereinkommen auszu-
legen ist
.
(c)
Sowohl Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG als auch Art. 5 Abs. 3 und
Art
.  27 Abs.  1 UN-BRK gebieten es nach alledem, den Begriff „Vorstellungsge-
spräch“ in § 82 Satz 2 SGB IX aF weit dahin auszulegen, dass er - auch bei
mehrstufigen Auswahlprozessen - grundsätzlich alle Instrumente des Verfahrens
der Personalauswahl unabhängig von ihrer Bezeichnung, der angewandten Me-
thode und der konkreten Durchführungsform erfasst, die nach der eigenen Kon-
zeption des Arbeitgebers erforderlich sind, um sich ein umfassendes Bild von der
fachlichen und persönlichen Eignung des schwerbehinderten Bewerbers zu ma-
chen. Nur so kann dem Anliegen der Richtlinie 2000/78/EG und der UN-BRK
effektiv Rechnung getragen werden.
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(4)
Entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts hat das beklagte
Land gegen seine Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX aF verstoßen, den
schwerbehinderten Kläger zu einem Vorstellungsgespräch für die zu besetzende
Stelle als
„Fachbereichsleitung Marketing und Kommunikation in der Zentrale“
einzuladen.
(a)
Das beklagte Land ist seiner Verpflichtung aus § 82 Satz 2 SGB IX aF,
den schwerbehinderten Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, nicht
bereits mit der Einladung vom 12. Dezember 2016 zum Auswahlgespräch am
22. Dezember 2016 nachgekommen. Entgegen der Annahme des Landesar-
beitsgerichts war auch die im Anschluss an das Auswahlgespräch vom 22. De-
zember 2016 durchgeführte Potenzialanalyse Teil des Vorstellungsgesprächs
iSv. § 82 Satz 2 SGB IX aF, zu dem der Kläger - anstatt ihm unter dem 27. De-
zember 2016 eine Absage zu erteilen - hätte eingeladen werden müssen. Der
Umstand, dass das beklagte Land das Auswahlverfahren zweistufig durchgeführt
hat, ändert daran nichts, weil die Potenzialanalyse nach der eigenen Konzeption
des beklagten Landes dazu diente, sich - über die fachliche Eignung der Bewer-
ber/innen hinaus - ein Bild von einem bzw. mehreren für die Auswahlentschei-
dung relevanten Persönlichkeitsmerkmal/en der Bewerber/innen, nämlich ihrer
Eignung als Führungskraft machen zu können.
Bei der vom BLB N ausgeschriebenen Stelle einer
„Fachbereichsleitung
M
arketing und Kommunikation in der Zentrale“ handelt es sich um die Stelle einer
Führungskraft, deren Auswahl beim BLB N generell zweistufig, nämlich auf der
Grundlage eines ca. einstündigen Auswahlgesprächs und einer ca. fünfstündigen
Potenzialanalyse erfolgt, die ihrerseits aus schriftlichen Tests, einem Interview
und Präsentationen besteht. Hierauf hatte der BLB N den Kläger mit seiner E-
Mail vom 12. Dezember 2016 auch hingewiesen. Es kann dahinstehen, welche
Aspekte der Eignung der Bewerber/innen Gegenstand des Auswahlgesprächs
vom 22. Dezember 2016 waren, jedenfalls diente die Potenzialanalyse nach der
eigenen Konzeption des beklagten Landes dazu, sich ein Bild von einem Aspekt
der persönlichen Eignung der Bewerber/innen machen zu können, nämlich ihrer
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Eignung als Führungskraft, der nach dem Anforderungsprofil der Stelle eine un-
abdingbare Voraussetzung für die Stellenbesetzung und der nicht Gegenstand
des Auswahlgesprächs vom 22. Dezember 2016 war. Insoweit sollte - worauf das
beklagte Land den Kläger in seiner E-Mail vom 12. Dezember 2016 ebenfalls
hingewiesen hat - mit der Potenzialanalyse ein Abgleich der Kompetenzen der
Bewerber/innen mit dem speziellen Anforderungsprofil für Führungskräfte im BLB
N erfolgen.
Eine andere Bewertung ist vorliegend auch nicht deshalb geboten, weil
in der Rechtsprechung anerkannt ist, dass der öffentliche Arbeitgeber einen Be-
werber nach Art. 33 Abs. 2 GG grundsätzlich mangels ausreichender fachlicher
Eignung schon auf der sogenannten ersten Stufe des Auswahlverfahrens von der
weiteren Mitbetrachtung ausschließen kann, wenn dieser das Anforderungsprofil
einer Stelle nicht erfüllt und ihm daher die fachliche Eignung fehlt
. Unabhängig davon, aus
welchen Gründen der Kläger aus Sicht des beklagten Landes im Auswahlge-
spräch am 22. Dezember 2016 nicht überzeugt hatte, kann das beklagte Land
aus dieser Rechtsprechung hier nichts zu seinen Gunsten ableiten. Im vorliegen-
den Rechtsstreit geht es nicht um die Frage der Bestenauslese nach Art. 33
Abs. 2 GG, sondern um die Frage, ob das beklagte Land einer spezifischen, zu-
gunsten schwerbehinderter Bewerber bestehenden Verfahrenspflicht, nämlich
der Pflicht zur Einladung zum Vorstellungsgespräch nachgekommen ist. Auch in
einem zwei- oder mehrstufigen Auswahlverfahren sind damit die Begrifflichkeiten
der diese Pflicht enthaltenden Gesetzesbestimmung, und damit der Begriff des
Vorstellungsgesprächs iSv. § 82 Satz 2 SGB IX aF zugrunde zu legen.
(b)
Das beklagte Land kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, ein
etwaiger Verstoß gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF sei durch die nachträgliche Ein-
ladung des Klägers zur Teilnahme an der Potenzialanalyse geheilt worden. Das
beklagte Land hatte sich erst, nachdem es dem Kläger mit E-Mail vom 27. De-
zember 2016 eine Absage erteilt hatte, im Rahmen des vom Kläger eingeleiteten
einstweiligen Verfügungsverfahrens vor dem Arbeitsgericht Düsseldorf am 6. Ja-
nuar 2017 durch gerichtlichen Vergleich verpflichtet, den Kläger nachträglich zu
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der Potenzialanalyse einzuladen. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats
kann der Verstoß gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF
nicht nachträglich „geheilt“ oder
„beseitigt“ werden
.
dd)
Der Umstand, dass das beklagte Land den Kläger entgegen den Vorga-
ben des § 82 Satz 2 SGB IX aF, anstatt ihm unter dem 27. Dezember 2016 eine
Absage zu erteilen, nicht zu der Potenzialanalyse eingeladen hat, begründet
nach alledem die Vermutung, dass der Kläger die unmittelbare Benachteiligung
iSv. § 3 Abs. 1 AGG wegen seiner (Schwer)Behinderung erfahren hat.
c)
Das beklagte Land hat die auf den Verstoß gegen § 82 Satz 2 SGB IX
aF gestützte Vermutung, dass der Kläger wegen seiner (Schwer)Behinderung
benachteiligt wurde, nicht widerlegt.
aa)
Besteht die Vermutung einer Benachteiligung, muss der Arbeitge-
ber - wie unter Rn. 30 ausgeführt - grundsätzlich Tatsachen vortragen und ggf.
beweisen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere als die in § 1 AGG
genannten Gründe zu einer ungünstigeren Behandlung geführt haben. Zur Wi-
derlegung der auf den Verstoß gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF gestützten Kausa-
litätsvermutung reicht dies allerdings nicht aus; hinzukommen muss in einem sol-
chen Fall vielmehr, dass die Gründe nicht die fehlende fachliche Eignung des
Bewerbers/der Bewerberin betreffen. Diese zusätzliche Anforderung folgt aus der
in § 82 Satz 3 SGB IX aF getroffenen Bestimmung, wonach eine Einladung des
schwerbehinderten Bewerbers zu einem Vorstellungsgespräch nur dann ent-
behrlich ist, wenn diesem die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Die Widerle-
gung der aus einem Verstoß gegen § 82 Satz 2 SGB IX aF folgenden Vermutung
setzt daher den Nachweis voraus, dass die Einladung zu einem Vorstellungsge-
spräch aufgrund von Umständen unterblieben ist, die weder einen Bezug zur Be-
hinderung aufweisen noch die fehlende fachliche Eignung des Bewerbers berüh-
ren
.
bb)
Danach hat das beklagte Land die Kausalitätsvermutung nicht widerlegt.
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(1)
Soweit sich das beklagte Land darauf beruft, dem Kläger sei es in dem
gut einstündigen Auswahlgespräch am 22. Dezember 2016 nicht gelungen, das
beklagte Land von sich persönlich, also von seiner Eignung für die ausgeschrie-
bene Stelle zu überzeugen, hat das beklagte Land schon keinen substantiierten
Vortrag geleistet, aus dem sich ergibt, dass die Einladung des Klägers zur Po-
tentialanalyse aufgrund von Umständen unterblieben ist, die nicht seine fehlende
fachliche Eignung berühren.
(2)
Das beklagte Land kann zur Widerlegung der Vermutung der Kausalität
der (Schwer)Behinderung des Klägers für seine unmittelbare Benachteiligung
iSv. § 3 Abs. 1 AGG auch nicht mit Erfolg geltend machen, es sei zum damaligen
Zeitpunkt der Rechtsauffassung gewesen, auch einen schwerbehinderten Be-
werber schon auf der ersten Stufe des von ihr praktizierten zweistufigen Aus-
wahlverfahrens, dh. nach dem Auswahlgespräch vom 22. Dezember 2016, we-
gen fehlender Eignung von der weiteren Mitbetrachtung ausschließen zu dürfen,
weshalb keine Verpflichtung bestanden habe, den Kläger auch zu der Potential-
analyse einzuladen. Da diese Rechtsauffassung - wie unter Rn. 43 ausge-
führt - unzutreffend ist, beruft das beklagte Land sich insoweit auf einen
Rechtsirrtum, der seinerseits allerdings nicht geeignet ist, die Kausalitätsvermu-
tung zu widerlegen. Die aus einer Verletzung der in § 82 Satz 2 SGB IX aF be-
stimmten Pflicht zur Einladung zu einem Vorstellungsgespräch folgende Vermu-
tungswirkung hängt nicht davon ab, ob der Arbeitgeber sich rechtskonform ver-
halten will, auch ein Verschulden oder eine Benachteiligungsabsicht ist nicht er-
forderlich. Vielmehr reicht, da die Haftung nach § 15 Abs. 2 AGG verschuldens-
unabhängig ist
,
der objektive Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot nach § 7 Abs. 1 AGG
iVm. § 81 Abs. 2 SGB IX aF und damit auch der objektive Verstoß gegen die in
§ 82 Satz 2 SGB IX aF bestimmte Pflicht aus. Das wirkt sich auch auf die Mög-
lichkeiten aus, die aus einer Verletzung von § 82 Satz 2 SGB IX aF folgende Ver-
mutung der Kausalität zu widerlegen. Mit dem Argument, rechtsirrig angenom-
men zu haben, nach § 82 Satz 2 SGB IX aF nicht verpflichtet gewesen zu sein,
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den Kläger auch zur Potenzialanalyse einzuladen, kann diese Vermutung dem-
nach nicht widerlegt werden.
IV.
Dem Entschädigungsanspruch des Klägers steht auch nicht entgegen,
dass dieser sich mit dem beklagten Land in dem vor dem Arbeitsgericht Düssel-
dorf geführten einstweiligen Verfügungsverfahren vergleichsweise darauf ver-
ständigt hat, dass er vom beklagten Land nachträglich zur Potenzialanalyse ein-
geladen wird. Der Kläger hat mit dieser vergleichsweise getroffenen Abrede ent-
gegen der Rechtsauffassung des beklagten Landes nicht auf einen etwa beste-
henden Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG verzichtet.
1.
Ein Verzicht auf Rechte im Allgemeinen ist nicht zu vermuten, so dass
deren Aufgabe nur unter strengen Voraussetzungen angenommen werden kann.
Ein Verzicht muss eindeutig und zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht werden
.
2.
Ein eindeutiger Verzichtswille des Klägers ergibt sich nicht aus dem vor
dem Arbeitsgericht Düsseldorf zur Erledigung eines einstweiligen Verfügungs-
verfahrens am 6. Januar 2017 geschlossenen Vergleich. In diesem einstweiligen
Verfügungsverfahren ging es um den aus Art. 33 Abs. 2 GG folgenden Bewer-
bungsverfahrensanspruch des Klägers
; über
einen Anspruch auf Entschädigung nach § 15 Abs. 2 AGG haben die Parteien in
diesem Verfahren nicht gestritten und sich hierüber auch nicht verglichen.
V.
Dem Entschädigungsverlangen des Klägers steht auch nicht der durch-
greifende rechtshindernde Einwand des Rechtsmissbrauchs
entge-
gen
. Das beklagte Land, dem die Darlegungs- und Beweis-
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last für die Umstände obliegt, die den Einwand des Rechtsmissbrauchs begrün-
den
, hat das Vorlie-
gen der Voraussetzungen nicht dargetan.
1.
Das beklagte Land hat nicht behauptet, der Kläger habe sich nur bewor-
ben, um den formalen Status eines Bewerbers iSv. § 6 Abs. 1 Satz 2 AGG zu
erlangen mit dem ausschließlichen Ziel, eine Entschädigung geltend zu machen
. Dass der Kläger
ein ernsthaftes Interesse an dem Erhalt der ausgeschriebenen Stelle hatte, stellt
das beklagte Land nicht in Abrede.
2.
Soweit das beklagte Land dem Kläger ua. vorwirft, zunächst
„weit über-
höhte Entschädigungsforderungen ohne jeglichen substantiierten Vortrag zu In-
dizien einer Benachteiligung“ geltend gemacht zu haben und durch sein gesam-
tes Verhalten einen Benachteiligungsgrund erst „zu provozieren bzw. mühevoll
darzustellen, um maximale Entschädigungsansprüche geltend machen zu kön-
nen“, legt das beklagte Land schon nicht dar, dass der Kläger kein Interesse an
der ausgeschriebenen Stelle gehabt habe. Vielmehr erhebt das beklagte Land
insoweit den Vorwurf, dass der Kläger nach der erhaltenen Absage seine Rechte
geltend gemacht und dabei eine überhöhte Forderung gestellt hat. Dieses Vor-
bringen ist allerdings ua. schon deshalb nicht geeignet, den durchgreifenden Ein-
wand des Rechtsmissbrauchs zu begründen, weil andernfalls die Wertungen des
§ 16 AGG, wonach der Arbeitgeber Beschäftigte nicht wegen der Inanspruch-
nahme von Rechten ua. nach § 15 Abs. 2 AGG benachteiligen darf, unterlaufen
würden und dem Kläger entgegen den unionsrechtlichen Vorgaben die Aus-
übung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte übermäßig er-
schwert, wenn nicht sogar praktisch unmöglich gemacht würde
.
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3.
Das beklagte Land kann sich zur Begründung des Rechtsmissbrauchs-
einwands auch nicht mit Erfolg darauf berufen, der Kläger habe sich beworben,
obwohl er persönlich, dh. hier charakterlich ungeeignet sei und deshalb die für
die ausgeschriebene Stelle vorausgesetzten Mindestanforderungen nicht erfülle.
Zwar ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, dass ein Entschädigungsverlan-
gen dem durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwand ausgesetzt ist, sofern
eine Person sich beworben hat, obgleich sie - wie sich möglicherweise erst nach-
träglich herausstellt - für die ausgeschriebene Stelle persönlich ungeeignet ist;
allerdings muss eine solche Nichteignung
„offensichtlich“ sein, sie muss sich als
offensichtliches Einstellungs- bzw. Besetzungshindernis erweisen, weil andern-
falls die zwingenden Anforderungen von § 82 Satz 3 SGB IX aF
über den Rechtsmissbrauchseinwand unterlaufen würden.
Das beklagte Land hat eine solche offensichtliche persönliche, dh. hier
charakterliche Nichteignung des Klägers für die ausgeschriebene Stelle einer
„Fachbereichsleitung Marketing und Kommunikation in der Zentrale“ jedoch nicht
dargetan. So bleibt zum einen schon unklar, in welchem der beiden Bewerbungs-
verfahren der Kläger in seinem Lebenslauf unzutreffende Angaben zu seiner Er-
fahrung gemacht haben soll. Zum anderen kann es für die zum Teil unterschied-
lichen Angaben zur vorhandenen Erfahrung in den in zwei unterschiedlichen Be-
werbungsverfahren eingereichten Lebensläufen auch Erklärungen geben, die der
Annahme einer persönlichen Nichteignung entgegenstehen. Nicht jede abwei-
chende Darstellung von Erfahrungen im Lebenslauf, mit der sich der Bewerber
eine Verbesserung seiner Chancen im Bewerbungsverfahren verspricht, über-
schreitet die Grenze zur Falschdarstellung. Die Darlegungen des beklagten Lan-
des bleiben insoweit insgesamt unsubstantiiert und rechtfertigen deshalb nicht
die Annahme des durchgreifenden Rechtsmissbrauchseinwands.
VI.
Der Senat, der aufgrund der vom Landesarbeitsgericht getroffenen Fest-
stellungen abschließend über die Höhe der Entschädigung nach § 15 Abs. 2
AGG entscheiden kann, hält unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzel-
falls eine Entschädigung iHv. 1,5 auf der ausgeschriebenen Stelle erzielbaren
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Bruttomonatsverdiensten, mithin eine Entschädigung iHv. 7.674,00 Euro für an-
gemessen.
1.
Im Fall einer Nichteinstellung ist für die Bemessung der Entschädigung
nachan das Bruttomonatsentgelt anzuknüpfen, das der/die er-
folglose Bewerber/in (ungefähr) erzielt hätte, wenn er/sie die ausgeschriebene
Stelle erhalten hätte. Dies folgt aus der getroffenen
Bestimmung, wonach die Entschädigung bei einer Nichteinstellung drei Monats-
gehälter nicht übersteigen darf, wenn der oder die Beschäftigte auch bei benach-
teiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre.
Aus dem Umstand, dass das infolge der Nichteinstellung entgangene Ar-
beitsentgelt ein möglicher Schadensposten im Rahmen eines auf den Ausgleich
materieller Schäden nach gerichteten Schadensersatzan-
spruchs sein kann, während mit der Entschädigung nachnicht
der materielle, sondern der immaterielle Schaden ausgeglichen wird, folgt nichts
Abweichendes. Soweit es - wie hier - um den Zugang zur Beschäftigung geht, ist
die Entschädigung nachnämlich nicht nur eine Sanktion dafür,
dass der/die erfolglose Bewerber/in nicht die Chance zur Entfaltung seiner/ihrer
individuellen Persönlichkeit durch eine bestimmte Beschäftigung erhält, sondern
ebenso eine Sanktion dafür, dass er/sie nicht die Chance erhält, ein Arbeitsein-
kommen zu erzielen und auch dadurch in seinem/ihrem Geltungs- bzw. Ach-
tungsanspruch berührt ist. In beiden Fällen ist nicht der materielle, sondern der
immaterielle Teil des Persönlichkeitsrechts betroffen. Die Anknüpfung an das auf
der ausgeschriebenen Stelle (ungefähr) zu erwartende Bruttomonatsentgelt steht
auch mit den unionsrechtlichen Vorgaben in Einklang. Der Gerichtshof der Euro-
päischen Union hat eine solche Anknüpfung in seinem Urteil vom 22. April 1997
grundsätzlich gebilligt.
2.
Durch eine Entschädigung iHv. 1,5 auf der Stelle erzielbaren Bruttomo-
natsverdiensten wird der Kläger angemessen für den durch die unzulässige Dis-
kriminierung - ausschließlich - wegen der (Schwer)Behinderung erlittenen imma-
teriellen Schaden entschädigt; dieser Betrag ist zudem erforderlich, aber auch
ausreichend, um die notwendige abschreckende Wirkung zu erzielen. Da es auf
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ein Verschulden nicht ankommt
, können Gesichtspunkte, die mit einer etwaigen Abwesenheit oder ei-
nem geringen Grad von Verschulden zusammenhängen, nicht mindernd bei der
Bemessung der Entschädigung berücksichtigt werden. Auf der anderen Seite
sind in diesem Fall aber auch keine Umstände erkennbar, die einen höheren
Grad von Verschulden des beklagten Landes belegen, weshalb auch keine Ver-
anlassung besteht, die Entschädigung höher festzusetzen. Auf die Frage, ob die
Entschädigung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 AGG die Kappungsgrenze von drei Mo-
natsgehältern nicht übersteigen durfte, weil der Kläger auch bei benachteili-
gungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden wäre
, kommt es nach alledem nicht an.
Schlewing
Winter
Vogelsang
Schirp
Henniger