Urteil des BAG vom 02.09.2020

Vergütung nach einem Entgeltband

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 2. September 2020
Fünfter Senat
- 5 AZR 168/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:020920.U.5AZR168.19.0
I. Arbeitsgericht Bautzen
Urteil vom 2. August 2018
- 4 Ca 4115/18 -
II. Sächsisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 15. März 2019
- 2 Sa 321/18 -
Entscheidungsstichwort:
Vergütung nach einem Entgeltband
ECLI:DE:BAG:2020:020920.U.5AZR168.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
5 AZR 168/19
2 Sa 321/18
Sächsisches
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
2. September 2020
URTEIL
Schmidt-Brenner, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsbeklagte und Revisionsklägerin,
pp.
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsbeklagte,
hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 2. September 2020 durch den Vizepräsidenten des Bundesar-
beitsgerichts Dr. Linck, die Richterinnen am Bundesarbeitsgericht Berger und
Dr. Volk sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Röth-Ehrmann und Zorn für
Recht erkannt:
- 2 -
5 AZR 168/19
ECLI:DE:BAG:2020:020920.U.5AZR168.19.0
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1. Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des
Sächsischen Landesarbeitsgerichts vom 15. März 2019
- 2 Sa 321/18 - wird zurückgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Differenzvergütung für die Monate Januar bis
März 2018 und dabei über die Auslegung einer tarifvertraglichen Vergütungsre-
gelung.
Die Klägerin wurde zum 1. November 2014 bei der Beklagten als Sach-
bearbeiterin Kundenbetreuung (Customer Operations) neu eingestellt und ist
seitdem im Call-Center B beschäftigt. Nach ihrem Arbeitsvertrag leistet sie eine
regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit von 40 Stunden. Auf das Arbeitsverhältnis
der Parteien finden kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Rahmentarifvertrag
Telekommunikation, zuletzt idF des Tarifvertrags vom 21. Juni 2016 (im Folgen-
den RTV), und der Ergänzungstarifvertrag für den Geschäftsbereich Customer
Operations der Beklagten vom 25. Oktober 2013 (im Folgenden ETV) Anwen-
dung. In dem ETV heißt es ua.:
„Dieser Tarifvertrag gilt für die Beschäftigten des Geschäfts-
bereichs Customer Operations mit den als Anlage 1 beige-
fügten Funktionsbereichen, die dem zwischen den Parteien
geschlossenen Rahmentarifvertrag Telekommunikation (im
Folgenden RTV) unterfallen.
Dieser Tarifvertrag ergänzt für die vorgenannten Beschäftig-
ten den RTV und geht bei gleichen Regelungsgegenstän-
den diesem als speziellere Regelung vor.
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5 AZR 168/19
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§ 2 Einführung eines neuen Entgeltsystems im Ge-
schäftsbereich Customer Operations
a)
Die Entgeltgruppen EG 1 bis EG 6a/b des RTV sowie
die Tabelle nach § 1 a) dieses ETV werden mit Wir-
kung ab 01.04.2014 durch folgende Regelungen zu
Entgeltbändern abgelöst:
-
Die Banduntergrenzen und Bandobergrenzen sowie
der Midpoint ergeben sich aus nachstehender Tabelle
der Jahreszielentgelte, der die 38,5 Stundenwoche zu
Grunde liegt:
Banduntergrenze
Midpoint
Bandobergrenze
Band 1
22.000 Euro
23.000 Euro
24.000 Euro
Band 2
23.100 Euro
25.410 Euro
27.720 Euro
-
Die vorgenannten Entgeltwerte sind in Anwendung
des § 17.2 RTV tarifdynamisch.
-
Der Midpoint muss spätestens nach Ablauf von drei
Jahren unveränderter Tätigkeit in dem Band erreicht
sein, die vorherige Vergütungsregelung gem. § 2 b2)
für Beschäftigte im Band 2 bleibt unberührt.
-
b)
Die Tarifvertragsparteien werden bis zum 31.01.2014
auf Vorschlag der Betriebsparteien eine verbindliche
Zuordnung der Tätigkeiten der Beschäftigten des Be-
reichs zu den Entgeltbändern vornehmen.
Verbindliche Eckpunkte hierfür sind:
b1) Die vorgesehene Zuordnung der Tätigkeiten/Be-
standbeschäftigten zu den Bändern orientiert
sich grundsätzlich an der Verteilung der An-
lage 2 dieses ETV,
b2) Neueingestellte Beschäftigte des Entgeltban-
des 2 können bis zur Dauer von zwei Jahren
nach dem Entgeltband 1 vergütet werden.
c)
Die Bestandsbeschäftigten werden zum 1.4.2014 ent-
sprechend ihrer ausgeübten Arbeitsaufgabe den Ent-
geltbändern zugeordnet.
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§ 3 Tariferhöhungen ab 2014
Die Tariferhöhung des RTV zum 01.06.2014 kommt nicht
zur Anwendung und erhöht die Entgelte der Beschäftigten
und die in diesem Tarifvertrag festgelegten Tabellen nicht.
§ 5 Standort- und Beschäftigungssicherung
Die bestehenden Customer Operations-Standorte in B
bleiben mindestens bis zum 31.10.2017 erhalten.
Gegenüber Beschäftigten, die gem. § 2 c) neu zugeordnet
werden, dürfen keine betriebsbedingten Beendigungskün-
digungen vor dem 31.10.2017 ausgesprochen werden, es
sei denn, der Betriebsrat stimmt einer solchen Kündigung
ausdrücklich zu …“
Aus der seit dem 1. Mai 2017 gültigen Entgelttabelle des ETV ergibt sich
auf der Basis einer individuellen regelmäßigen Arbeitszeit von 38,5 Wochenstun-
den im Band 2 eine Steigerung der Banduntergrenze auf 25.046,00 Euro und des
Midpoints auf 27.550,00 Euro.
Die Tätigkeit der Klägerin wurde mit Beginn ihrer Beschäftigung nach § 2
Buchst. a erster Spiegelstrich ETV dem Entgeltband 2 zugeordnet. Die Beklagte
zahlte der Klägerin vereinbarungsgemäß für die Dauer von zwei Jahren Vergü-
tung nach dem Entgeltband 1. Seit dem 1. November 2016 und auch noch im
Streitzeitraum leistete sie Entgelt auf Basis der Banduntergrenze des Entgeltban-
des 2.
Nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung verlangt die Kläge-
rin mit ihrer Klage für die Monate Januar bis März 2018 Vergütung in Höhe der
Differenz zwischen der Banduntergrenze und dem Midpoint des Entgeltbandes 2
entsprechend der seit Mai 2017 gültigen Entgelttabelle. Sie hat gemeint, auf-
grund dreijähriger Tätigkeit im Entgeltband 2 stehe ihr bereits seit November
2017 aus § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich ETV ein Jahreszielentgelt in Höhe
des Midpoints zu.
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Die Klägerin hat, soweit noch von Bedeutung, beantragt,
an sie 612,39 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozent-
punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus jeweils
204,13 Euro brutto seit 16. Februar, 16. März und 16. April
2018 zu zahlen.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und die Auffassung vertre-
ten, die Klägerin erreiche den Midpoint erst nach Ablauf von fünf Jahren seit Be-
schäftigungsbeginn, weil sie als neu eingestellte Beschäftigte für die Dauer von
zwei Jahren Vergütung lediglich nach dem Entgeltband 1 habe beanspruchen
können. Solche Zeiten seien nach § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 2
ETV nicht auf die in Halbsatz 1 der Regelung für das Erreichen des Midpoints
bestimmte Wartezeit anzurechnen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Be-
klagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Lan-
desarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt die Klägerin, soweit noch ent-
scheidungserheblich, die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat
auf die Berufung der Beklagten das Urteil des Arbeitsgerichts zu Recht abgeän-
dert und die Klage abgewiesen.
I.
Die Klägerin hat für Januar bis März 2018 aus § 2 Buchst. a ETV keinen
Anspruch auf Vergütung nach dem Midpoint des Entgeltbandes 2.
1.
Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts fanden im Streitzeit-
raum auf das Arbeitsverhältnis der Parteien kraft beiderseitiger Verbandszuge-
hörigkeit der RTV und der ETV Anwendung. Die Bestimmungen des ETV gehen,
wie in der Präambel festgehalten, für Arbeitnehmer des Geschäftsbereichs
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Customer Operations mit den in der Anlage 1 zum ETV aufgeführten Funktions-
bereichen bei gleichen Regelungsgegenständen den Normen des RTV als spe-
ziellere vor.
2.
Die Klägerin unterfällt dem betrieblichen und persönlichen Geltungsbe-
reich des ETV, da sie im Geschäftsbereich Customer Operations in einem Call-
Center beschäftigt wurde, das zu den Funktionsbereichen gem. Anlage 1 zum
ETV gehört. Für ihre Vergütung sind demnach die Bestimmungen des ETV maß-
geblich, der hinsichtlich der Eingruppierung und Vergütung der Arbeitnehmer in
§§ 2 ff. ETV ein von den Regelungen des RTV abweichendes Entgeltsystem nor-
miert.
3.
Nach § 2 ETV haben Arbeitnehmer wie die Klägerin Anspruch auf ein
Jahreszielentgelt, das sich aus fixen und variablen Bestandteilen zusammensetzt
und das nach § 2 Buchst. a ETV zu bestimmten Anteilen als laufendes Monats-
entgelt zu leisten ist. Die Höhe des Jahreszielentgelts richtet sich gem. § 2
Buchst. a erster Spiegelstrich ETV danach, welchem Entgeltband der Arbeitneh-
mer zugeordnet ist und wo er innerhalb des Bandes (Banduntergrenze, Midpoint
oder Bandobergrenze) eingereiht ist. Die konkreten Jahreszielentgelte ergeben
sich wegen § 3 ETV, wonach die Tariferhöhungen des RTV keine Anwendung
finden, allein aus der in § 2 Buchst. a erster Spiegelstrich ETV enthaltenen Ta-
belle, die mit Wirkung zum 1. Mai 2017 durch eine seitdem gültige Tabelle ersetzt
wurde.
4.
Auf dieser Grundlage hat die Beklagte - insoweit unstreitig - der Klägerin
für Januar bis März 2018 das sich nach der Banduntergrenze des Entgeltban-
des 2 bemessende laufende monatliche Entgelt gezahlt. Ein Anspruch auf Zah-
lung eines - höheren - Jahreszielentgelts nach dem Midpoint des Entgeltban-
des 2 folgt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht aus § 2 Buchst. a dritter
Spiegelstrich Halbs. 1 ETV.
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a)
Nach § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 1 ETV muss der Midpoint
spätestens nach Ablauf von drei Jahren unveränderter Tätigkeit
„in dem Band“
erreicht sein. Dieser Zeitraum war im Fall der Klägerin im ersten Quartal 2018
noch nicht verstrichen, weil nach § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 2 ETV
die vorherige Vergütungsregelung in § 2 Buchst. b2 ETV unberührt bleibt. Diese
Regelung schränkt die in Halbsatz 1 der Tarifbestimmung enthaltene Regel für
das Erreichen des Midpoints ein. Sie bewirkt, dass Zeiten, in denen ein neu ein-
gestellter, dem Entgeltband 2 zugeordneter Arbeitnehmer Vergütung nach dem
Entgeltband 1 bezieht, nicht in die Berechnung des Drei-Jahres-Zeitraums
iSv. § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 1 ETV (Wartezeit) einfließen. Das
ergibt, wie das Landesarbeitsgericht richtig gesehen hat, die Auslegung
.
aa)
Der Wortlaut von § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 2 ETV gibt
nicht eindeutig vor, dass Zeiten, in denen ein dem Entgeltband 2 zugeordneter
Arbeitnehmer gem. § 2 Buchst. b2 ETV Vergütung nach dem Entgeltband 1 be-
zieht, bei der in § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 1 ETV bestimmten War-
tezeit keine Berücksichtigung finden. Der Formulierung, wonach die Vergütungs-
regelung über die Möglichkeit einer Absenkung der Vergütung
„unberührt bleibt“,
ist als solche eine Einschränkung der in § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich
Halbs. 1 ETV enthaltenen Wartezeitregelung nicht zu entnehmen. Im juristischen
Sprachgebrauch wird
durch die Worte „unberührt bleiben“ typischerweise ausge-
drückt, dass bestimmte Regelungen nebeneinander Gültigkeit haben und sich in
ihren Wirkungen nicht beschneiden sollen
. Isoliert betrachtet könnte dies das Verständnis zulas-
sen, die Regelung in § 2 Buchst. b2 ETV solle auf den Lauf der Wartezeit keine
Auswirkung haben. Zwingend ist das indes nicht.
bb)
Der Sinn von § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 2 ETV erschließt
sich jedoch daraus, dass die Tarifregelung die Vergütungsregelung in § 2
Buchst. b2 ETV als
„die vorherige“ benennt. Das Adjektiv „vorherig“ steht für „vor-
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her
gehend“, „vorher stattfindend“ bzw. „früher“
und
kennzeichnet insoweit eine zeitliche Abfolge.
Auf dieses allgemeine Begriffsver-
ständnis haben die Tarifvertragsparteien auch ersichtlich abgestellt. Eine An-
knüpfung an die Verortung im Text des Tarifvertrags scheidet aus, weil § 2
Buchst. b2 ETV der Bestimmung des § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich ETV
nachsteht.
Bezugspunkt der durch das Wort „vorherig“ gekennzeichneten zeitli-
chen Abfolge ist, wie sich aus dem Kontext mit § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich
Halbs. 1 ETV ergibt, der für das Erreichen des Midpoints festgelegte Drei-Jahres-
Zeitraum. Vor diesem Hintergrund kann die Formulierung, wonach
die „vorherige“
Vergütungsregelung in § 2 Buchst. b2 ETV
„unberührt bleibt“, nur bedeuten, dass
nach dem Verständnis der Tarifvertragsparteien Zeiten, in denen ein dem Ent-
geltband 2 zugeordneter Arbeitnehmer gem. § 2 Buchst. b2 ETV Vergütung nach
dem Entgeltband 1 bezieht, dem in § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 1
ETV geregelten Drei-Jahres-Zeitraum vorgeschaltet sind und infolgedessen sol-
che Arbeitnehmer die Wartezeit bis zum Erreichen des Midpoints nur durch Zei-
ten einer Tätigkeit mit Vergütung im Entgeltband 2 erfüllen können.
cc)
Für diese Auslegung spricht auch, dass § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich
Halbs. 2 ETV nur dann einen sinnvollen Regelungsgehalt hat, wenn die Bestim-
mung als Einschränkung hinsichtlich des Laufs der Wartezeit verstanden wird.
Demgegenüber wäre die Regelung in der von der Klägerin favorisierten Ausle-
gung einer bloßen Klarstellung schlicht überflüssig. Ohne § 2 Buchst. a dritter
Spiegelstrich Halbs. 2 ETV stünde nämlich aufgrund der Regelung in Halbsatz 1
und der dortigen Anknüpfung an die Zeit einer
„unveränderten Tätigkeit im Band“
außer Frage, dass es bei Arbeitnehmern im Entgeltband 2 für das Verstreichen
der Wartezeit auf § 2 Buchst. b2 ETV nicht ankommen könnte, weil diese Tarifre-
gelung zwar eine Herabsetzung der Vergütung auf das Niveau des Entgeltban-
des 1 ermöglicht, an der Zuordnung der Tätigkeit zum Entgeltband 2 und an de-
ren Inhalt aber nichts ändert. Allgemein ist aber anzunehmen, dass Tarifvertrags-
parteien keine überflüssigen, weil inhaltsleeren Regelungen treffen wollen. Viel-
mehr ist von ihrem Willen auszugehen, Mindestarbeitsbedingungen zu setzen
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.
dd)
Auf die Entstehungsgeschichte von § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich
Halbs. 2 ETV kommt es nicht an. Nach Auslegung der Tarifnorm anhand der wei-
teren Kriterien verbleiben keine vernünftigen Zweifel an deren Inhalt.
b)
§ 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 2 ETV ist in der vorgenomme-
nen Auslegung nicht wegen Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz
des Art. 3 Abs. 1 GG unwirksam.
aa)
Die Tarifvertragsparteien als Normgeber sind bei der tariflichen Normset-
zung zwar nicht unmittelbar, jedoch mittelbar grundrechtsgebunden
. Der Schutzauftrag des
Art. 3 Abs. 1 GG verpflichtet die staatlichen Arbeitsgerichte dazu, die Grund-
rechtsausübung durch die Tarifvertragsparteien zu beschränken, wenn diese mit
den Freiheits- oder Gleichheitsrechten oder anderen Rechten mit Verfassungs-
rang der Normunterworfenen kollidiert. Sie müssen insoweit praktische Konkor-
danz herstellen
. Der
Schutzauftrag der Verfassung verpflichtet die Arbeitsgerichte auch dazu, gleich-
heitswidrige Differenzierungen in Tarifnormen zu unterbinden. Der Gleichheits-
satz des Art. 3 Abs. 1 GG bildet als fundamentale Gerechtigkeitsnorm eine un-
geschriebene Grenze der Tarifautonomie. Tarifnormen sind deshalb im Aus-
gangspunkt uneingeschränkt auch am Gleichheitssatz zu messen
.
bb)
Bei der Erfüllung ihres verfassungsrechtlichen Schutzauftrags haben die
Gerichte jedoch auch in den Blick zu nehmen, dass eine besondere Form der
Grundrechtskollision bewältigt und die durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistete kol-
lektive Koalitionsfreiheit mit den betroffenen Individualgrundrechten in einen an-
gemessenen Ausgleich gebracht werden muss
. Als selbständigen Grundrechtsträgern steht den Tarif-
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vertragsparteien bei ihrer Normsetzung aufgrund der durch Art. 9 Abs. 3 GG ge-
schützten Tarifautonomie ein weiter Gestaltungsspielraum zu, über den Arbeits-
vertrags- und Betriebsparteien nicht in gleichem Maß verfügen. Ihnen kommt eine
Einschätzungsprärogative zu, soweit die tatsächlichen Gegebenheiten, die be-
troffenen Interessen und die Regelungsfolgen zu beurteilen sind. Sie verfügen
über einen Beurteilungs- und Ermessensspielraum hinsichtlich der inhaltlichen
Gestaltung der Regelung und sind nicht verpflichtet, die jeweils zweckmäßigste,
vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Es genügt, wenn für die ge-
troffene Regelung ein sachlich vertretbarer Grund vorliegt
.
cc)
Gemessen daran liegt ein Verstoß von § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich
Halbs. 2 ETV gegen den allgemeinen Gleichheitssatz nicht vor. Die Regelung
bewirkt zwar, dass neu eingestellte Arbeitnehmer im Entgeltband 2 den Midpoint
erst spätestens nach Ablauf von fünf Jahren Tätigkeit in dem Band erreichen,
während dies bei Bestandsbeschäftigten spätestens nach drei Jahren der Fall ist.
Es kommt hinzu, dass neu eingestellte Arbeitnehmer in den Entgeltbändern 3 bis
6 eine vergleichbare Verlängerung der entsprechenden Wartezeit nicht erfahren.
Für die Differenzierungen besteht jedoch ein sachlich vertretbarer Grund.
(1)
Im Hinblick auf die unterschiedliche Behandlung von im Entgeltband 2
neu eingestellten Arbeitnehmern und Bestandsbeschäftigten konnten die Tarif-
vertragsparteien berücksichtigen, dass Arbeitnehmer durch Ausübung der ihnen
übertragenen Tätigkeit laufend Kenntnisse und Erfahrungen sammeln, die die
Arbeitsqualität und -quantität verbessern, und dass Erfahrungswissen auch nach
längerer Dauer des Arbeitsverhältnisses noch wachsen kann
. Diese Annahme einer Produktivitäts-
steigerung durch Erfahrungsgewinn entspricht der Lebenserfahrung
und steht im Übrigen im Einklang mit der Rechtspre-
chung des Gerichtshofs der Europäischen Union, wonach Berufserfahrung Ar-
beitnehmer befähigt, ihre Arbeit besser zu verrichten
. Vor
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diesem Hintergrund ist nicht zu erkennen, dass die Tarifvertragsparteien, soweit
Bestandsbeschäftigte im Entgeltband 2 den Midpoint früher erreichen als neu
eingestellte Arbeitnehmer, den ihnen zukommenden Beurteilungsspielraum
überschritten hätten.
(2)
Ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz ist ebenso wenig er-
kennbar, soweit nur die im Entgeltband 2 neu eingestellten Arbeitnehmer
ggf. eine Verlängerung der Wartezeit bis zum Erreichen des Midpoints hinneh-
men müssen, nicht aber neue Beschäftigte mit Zuordnung zum Entgeltband 3
und aufwärts. Insoweit ist jedenfalls zu beachten, dass die Tätigkeit von Arbeit-
nehmern in einer niedrigeren Entgeltgruppe erfahrungsgemäß geringere Anfor-
derungen an die bei Eintritt in das Arbeitsverhältnis vorhandene Qualifikation
stellt als dies bei Arbeitnehmern in höheren Entgeltgruppen der Fall ist. Entspre-
chend ist es auch vornehmlich der Zugewinn von Erfahrungswissen, der im Be-
reich weniger qualifizierter Arbeitnehmer den Wert ihrer Arbeitsleistung kontinu-
ierlich steigert. Dies konnten die Tarifvertragsparteien des ETV im Rahmen ihrer
Einschätzungsprärogative bei den Regelungen in § 2 Buchst. a dritter Spiegel-
strich, § 2 Buchst. b2 ETV ebenso berücksichtigen wie die mit dem ETV verfolg-
ten Ziele der Standortsicherung.
c)
Danach erfüllte die Klägerin im Streitzeitraum nicht die Voraussetzungen
für die Zahlung eines Jahreszielentgelts nach dem Midpoint des Entgeltbandes 2.
Sie war zwar seit dem 1. November 2014 dem Entgeltband 2 zugeordnet. Als
neu eingestellte Arbeitnehmerin bezog sie jedoch gem. § 2 Buchst. b2 ETV bis
zum 30. Oktober 2016 - unstreitig tarifgerecht - Vergütung nach dem Entgelt-
band 1. Mit Vergütung im Entgeltband 2 wurde sie erst seit 1. November 2016
beschäftigt. Da nur solche Zeiten in die Berechnung des Drei-Jahres-Zeitraums
nach § 2 Buchst. a dritter Spiegelstrich Halbs. 1 ETV einfließen, war dieser in den
streitgegenständlichen Klagemonaten Januar bis März 2018 noch nicht abgelau-
fen.
II.
Mangels Begründetheit der Hauptforderung besteht auch kein Anspruch
auf die beantragten Zinsen.
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III.
Die Klägerin hat gem. § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten ihrer erfolglosen Re-
vision zu tragen.
Linck
Volk
Berger
S. Röth-Ehrmann
Zorn
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