Urteil des BAG vom 10.09.2020

Aussetzung wegen anhängiger Verfassungsbeschwerde

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 10. September 2020
Sechster Senat
- 6 AZR 136/19 (A) -
ECLI:DE:BAG:2020:100920.B.6AZR136.19A.0
I. Arbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 17. April 2018
- 6 Ca 6859/17 -
II. Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 18. Januar 2019
- 6 Sa 363/18 -
Entscheidungsstichwort:
Aussetzung wegen anhängiger Verfassungsbeschwerde
Leitsatz:
Ist in einem Parallelverfahren eine Verfassungsbeschwerde anhängig,
kann in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO eine Ausset-
zung der Verhandlung erfolgen, wenn dies in Abwägung zwischen der Ge-
fahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsge-
bot des § 9 Abs. 1 ArbGG sowie zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des
Verfahrens der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG un-
ter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen er-
scheint. Die Aussetzung kann zeitlich befristet werden.
ECLI:DE:BAG:2020:100920.B.6AZR136.19A.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
6 AZR 136/19 (A)
6 Sa 363/18
Landesarbeitsgericht
Düsseldorf
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
10. September 2020
BESCHLUSS
Schuchardt, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Beklagter, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 10. September 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundes-
arbeitsgericht Spelge, die Richter am Bundesarbeitsgericht Krumbiegel und
Dr. Heinkel sowie die ehrenamtliche Richterin Klar und den ehrenamtlichen
Richter Klapproth beschlossen:
Die Verhandlung wird bis zum 31. März 2022 ausgesetzt.
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Gründe
I.
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen betriebsbe-
dingten Kündigung.
Der Kläger war seit März 1988 bei der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs
KG (Schuldnerin) bzw. deren Rechtsvorgängerin als Pilot beschäftigt. Die
Schuldnerin bediente mit mehr als 6.000 Beschäftigten im Linienflugverkehr in-
ner- und außereuropäische Ziele. Hierfür unterhielt sie ua. Stationen an den Flug-
häfen Berlin-Tegel und Düsseldorf. Der Einsatzort des Klägers war Düsseldorf.
Am 15. August 2017 beantragte die Schuldnerin beim zuständigen Insol-
venzgericht die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen bei Eigen-
verwaltung. Das Gericht ordnete zunächst die vorläufige Eigenverwaltung an und
bestellte den Beklagten am 16. August 2017 zum vorläufigen Sachwalter.
Der Executive Director der persönlich haftenden Gesellschafterin der
Schuldnerin, der Generalbevollmächtigte der Schuldnerin und der Beklagte un-
terzeichneten am 12. Oktober 2017 für die Schuldnerin eine Erklärung. Demnach
war beabsichtigt, den Betrieb bis spätestens 31. Januar 2018 stillzulegen.
Für das Cockpitpersonal war gemädurch Ab-
schluss des
„Tarifvertrags Personalvertretung (TVPV) für das Cockpitpersonal
der Air Berlin PLC & Co. Luftverkehrs KG
“ eine Personalvertretung (PV Cockpit)
gebildet. Mit Schreiben vom 12. Oktober 2017 wandte sich die Schuldnerin an
die PV Cockpit. Es sei beabsichtigt, die durch die Betriebsstilllegung bedingten
Kündigungen nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Laufe des Monats Ok-
tober 2017, voraussichtlich ab 26. Oktober 2017, unter Wahrung der ggf. durch
§ 113 InsO begrenzten Kündigungsfrist zu erklären.
Am 1. November 2017 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermö-
gen der Schuldnerin eröffnet. Das Insolvenzgericht ordnete Eigenverwaltung an
und bestellte den Beklagten zum Sachwalter. Dieser zeigte noch am gleichen
Tage eine drohende Masseunzulänglichkeit an. Zudem stellte er den Kläger und
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weitere nicht mehr einzusetzende Piloten und Kabinenpersonal von der Ver-
pflichtung zur Arbeitsleistung frei.
Die Schuldnerin erstattete mit Formular und Begleitschreiben vom
24. November 2017 bei der Agentur für Arbeit Berlin Nord eine Massenentlas-
sungsanzeige bzgl. des gesamten Cockpitpersonals.
Mit Schreiben vom 28. November 2017 kündigte sie mit Zustimmung des
Beklagten gegenüber dem Kläger das Arbeitsverhältnis zum 28. Februar 2018.
Am 17. Januar 2018 hob das Insolvenzgericht die Eigenverwaltung auf
und bestellte den Beklagten zum Insolvenzverwalter.
Der Kläger hat sich mit seiner fristgerecht erhobenen Klage gegen die
Kündigung vom 28. November 2017 gewandt. Die Kündigung sei unwirksam.
Eine Betriebsstilllegung sei zum Zeitpunkt ihres Zugangs nicht beschlossen ge-
wesen, die Schuldnerin habe vielmehr noch mit möglichen Betriebserwerbern
verhandelt. Tatsächlich hätten dann Betriebsteilübergänge auf andere Luftfahrt-
unternehmen stattgefunden. Die PV Cockpit sei nicht ordnungsgemäß beteiligt
worden. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft.
Der Kläger hat zuletzt noch beantragt,
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis durch die ordentli-
che Kündigung der Schuldnerin vom 28. November 2017,
zugegangen am 29. November 2017, nicht aufgelöst
wurde.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Er hat die Ansicht vertreten, die Kündigung sei wegen der beabsichtigten
und tatsächlich erfolgten Stilllegung des Flugbetriebs sozial gerechtfertigt. Ein
Betriebs(teil)übergang sei nicht geplant gewesen und habe auch nicht stattge-
funden. Die Rechte der PV Cockpit seien gewahrt. Die Massenentlassung sei
ordnungsgemäß gegenüber der örtlich zuständigen Agentur für Arbeit angezeigt
worden.
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Die Vorinstanzen haben sowohl den Kündigungsschutzantrag als auch
einen im Berufungsverfahren noch anhängigen Antrag auf Auskunftserteilung ab-
gewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zugelassen. Mit dieser ver-
folgt der Kläger beschränkt auf den Kündigungsschutzantrag sein Klageziel wei-
ter.
Der Senat hat am 13. Februar 2020 in mehreren Verfahren mit identi-
schen Sachverhalten entschieden, dass die streitbefangenen Kündigungen des
Cockpitpersonals der Schuldnerin vom 28. November 2017 unwirksam sind
. Hiergegen hat der Be-
klagte Verfassungsbeschwerden erhoben und deswegen die Aussetzung der
Verhandlung im vorliegenden Verfahren angeregt. Der Kläger hat dieser Anre-
gung widersprochen.
II.
Die Verhandlung kann auch gegen den Willen des Klägers jedenfalls bis
zum 31. März 2022 ausgesetzt werden. Die Revision ist nach derzeitigem Stand
zwar zulässig und begründet. Der Senat wäre an einer Entscheidung auch nicht
durch eine Verpflichtung zur Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union
(im Folgenden Gerichtshof) nach Art. 267 Abs. 3 AEUV gehindert. In entspre-
chender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO ist aber wegen der anhängigen Ver-
fassungsbeschwerden eine Aussetzung der Verhandlung bis zum 31. März 2022
gerechtfertigt.
1.
Die streitgegenständliche Kündigung ist wegen Fehlerhaftigkeit der Mas-
senentlassungsanzeige gemäß § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG iVm. § 134 BGB un-
wirksam. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts erstattete die
Schuldnerin die nach § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG erforderliche Massenentlas-
sungsanzeige wegen Verkennung des unionsrechtlich determinierten Betriebs-
begriffs nicht ordnungsgemäß iSd. § 17 Abs. 3 KSchG. Dies hat der Senat in ei-
nem Parallelverfahren bereits entschieden und nimmt auf die Begründung dieses
Urteils Bezug
. Es wurde eine
inhaltlich nicht ordnungsgemäße Massenentlassungsanzeige bei der örtlich un-
zuständigen Agentur für Arbeit Berlin Nord erstattet. Eine Anzeige bei der zustän-
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digen Agentur für Arbeit Düsseldorf erfolgte vor Zugang der Kündigung beim Klä-
ger hingegen nicht. Der Vortrag des Beklagten im vorliegenden Verfahren gibt
keinen Anlass für eine andere Beurteilung.
a)
Der Senat hat die seitens des Beklagten angeführte Rechtsprechung des
Gerichtshofs zum Betriebsbegriff der Richtlinie 98/59/EG (im Folgenden MERL)
bereits vollständig berücksichtigt
. Soweit der Beklagte im vorliegenden Verfahren zum maßgebli-
chen Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG bzw. der MERL nur seine
abweichende Rechtsansicht wiederholt, welche der Senat bereits im führenden
Verfahren gewürdigt hat, besteht kein Anlass zu weitergehenden Ausführungen.
Soweit er erstmals unter Berufung auf die Ausführungen des Gerichtshofs in
Rn. 54 seiner Entscheidung vom 13. Mai 2015
gel-
tend macht, die MERL schließe es nicht aus, im nationalen Recht unter bestimm-
ten Voraussetzungen auf das Unternehmen als größere Organisationseinheit ab-
zustellen, hat der deutsche Gesetzgeber von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch
gemacht. Dementsprechend hat der Beklagte die Massenentlassung in einer Be-
triebsstruktur vorgenommen, die allerdings, wie der Senat bereits ausgeführt hat,
nicht den Vorgaben der MERL entsprach.
b)
Bezüglich der Zwecksetzung der nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG zu er-
stattenden Massenentlassungsanzeige und den Rechtsfolgen einer fehlerhaften
Anzeige wird ebenfalls auf die Begründung der Leitentscheidung verwiesen
. Die weiteren Argumente des
Beklagten verfangen nicht.
aa)
Die Meldepflicht des § 38 Abs. 1 Satz 1 SGB III ersetzt keine ordnungs-
gemäße Anzeige der geplanten Massenentlassung. Auch verwirklicht die Frei-
stellung der Mehrzahl der Piloten vor den Kündigungen entgegen der Annahme
des Beklagten den Schutzzweck der MERL nicht und macht eine ordnungsge-
mäße Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers nicht überflüssig
.
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bb)
Soweit der Beklagte insbesondere durch die Komplexität der Rechtslage,
die durch die in den verschiedenen Regelungsbereichen maßgeblichen, teils uni-
onsrechtlich, teils national determinierten unterschiedlichen Betriebsbegriffe ver-
meintlich entsteht, eine unzulässige Beschränkung der durch Art. 16 GRC ge-
schützten unternehmerischen Freiheit sieht, trifft das jedenfalls in der vorliegen-
den Fallgestaltung nicht zu.
(1)
Die MERL selbst greift nicht in die freie Entscheidung des Arbeitgebers
ein, Massenentlassungen vorzunehmen
.
(2)
Ein solcher Eingriff kann hier auch nicht aus dem nationalen Recht ab-
geleitet werden. Der Beklagte verkennt, dass seine Anzeige bereits deshalb un-
wirksam ist, weil sie fälschlicherweise in der bezogen auf die Personalvertretung
tariflich begründeten Betriebsstruktur erfolgt ist, die mit dem vom Gerichtshof zur
MERL entwickelten Betriebsbegriff offenkundig nicht in Einklang stand
. Die angeführte Komple-
xität resultiert hier nicht aus gesetzlichen Vorgaben, sondern aus dem Nebenei-
nander von gesetzlichen und tariflichen Regelungen. Letztere sind jedoch gerade
das Resultat der von der Schuldnerin in Form eines Tarifabschlusses in Anspruch
genommenen unternehmerischen Freiheit. Darüber hinaus wäre es der Schuld-
nerin unbenommen geblieben, das Risiko einer Unwirksamkeit der Kündigung
wegen Erstattung der Anzeige bei einer örtlich unzuständigen Arbeitsagentur
durch eine Sammelanzeige bzw. eine Anzeige bei sämtlichen in Frage kommen-
den Agenturen für Arbeit wesentlich zu vermindern.
(3)
Darum kommt es auf die Ansicht des Beklagten, die sozioökonomischen
Zielsetzungen der Anzeigepflicht hätten kein hinreichendes Gewicht, um eine Be-
schränkung des Kündigungsrechts zu rechtfertigen, nicht an. Er räumt selbst ein,
dass ein solcher Eingriff vor allem dann vorliegen könne, wenn „alle materiell und
verfahrensmäßig dem Kündigungsschutz dienenden Vorgaben beachtet“ worden
seien. Genau daran fehlt es vorliegend jedoch.
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(4)
Es kann folglich dahinstehen, ob und inwieweit der Anwendungsbereich
des Art. 16 GRC in teilharmonisierten Regelungsbereichen wie denen der MERL
überhaupt eröffnet ist
.
c)
Der Betriebsbegriff wird für den gesamten Bereich des Massenentlas-
sungsrechts unionsrechtlich bestimmt. Der Beklagte kann daher auch bei der
Frage, wo die Anzeige zu erstatten ist, keinen Vertrauensschutz in Anspruch neh-
men. Diesbezüglich wird auf die Ausführungen im Urteil des Senats vom 14. Mai
2020
verwiesen.
2.
Zu einer Vorlage an den Gerichtshof besteht entgegen der Auffassung
des Beklagten keine Verpflichtung.
a)
Ein einzelstaatliches Gericht ist, soweit gegen seine Entscheidung kein
Rechtsmittel gegeben ist, grundsätzlich verpflichtet, den Gerichtshof gemäß
Art. 267 Abs. 3 AEUV anzurufen, wenn sich in einem bei ihm anhängigen Ver-
fahren eine Frage nach der Auslegung des AEU-Vertrags stellt. Dies ist ua. dann
nicht der Fall, wenn das Gericht feststellt, dass die betreffende unionsrechtliche
Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war
und die Rechtslage damit
in einer Weise geklärt ist, die keinen vernünftigen Zweifel lässt
. Hierfür ist eine vollkommene Identität der strittigen Fra-
gen der jeweiligen Verfahren nicht erforderlich
.
.
b)
Hier besteht keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV.
aa)
Der Senat hat eine solche bereits geprüft und verneint
. Auch der Achte Senat des Bundesarbeitsge-
richts hat bezogen auf eine Kündigung im selben Insolvenzverfahren bzgl. des
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Betriebsbegriffs des § 17 Abs. 1 Satz 1 KSchG bzw. der MERL keinen Klärungs-
bedarf durch den Gerichtshof gesehen, sondern sich insoweit der Rechtspre-
chung des Senats angeschlossen
.
bb)
Die im vorliegenden Verfahren seitens des Beklagten schriftsätzlich oder
in der Verhandlung vor dem Senat formulierten Fragen müssen dem Gerichtshof
nicht gestellt werden. Sie sind entweder nicht entscheidungserheblich oder durch
die Rechtsprechung des Gerichtshofs ausreichend geklärt. Der Beklagte hält
dem Senat im Ergebnis lediglich eine fehlerhafte Subsumtion unter die Recht-
sprechung des Gerichtshofs vor, die jedoch allein Aufgabe der nationalen Ge-
richte ist und keine Vorlagepflicht auslösen kann
.
cc)
Soweit der Beklagte auf die unterschiedliche Beurteilung der streitgegen-
ständlichen Massenentlassung innerhalb der Tatsacheninstanzen der deutschen
Arbeitsgerichtsbarkeit hinweist, ist dies unbeachtlich. Das bloße Vorliegen sich
widersprechender Entscheidungen anderer einzelstaatlicher Gerichte ist kein
ausschlaggebendes Kriterium für das Bestehen der in Art. 267 Abs. 3 AEUV ge-
nannten Pflicht, denn maßgeblich ist hierbei die Gefahr von Divergenzen in der
Rechtsprechung auf Unionsebene
Bezogen
auf die deutsche Gerichtsbarkeit kann es bei der Rechtsanwendung schon we-
gen der Unabhängigkeit der Richter
und der daraus folgenden „kon-
stitutionellen Uneinheitlichkeit der Rechtspflege“
auch in gleichgelagerten Fällen
zu abweichenden Entscheidungen kommen.
3.
Trotz der damit grundsätzlich bestehenden Entscheidungsreife ist die
Verhandlung aber jedenfalls bis zum 31. März 2022 auszusetzen.
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a)
Eine Befugnis zur Aussetzung ergibt sich allerdings nicht direkt aus § 148
Abs. 1 ZPO als allein in Betracht kommender Verfahrensregelung.
aa)
Nach § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des
Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines
Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen
Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anord-
nen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis
zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde auszusetzen sei. Die Aussetzung der
Verhandlung setzt damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit oder
dem Verwaltungsverfahren zu treffenden Entscheidung im Sinne einer (zumin-
dest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus. Vorgreiflichkeit ist insbesondere
gegeben, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für
das auszusetzende Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs-
bzw. Interventionswirkung erzeugt. Der Umstand, dass in dem anderen Verfah-
ren über eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, von deren Beantwortung die Ent-
scheidung des vorliegenden Rechtsstreits ganz oder teilweise abhängt, rechtfer-
tigt die Aussetzung der Verhandlung nicht. Anderenfalls würde das aus dem Jus-
tizgewährleistungsanspruch folgende grundsätzliche Recht der Prozessparteien
auf Entscheidung ihres Rechtsstreits in seinem Kern beeinträchtigt. Eine Ausset-
zung allein aus Zweckmäßigkeitsgründen sieht das Gesetz nicht vor
.
bb)
Eine Vorgreiflichkeit in diesem Sinne besteht hier nicht. Bei den Verfah-
ren, deren Entscheidung mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wird, han-
delt es sich um unabhängige Rechtsstreitigkeiten. Es besteht lediglich eine Pa-
rallelität bzgl. der zu entscheidenden Rechtsfragen.
b)
Eine Aussetzung kann aber in entsprechender Anwendung von § 148
Abs. 1 ZPO erfolgen.
aa)
§ 148 Abs. 1 ZPO ist über seinen Wortlaut hinaus auf vergleichbare Fall-
gestaltungen entsprechend anwendbar
. Nach
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ständiger Rechtsprechung ist in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1
ZPO eine Aussetzung der Verhandlung bis zur Erledigung eines Vorabentschei-
dungsverfahrens nach Art. 267 AEUV vorzunehmen
. Die Möglichkeit der Aus-
setzung wird auch bejaht, wenn die Vorlage an den Gerichtshof in einem anderen
Rechtsstreit erfolgt ist
. Zur Begründung wird da-
rauf verwiesen, dass eine Aussetzung auch möglich ist, wenn bezogen auf die
streitentscheidende Norm ein Normenkontrollverfahren oder eine Verfassungs-
beschwerde beim Bundesverfassungsgericht anhängig ist
. Die entsprechende Anwendung de
ist bei einer Vorlage an den Gerichtshof durch eine gleichartige Inte-
ressenlage gerechtfertigt. Die Vorschrift will nach einhelliger Auffassung eine
doppelte Prüfung derselben Frage in mehreren Verfahren verhindern. Das dient
der Prozesswirtschaftlichkeit und der Vermeidung sich widersprechender Ent-
scheidungen
.
bb)
An dieser Rechtsprechung ist auch nach der mit Wirkung zum 1. Novem-
ber 2018 erfolgten Einfügung des § 148 Abs. 2 ZPO festzuhalten. Diese Geset-
zesänderung schließt entgegen der Ansicht des Klägers eine entsprechende An-
wendung des § 148 Abs. 1 ZPO nicht aus.
(1)
§ 148 Abs. 2 ZPO bezieht sich nur auf Musterfeststellungsverfahren und
hat damit einen anderen Regelungsbereich als § 148 Abs. 1 ZPO. Mit § 148
Abs. 2 ZPO wurde lediglich eine zusätzliche Aussetzungsmöglichkeit geschaffen.
Dies zeigt schon die Verwendung der Konjunktion
„ferner“
. Die damit zum Ausdruck gebrachte Eigenständigkeit entspricht
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der gesetzgeberischen Zielsetzung. § 148 Abs. 2 ZPO trägt dem Umstand Rech-
nung, dass Unternehmer ihre Ansprüche nicht in das Klageregister eines Mus-
terfeststellungsverfahrens eintragen lassen können. Um ihnen zumindest die
Möglichkeit zu eröffnen, von dem Ausgang eines Musterfeststellungsverfahrens
zu profitieren, sollen sie durch § 148 Abs. 2 ZPO die Möglichkeit erhalten, in ei-
nem Individualprozess einen Aussetzungsantrag zu stellen
. Diese Zielsetzung weist keinen Bezug zu § 148 Abs. 1 ZPO auf.
(2)
Die Frage, ob die bisherige Rechtsprechung zur Durchführung von „Pi-
lotverfahren“ außerhalb des Anwendungsbereichs von § 148 ZPO
nach Einfügung
des § 148 Abs. 2 ZPO noch fortzuführen ist, bedarf hier keiner Entscheidung
.
cc)
Demnach kommt auch bei Anhängigkeit einer Verfassungsbeschwerde
nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG in einem Parallelverfahren eine Aussetzung der
Verhandlung in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO in Betracht.
(1)
In dieser prozessualen Konstellation werden wie bei einer Vorlage an den
Gerichtshof oder einem Normenkontrollverfahren streitentscheidende Rechtsfra-
gen durch ein höherrangiges Gericht geklärt. Zu berücksichtigen ist allerdings,
dass Vorlagen an den Gerichtshof und Normenkontrollverfahren durch ein Fach-
gericht eingeleitet werden. Demgegenüber wird die Verfassungsbeschwerde
nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG als außerordentlicher Rechtsbehelf durch die un-
terlegene Partei eingelegt. Schon deshalb kommt eine gleichsam automatische
Aussetzung der Verhandlung in Parallelverfahren nicht in Betracht. Anderenfalls
könnte die unterlegene Partei durch die bloße Einlegung der Verfassungsbe-
schwerde in einem durch die Fachgerichtsbarkeit bereits letztinstanzlich ent-
schiedenen Verfahren die Aussetzung in zahlreichen Parallelverfahren herbei-
führen. Eine solche Wirkung kann der Verfassungsbeschwerde, die die Rechts-
kraft des angegriffenen Urteils nicht hemmt
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, nicht beigemessen werden
.
(2)
Andererseits kann bei parallel gelagerten Fällen eine einzelne Verfas-
sungsbeschwerde ausreichen, um eine umfassende Klärung der verfassungs-
rechtlichen Fragen durch das Bundesverfassungsgericht zu ermöglichen. Das ist
der Fall, wenn weitere zu erwartende Verfassungsbeschwerden nicht zu einer
Verbreiterung der Entscheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht
führen und das Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen würden
. Zahlreiche weitere Verfassungsbeschwerden in Parallelverfah-
ren würden im Gegenteil nur zu einer unnötigen Belastung des Bundesverfas-
sungsgerichts führen und könnten im Extremfall die Funktionsfähigkeit des Ver-
fahrens der Verfassungsbeschwerde, das auch dem Ziel dient, das objektive Ver-
fassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden
, gefährden
.
(3)
In diesem Spannungsfeld ist im arbeitsgerichtlichen Verfahren eine Aus-
setzung in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn
in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und
dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Be-
rücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist bei
der nach § 148 Abs. 1 ZPO vorzunehmenden Ermessenausübung anhand der
Umstände des Einzelfalls zu beurteilen
. Zur Vermeidung einer überlangen Verfahrensdauer bedarf es einer Ein-
schätzung der Gesamtdauer des Verfahrens
. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer ist
stets im Lichte der aus Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 19 Abs. 4
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GG sowie Art. 6 Abs. 1 EMRK folgenden Verpflichtung des Staates, Gerichtsver-
fahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, zu beurteilen
. Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte gibt dabei allerdings ebenso wenig wie das Bundesverfas-
sungsgericht feste Fristen vor, sondern stellt auf die jeweiligen Umstände des
Einzelfalls ab
.
dd)
Ausgehend von diesen Grundsätzen erscheint hier eine Aussetzung der
Verhandlung bis zum 31. März 2022 angemessen.
(1)
Wird § 148 Abs. 1 ZPO entsprechend angewendet, kommt auch eine be-
fristete Aussetzung der Verhandlung in Betracht
. Die Ermessensausübung bezieht sich nicht nur auf die Ausset-
zung als solche, sondern auch auf ihre Dauer. Dies ergibt sich schon aus § 150
ZPO, wonach das Gericht die Anordnung einer Aussetzung jederzeit wieder auf-
heben kann. Erst recht kann es die Aussetzung von vornherein nur auf eine be-
grenzte Dauer festsetzen, wenn dies der prozessualen Situation entspricht.
(2)
Hier ist eine Aussetzung der Verhandlung bis zum 31. März 2022 ange-
bracht. Zur Vermeidung der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen ist es
angesichts der identischen Rechtsfragen für beide Parteien sinnvoll, die Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts über die anhängigen Verfassungsbe-
schwerden abzuwarten. Nach weiteren Entscheidungen des Senats zu erwar-
tende Verfassungsbeschwerden würden nicht zu einer Verbreiterung der Ent-
scheidungsgrundlage für das Bundesverfassungsgericht führen und das Verfas-
sungsbeschwerdeverfahren nicht beschleunigen. Eine Aussetzung der Verhand-
lung ohne zeitlichen Rahmen wäre mit dem arbeitsgerichtlichen Beschleuni-
gungsgrundsatz jedoch schwerlich zu vereinbaren. Der Senat hält eine Ausset-
zung der Verhandlung bis zum 31. März 2022 für angemessen. Es darf davon
ausgegangen werden, dass das Bundesverfassungsgericht bis dahin über die
Annahme der Verfassungsbeschwerden entschieden haben wird
. Dieser befristeten Aussetzung stehen gewichtige Interessen des Klä-
gers nicht entgegen. Eine Weiterbeschäftigung als Pilot kommt bei dem Beklag-
ten wegen der Einstellung des Flugbetriebs ohnehin nicht in Betracht, etwaige
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Annahmeverzugsansprüche wären wegen der Masseunzulänglichkeit des Insol-
venzverfahrens schwerlich in nennenswerter Höhe zu realisieren. Zudem haben
die Prozessbevollmächtigten des Beklagten in der Verhandlung vor dem Senat
erklärt, dass gegenüber dem vormaligen Cockpitpersonal der Schuldnerin zwi-
schenzeitlich Folgekündigungen erklärt wurden.
c)
Das erforderliche rechtliche Gehör ist den Parteien mit Schreiben vom
14. Juli 2020 und in der mündlichen Verhandlung gewährt worden.
Spelge
Heinkel
Krumbiegel
C. Klar
Klapproth
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