Urteil des BAG vom 14.09.2020

Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - einfache Signatur

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 14. September 2020
Fünfter Senat
- 5 AZB 23/20 -
ECLI:DE:BAG:2020:140920.B.5AZB23.20.0
I. Arbeitsgericht Ulm
Urteil vom 7. Februar 2019
- 2 Ca 127/18 -
II. Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Beschluss vom 12. März 2020
- 17 Sa 12/19 -
Entscheidungsstichworte:
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - einfache Signatur
Leitsatz:
Die einfache Signatur iSd. § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO meint die ein-
fache Wiedergabe des Namens am Ende des Textes, beispielsweise be-
stehend aus einem maschinenschriftlichen Namenszug unter dem Schrift-
satz oder einer eingescannten Unterschrift.
ECLI:DE:BAG:2020:140920.B.5AZB23.20.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
5 AZB 23/20
17 Sa 12/19
Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
BESCHLUSS
In Sachen
Beklagte, Widerklägerin, Berufungsklägerin und Revisions-
beschwerdeführerin,
pp.
Klägerin, Widerbeklagte, Berufungsbeklagte und Revisions-
beschwerdegegnerin,
hat der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts am 14. September 2020 be-
schlossen:
1. Auf die Revisionsbeschwerde der Beklagten wird der Be-
schluss des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg
vom 12. März 2020 - 17 Sa 12/19 - aufgehoben.
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5 AZB 23/20
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2. Der Beklagten wird gegen die Versäumung der Beru-
fungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ge-
währt.
3. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entschei-
dung - auch über die Kosten des Revisionsbeschwerde-
verfahrens - an das Landesarbeitsgericht zurückverwie-
sen.
Gründe
I.
Die Parteien streiten über Vergütung sowie eine Forderung der Beklag-
ten auf Zahlung einer Vertragsstrafe.
Das Arbeitsgericht hat mit einem am 7. Februar 2019 verkündeten Urteil
der Klage - soweit in der Revisionsbeschwerde von Bedeutung - stattgegeben
und die Widerklage der Beklagten abgewiesen. Das Urteil wurde dem Beklagten-
vertreter am 21. Februar 2019 zugestellt. Am 20. März 2019, einem Mittwoch,
wurde aus dem besonderen elektronischen Anwaltspostfach (iF beA) des Pro-
zessbevollmächtigten der Beklagten, Herrn Rechtsanwalt B, eine Berufungs-
schrift unter Verwendung des Briefbogens seiner Kanzlei, die auf denselben Tag
datiert, an das Landesarbeitsgericht übermittelt. Der Berufungsschriftsatz ist
nicht qualifiziert signiert. Am Ende des Schrift
satzes ist das Wort „Rechtsanwalt“
aufgeführt, jedoch nicht der Name des Absenders. Auf der ersten Seite des
Schriftsatzes ist links oben unter „Unser Zeichen“ das Aktenzeichen der Kanzlei
„SB564/19/ns“ und „RA B“ aufgeführt. Durch richterliche Verfügung vom 21. März
2019, vom (damaligen) Vorsitzenden um 14:02 Uhr elektronisch signiert, wurde
den Parteien der Eingang der Berufung am Vortag und das Aktenzeichen mitge-
teilt und auf die Berufungsbegründungsfrist hingewiesen. Die Verfügung wurde
ausweislich des Ab-Vermerks am 27. März 2019 an die Parteivertreter versandt.
Die Berufungsbegründung wurde vom Beklagtenvertreter ebenfalls über das beA
versandt. Am Ende dieses Schriftsatzes ist über dem Wort „Rechtsanwalt“ der
Name des Prozessbevollmächtigten maschinenschriftlich wiedergegeben.
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Mit Verfügung vom 18. Februar 2020 wies das Landesarbeitsgericht da-
rauf hin, dass Bedenken an der formgerechten Einlegung der Berufung bestün-
den, es fehle an einer einfachen Signatur der Berufungsschrift. Es sei beabsich-
tigt, die Berufung ohne mündliche Verhandlung als unzulässig zu verwerfen. Den
Parteien wurde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 4. März 2020 gegeben.
Mit qualifiziert signiertem Schriftsatz vom 2. März 2020 nahm der Beklag-
tenvertreter Stellung und beantragte vorsorglich Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand. Die Berufungsschrift sei auch ohne einfache Signatur dem diesen Schrift-
satz verantwortenden Rechtsanwalt zuzuordnen, weil der Beklagtenvertreter be-
reits eingangs genannt werde und der Schriftsatz über dessen beA-Postfach ein-
gereicht worden sei. Die fehlende Signatur sei nicht erheblich, weil andere Um-
stände eine der Unterschrift vergleichbare Gewähr dafür böten, dass der Pro-
zessbevollmächtigte die Berufung eingelegt, die Verantwortung für den Inhalt
übernommen habe und diese willentlich in den Verkehr gelangt sei. Das
beA-Kennwort sei nur dem Unterzeichner bekannt, womit eine Versendung aus
diesem Postfach anderen Personen nicht möglich sei. Jedenfalls sei Wiederein-
setzung zu gewähren, weil der Prozessbevollmächtigte mangels entgegenste-
hender Rechtsprechung davon habe ausgehen können, dass die Kombination
aus Namensnennung im Eingang und einer darauf bezogenen Bestätigung am
Ende des Schriftsatzes durch die Nennung „Rechtsanwalt“ eine ausreichende
einfache Signierung gemäß § 130a ZPO darstelle.
Mit Beschluss vom 12. März 2020 hat das Landesarbeitsgericht die Be-
rufung der Beklagten unter Zurückweisung des Antrags auf Wiedereinsetzung in
den vorigen Stand als unzulässig verworfen. Die Berufungsschrift genüge nicht
den Anforderungen des § 130a Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 ZPO. Sie sei zwar über einen
sicheren Übermittlungsweg eingereicht, jedoch nicht - auch nicht einfach - sig-
niert, weil der Name des Beklagtenvertreters am Ende des Schriftsatzes nicht
wiedergegeben sei. Es könne auch nicht aufgrund sonstiger Umstände von einer
ordnungsgemäßen Einlegung der Berufung ausgegangen werden, denn die
Identifizierung des Urhebers des Schriftsatzes sei nicht zweifelsfrei möglich. Wie-
dereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren, weil das Fristver-
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säumnis auf einem der Beklagten zuzurechnenden Verschulden ihres Prozess-
bevollmächtigten beruhe. Der Irrtum über die Notwendigkeit einer zumindest ein-
fachen Signatur sei nicht unverschuldet. Ein Hinweis auf den Formmangel von
Seiten des Landesarbeitsgerichts nach Eingang der Berufung hätte das Fristver-
säumnis nicht verhindert.
Hiergegen wendet sich die Beklagte mit ihrer vom Landesarbeitsgericht
zugelassenen Revisionsbeschwerde.
II.
Die Revisionsbeschwerde ist zulässig
und begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der
Beklagten zu Unrecht als unzulässig verworfen. Der Beklagten war Wiederein-
setzung in den vorigen Stand zu gewähren.
1.
Die von der Beklagten eingereichte Berufungsschrift wahrt nicht die nach
§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 519 Abs. 4 iVm. § 130a Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 ZPO
erforderliche Form. Die Berufungsschrift wurde zwar über einen sicheren Über-
mittlungsweg eingereicht, jedoch mangelt es an der erforderlichen einfachen Sig-
natur. Damit fehlt es an einem von Amts wegen zu prüfenden zwingenden und
unverzichtbaren Formerfordernis der Berufungsschrift als bestimmender Schrift-
satz.
a)
Die Berufung wird nach § 519 Abs. 1 ZPO durch eine beim Berufungs-
gericht einzureichende Berufungsschrift eingelegt. Die Berufungsschrift muss als
bestimmender Schriftsatz von einem beim Landesarbeitsgericht nach § 11 Abs. 4
Sätze 1, 2 und 4 ArbGG vertretungsberechtigten Prozessbevollmächtigten zwar
nicht selbst verfasst, aber nach eigenverantwortlicher Prüfung genehmigt und
grundsätzlich eigenhändig unterschrieben sein, § 130 Nr. 6 ZPO
. Für sie gelten die all-
gemeinen Vorschriften über vorbereitende Schriftsätze, § 519 Abs. 4 ZPO. Die
Berufungsschrift kann daher auch als elektronisches Dokument bei Gericht ein-
gereicht werden, wobei dann nach § 130a Abs. 3 Satz 1 ZPO das elektronische
Dokument mit einer qualifizierten Signatur der verantwortenden Person versehen
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oder von der verantwortenden Person signiert und auf einem sicheren Übermitt-
lungsweg eingereicht worden sein muss. Diese Anforderungen sind vorliegend
nicht eingehalten.
b)
Die Berufungsschrift vom 20. März 2019 ist nach den Feststellungen des
Landesarbeitsgerichts nicht qualifiziert signiert. Die Beklagte hat den Schriftsatz
über einen sicheren Übermittlungsweg eingereicht, jedoch mangelt es dem
Schriftsatz an der erforderlichen einfachen Signatur iSv. § 130a Abs. 3 Satz 1
Alt. 2 ZPO.
aa)
Die Regelung des § 130a Abs. 3 ZPO findet auf bestimmende
Schriftsätze wie der streitgegenständlichen Berufungsschrift Anwendung
.
bb)
Die Berufungsschrift ist nach den bindenden Feststellungen des Landes-
arbeitsgerichts über das beA des Prozessbevollmächtigten der Beklagten über-
mittelt worden. Bei diesem Übermittlungsweg handelt es sich nach der Legalde-
finition des § 130a Abs. 4 Nr.
2 ZPO um einen „sicheren“ iSd. Absatzes 3 der
Regelung
.
cc)
Die Berufungsschrift ist nicht mit der erforderlichen einfachen elektroni-
schen Signatur versehen.
(1)
Eine einfache elektronische Signatur nach dieser Variante der Regelung
besteht gemäß Art. 3 Nr. 10 der EU-Verordnung Nr. 910/2014 des Europäischen
Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung
und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur
Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG aus Daten in elektronischer Form, die an-
deren elektronischen Daten beigefügt oder logisch mit ihnen verbunden werden
und die der Unterzeichner zum Unterzeichnen verwendet. Bei der durch bzw. mit
einem Textverarbeitungsprogramm zum Abschluss des Schriftsatzes angebrach-
ten Namenswiedergabe des Verfassers handelt es sich um solche Daten
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.
(2)
Die einfache Signatur meint die einfache Wiedergabe des Namens am
Ende des Textes
. Dies kann beispielsweise der ma-
schinenschriftliche Namenszug unter dem Schriftsatz oder eine eingescannte
Unterschrift sein
. Für die maschinen-
schriftliche Unterzeichnung ist weder vorgeschrieben, dass (auch) ein Vorname
zu verwenden ist, noch dass die Bezeichnung „Rechtsanwalt“ wiedergegeben
wird
.
(3)
Die Signatur soll sicherstellen, dass die von dem sicheren Übermittlungs-
weg ausgewiesene Person mit der Person identisch ist, welche mit der wieder-
gegebenen Unterschrift die inhaltliche Verantwortung für das elektronische Do-
kument übernimmt. Fehlt es an dieser Identität, ist das Dokument nicht ordnungs-
gemäß eingereicht
. Dies
folgt bereits daraus, dass der sichere Übermittlungsweg bei einer Signatur durch
die verantwortende Person gleichrangig neben der qualifizierten elektronischen
Signatur steht. Die qualifizierte elektronische Signatur tritt ihrerseits an die Stelle
der eigenhändigen Unterschrift iSd. § 130 Nr. 6 ZPO. Neben den sonstigen Funk-
tionen der Unterschrift soll sie auch gewährleisten, dass das elektronische Doku-
ment nicht spurenlos manipuliert werden kann
. Diese Funktionen sollen auch bei einer einfachen Signatur und
einem sicheren Übermittlungsweg garantiert werden. Zum Ausdruck kommt die-
ser Aspekt in den sonstigen bundeseinheitlichen Übermittlungswegen nach
§ 130a Abs. 4 Nr. 4 ZPO. Sie sind nur dann als sichere Übermittlungswege an-
zusehen, wenn die Authentizität und Integrität der Daten gewährleistet sind
.
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(4)
Die Berufungsschrift weist keine einfache Signatur auf. An deren Ende
ist das Wort „Rechtsanwalt“ aufgeführt, jedoch nicht der Name des Prozessbe-
vollmächtigten der Beklagten.
c)
Es kann auch nicht aufgrund sonstiger Umstände von einer ordnungsge-
mäßen Berufungseinlegung ausgegangen werden.
aa)
Die einfache Signatur soll - ebenso wie die eigenhändige Unterschrift
oder die qualifizierte elektronische Signatur - die Identifizierung des Urhebers der
schriftlichen Prozesshandlung ermöglichen und dessen unbedingten Willen zum
Ausdruck bringen, die volle Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes zu
übernehmen und diesen bei Gericht einzureichen
. Das Fehlen einer einfachen Signatur kann - ebenso wie
einer Unterschrift - ausnahmsweise unschädlich sein, wenn - ohne Beweisauf-
nahme - aufgrund anderer Umstände zweifelsfrei feststeht, dass der Prozessbe-
vollmächtigte die Verantwortung für den Inhalt des Schriftsatzes übernommen
hat
.
bb)
Solche besonderen Begleitumstände sind hier nicht gegeben. Eine der
einfachen Signatur vergleichbare Gewähr für die Urheberschaft des Prozessbe-
vollmächtigten der Beklagten und dessen Willen, die Berufungsschrift in den
Rechtsverkehr zu bringen, bieten weder die Verwendung des Briefbogens seiner
Kanzlei noch die maschinenschriftliche Wiedergabe seines Namens oben auf der
ersten Seite des Schriftsatzes oder das Namenskürzel „SB“ im Aktenzeichen der
Kanzlei
. Die Nennung des Nachnamens bzw.
des Namenskürzels im Kopf des Schriftsatzes zeigt lediglich den zuständigen
Sachbearbeiter in der Kanzlei auf, trifft jedoch keine Aussage darüber, ob dieser
für den sodann folgenden Inhalt der Berufungsschrift auch die Verantwortung
übernehmen will. Weiterhin lässt sich ohne einfache Signatur nicht feststellen, ob
die als Absender ausgewiesene Person identisch mit der den Inhalt des Schrift-
satzes verantwortenden Person ist
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.
2.
Das Landesarbeitsgericht hat der Beklagten die beantragte Wiederein-
setzung in den vorigen Stand der Berufungsfrist zu Unrecht versagt. Der Antrag
ist begründet. Der angefochtene Beschluss verletzt die Beklagte in ihrem verfas-
sungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf ein faires Verfahren
.
a)
Nach § 233 Satz 1 ZPO ist einer Partei auf ihren Antrag Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn sie ohne ihr Verschulden verhin-
dert war, eine Notfrist einzuhalten. Dabei steht das Verschulden des Prozessbe-
vollmächtigten nach § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden der Partei gleich.
b)
Es kann offenbleiben, ob den Prozessbevollmächtigten der Beklagten ein
Schuldvorwurf zu machen ist. Ein etwaiges Verschulden war jedenfalls nicht ur-
sächlich dafür, dass die Beklagte die Frist des § 66 Abs. 1 Satz 1 ArbGG auf-
grund Formmangels nicht gewahrt hat.
aa)
Der Rechtsirrtum eines Rechtsanwalts ist regelmäßig nicht unverschul-
det. Ein Rechtsanwalt muss die Gesetze kennen, die in einer Anwaltspraxis ge-
wöhnlich anzuwenden sind. Eine irrige Auslegung des Verfahrensrechts kann als
Entschuldigungsgrund nur dann in Betracht kommen, wenn der Prozessbevoll-
mächtigte die volle, von einem Rechtsanwalt zu fordernde Sorgfalt aufgewendet
hat, um zu einer richtigen Rechtsauffassung zu gelangen. Hierbei ist ein strenger
Maßstab anzulegen. Die Partei, die dem Anwalt die Verfahrensführung überträgt,
darf darauf vertrauen, dass er ihr als Fachmann gewachsen ist. Wenn die Rechts-
lage zweifelhaft ist, muss der bevollmächtigte Anwalt den sicheren Weg wählen.
Von einem Rechtsanwalt ist zu verlangen, dass er sich anhand einschlägiger
Fachliteratur über die aktuelle Rechtslage und den Stand der Rechtsprechung
informiert. Dazu besteht umso mehr Veranlassung, wenn es sich um eine vor
Kurzem erfolgte Gesetzesänderung handelt, die ein erhöhtes Maß an Aufmerk-
samkeit verlangt, oder die Rechtslage offen ist, weil sie noch nicht höchstrichter-
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lich geklärt ist. Ein Rechtsirrtum ist jedoch ausnahmsweise als entschuldigt an-
zusehen, wenn er auch unter Anwendung der erforderlichen Sorgfaltsanforde-
rungen nicht vermeidbar war
.
bb)
Danach spricht einiges dafür, dass der Prozessbevollmächtigte der Be-
klagten bei der Übermittlung des Berufungsschriftsatzes ohne einfache Signatur
trotz der höchstrichterlich noch nicht geklärten Rechtslage nicht mit der erforder-
lichen Sorgfalt gehandelt hat. Zu berücksichtigen ist, dass in den Gesetzesmate-
rialien deutlich kommt zum Ausdruck, dass dem Dokument die Wiedergabe einer
Unterschrift angefügt werden muss
. Dort finden
sich zudem Hinweise auf deren Zwecke, nämlich den Abschluss des Dokuments
und die Sicherung der Identität zwischen Absender und der den Inhalt verantwor-
tenden Person. Bereits hieraus lässt sich der Schluss ziehen, dass das
Wort „Rechtsanwalt“ dem nicht genügen kann. Auch das Schrifttum setzt sich
bereits seit mehreren Jahren mit den Erfordernissen einer einfachen Signatur
auseinander, ohne dass sich hierbei signifikante Abweichungen der Meinungen
erkennen lassen. Regelmäßig findet sich die Auffassung, es bedürfe eines Na-
menszugs als Abschluss des Dokuments
.
cc)
Dennoch kann dahinstehen, ob den Prozessbevollmächtigten der Be-
klagten ein Schuldvorwurf trifft. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist
unabhängig vom Verschulden der Partei gemäß Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3
GG zu gewähren, wenn sie geboten ist, weil das Gericht seine prozessuale Für-
sorgepflicht und damit das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfah-
ren verletzt hat. In solchen Fällen tritt ein in der eigenen Sphäre der Partei lie-
gendes Verschulden hinter das staatliche Verschulden zurück. Ohne Verschul-
den verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist eine Partei dann, wenn ihr
Fristversäumnis nicht ursächlich gewesen ist, weil die Frist bei pflichtgemäßem
Verhalten des Gerichts hätte gewahrt werden können
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. In diesem Fall wirkt sich das mögliche Verschulden der
Partei oder ihres Prozessbevollmächtigten nicht mehr aus, so dass ihr Wieder-
einsetzung in den vorigen Stand zu gewähren ist
.
(1)
Aus dem „allgemeinen Prozessgrundrecht“ auf ein faires Verfahren aus
Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip
folgt die Ver-
pflichtung des Richters zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteilig-
ten in ihrer konkreten prozessualen Situation. Es ist ihm hiernach untersagt, aus
eigenen oder ihm zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen Verfahrens-
nachteile für die betroffenen Prozessparteien abzuleiten
. Der An-
spruch auf ein faires Verfahren kann eine gerichtliche Hinweispflicht auslösen,
wenn ein Rechtsmittel nicht in der vorgesehenen Form übermittelt worden ist.
Eine Partei kann erwarten, dass dieser Vorgang in angemessener Zeit bemerkt
wird und innerhalb eines ordnungsgemäßen Geschäftsgangs die notwendigen
Maßnahmen getroffen werden, um eine drohende Fristversäumnis zu vermeiden.
Unterbleibt ein gebotener Hinweis, ist der Partei Wiedereinsetzung zu bewilligen,
wenn er bei ordnungsgemäßem Geschäftsgang so rechtzeitig hätte erfolgen kön-
nen und müssen, dass es der Partei noch möglich gewesen wäre, die Frist zu
wahren. Kann der Hinweis im Rahmen ordnungsgemäßen Geschäftsgangs nicht
mehr so rechtzeitig erteilt werden, dass die Frist durch die erneute Übermittlung
des fristgebundenen Schriftsatzes noch gewahrt werden kann, oder geht trotz
rechtzeitig erteilten Hinweises der formwahrende Schriftsatz erst nach Fristablauf
ein, scheidet eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand allein aus diesem
Grund dagegen aus. Aus der verfassungsrechtlichen Fürsorgepflicht der staatli-
chen Gerichte und dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgt keine generelle
Verpflichtung der Gerichte dazu, die Formalien eines als elektronisches Doku-
ment eingereichten Schriftsatzes sofort zu prüfen, um erforderlichenfalls sofort
durch entsprechende Hinweise auf die Behebung formeller Mängel hinzuwirken
. Dies nähme den Verfahrensbeteilig-
ten und ihren Bevollmächtigten ihre eigene Verantwortung dafür, die Formalien
einzuhalten. Eine solche Pflicht überspannte die Anforderungen an die
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Grundsätze des fairen Verfahrens
. Die Abgrenzung dessen, was im Rahmen einer fairen Ver-
fahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge aus verfassungsrechtlichen Gründen
geboten ist, kann sich nicht nur am Interesse der Rechtsuchenden an einer mög-
lichst weitgehenden Verfahrenserleichterung orientieren, sondern hat auch zu
berücksichtigen, dass die Justiz im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätz-
licher Belastung geschützt werden muss
. Hiervon ausgehend gebietet
es die aus dem verfassungsrechtlichen Gebot eines fairen Verfahrens folgende
gerichtliche Fürsorgepflicht, eine Prozesspartei auf einen leicht erkennbaren
Formmangel - wie die fehlende Unterschrift in einem bestimmenden Schrift-
satz - hinzuweisen und ihr Gelegenheit zu geben, den Fehler fristgerecht zu be-
heben
.
(2)
Nach diesen Maßstäben hat das Landesarbeitsgericht verkannt, dass
der (damalige) Vorsitzende der Berufungskammer den Prozessbevollmächtigten
der Beklagten noch so rechtzeitig auf die fehlende einfache Signatur am Ende
der Berufungsschrift hätte hinweisen können und müssen, dass die Beklagte die
Berufung noch vor Fristablauf formgerecht hätte einlegen können.
(a)
Bei Eingang der Berufungsschrift am 20. März 2019 stand noch der
21. März 2019 als voller Kalendertag bis zum Fristablauf am 21. März 2019,
24:00 Uhr offen. Zwar dürfen Rechtsuchende nicht erwarten, dass die Gerichte
die Formalien eines elektronischen Dokuments sofort prüfen. Hier besteht jedoch
die Besonderheit, dass dem Vorsitzenden der zuständigen Kammer des Landes-
arbeitsgerichts am 21. März 2019 die Akte mit der Berufungsschrift vorgelegen
und er diese bearbeitet hat. Durch richterliche Verfügung hat er den Eingang der
Berufung am Vortag bestätigt, das Aktenzeichen mitgeteilt und einen Hinweis auf
die Berufungsbegründungsfrist erteilt. Diese Verfügung wurde nach den nicht an-
gegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts
vom Vor-
sitzenden am 21. März 2019 um 14:02 Uhr elektronisch signiert. Bereits zu die-
sem Zeitpunkt war damit für den Vorsitzenden aufgrund der Aktenbearbeitung
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ersichtlich, dass die Beklagte mit ihrer Berufungsschrift mangels einfacher Sig-
natur die Form des § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 519 Abs. 4 iVm. § 130a Abs. 1,
Abs. 3 ZPO nicht gewahrt hat. Bei dieser Sachlage war er zur Wahrung des An-
spruchs der Beklagten auf ein faires Verfahren gehalten, deren Prozessbevoll-
mächtigten rechtzeitig auf die fehlende einfache Signatur hinzuweisen. Einen sol-
chen Hinweis hätte der Vorsitzende der Berufungskammer nach Signierung sei-
ner Verfügung am 21. März 2019 um 14:02 Uhr ohne besondere Anstrengung
noch telefonisch oder per Telefax erteilen können und müssen.
(b)
Dem steht nicht entgegen, dass nach älteren Entscheidungen des Bun-
desverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts die Fürsorgepflicht eines
für die Berufung unzuständigen Gerichts von Verfassungs wegen auch dann kei-
nen sofortigen Hinweis durch Telefonanruf oder Telefax erfordert, wenn die Un-
zuständigkeit am letzten Tag der Berufungsfrist vom Richter erkannt wird
. Der Unterschriftsmangel war im vorliegenden Fall für den
zuständigen Richter - anders als die fehlende Zuständigkeit des Gerichts - ohne
nähere Lektüre der zweiseitigen Berufungsschrift ohne weiteres erkennbar. Die
gegenteilige Annahme des Landesarbeitsgerichts in der angegriffenen Entschei-
dung verkennt die Reichweite des vom Bundesverfassungsgericht in den letzten
Jahren entwickelten allgemeinen Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren
aus Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip
. Sie
führte dazu, dass ein Richter „sehenden Auges“ die Berufungsfrist verstreichen
lassen könnte, um dann die Berufung wegen fehlender Unterschrift oder Signatur
als unzulässig zu verwerfen, obwohl ihm ohne unzumutbare Anstrengung ein
schriftlicher Hinweis per Telefax oder jedenfalls ein telefonischer Hinweis möglich
gewesen wäre. In dieser Situation ist es deshalb geboten, durch entsprechende
Eilmaßnahmen einen richterlichen Hinweis in Bezug auf den Formmangel zu er-
teilen. Wäre der Hinweis erteilt worden, hätte der Mangel innerhalb der noch zur
Verfügung stehenden Zeit ohne weiteres behoben werden können. Bei dieser
Sachlage wirkt sich ein etwaiges Verschulden der Prozessbevollmächtigten der
Beklagten für die Fristversäumung nicht mehr aus.
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c)
Der Wiedereinsetzungsantrag ist fristgerecht erfolgt. Die Wiedereinset-
zungsfrist beträgt gemäß § 234 Abs. 1 Satz 1 ZPO im Falle der Versäumung der
Frist zur Einlegung der Berufung zwei Wochen. Die Frist beginnt zu laufen, so-
bald die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter erkannt hat oder bei Anwendung
der gebotenen Sorgfalt hätte erkennen können und müssen, dass die Rechtsmit-
telfrist versäumt war. In diesem Zeitpunkt ist das Hindernis behoben, durch das
die Partei von der Einhaltung der Frist abgehalten worden ist. Die Frist begann
daher mit Kenntnisnahme des gerichtlichen Hinweises vom 18. Februar 2020,
mit dem auf die fehlende einfache Signatur hingewiesen wurde, zu laufen. Der
am 2. März 2020 bei Gericht eingegangene Antrag auf Wiedereinsetzung war
somit fristgemäß. Da die Berufungsfrist am 21. März 2019 endete, hat der am
2. März 2020 angebrachte Wiedereinsetzungsantrag die Ausschlussfrist des
§ 234 Abs. 3 ZPO gewahrt.
3.
Der Senat konnte über den Wiedereinsetzungsantrag selbst entscheiden
und war nicht nach § 237 ZPO verpflichtet, die Sache zur Entscheidung über den
Wiedereinsetzungsantrag an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen. Die
Prüfung dieses Antrags ist dem Bundesarbeitsgericht als Rechtsmittelgericht bei
einer zugelassenen Revisionsbeschwerde ausnahmsweise möglich, wenn das
Berufungsgericht die Verwerfung der Berufung unter Ablehnung der Wiederein-
setzung ausgesprochen hat oder wenn die Wiedereinsetzung nach dem Akten-
stand ohne weiteres zu gewähren ist und Entscheidungsreife besteht
. Die Voraussetzungen beider Alter-
nativen sind hier erfüllt.
III.
Das Landesarbeitsgericht wird nunmehr in der Sache sowie über die
Kosten - auch der Revisionsbeschwerde - zu entscheiden haben.
Linck
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Volk
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