Urteil des BAG vom 11.06.2020
Schwerbehinderte Menschen - außerordentliche Kündigung
Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 11. Juni 2020
Zweiter Senat
- 2 AZR 442/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
I. Arbeitsgericht Wuppertal
Urteil vom 11. Oktober 2018
- 6 Ca 915/18 -
II. Landesarbeitsgericht Düsseldorf
Urteil vom 18. Juni 2019
- 3 Sa 1077/18 -
Entscheidungsstichworte:
Schwerbehinderte Menschen - außerordentliche Kündigung
Leitsatz:
Die Gerichte für Arbeitssachen haben bei einer außerordentlichen Kündi-
gung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen zu prü-
fen, ob die Kündigung unverzüglich iSd. § 174 Abs. 5 SGB IX erklärt wurde,
während die Einhaltung der zweiwöchigen Antragsfrist des § 174 Abs. 2
SGB IX allein vom Integrationsamt zu beurteilen ist.
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZR 442/19
3 Sa 1077/18
Landesarbeitsgericht
Düsseldorf
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
11. Juni 2020
URTEIL
Radtke, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
11. Juni 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesarbeitsgericht
Prof. Dr. Koch, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Rachor, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Dr. Schlünder sowie den ehrenamtlichen Richter
Dr. Niebler und die ehrenamtliche Richterin Trümner für Recht erkannt:
- 2 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 3 -
1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Lan-
desarbeitsgerichts Düsseldorf vom 18. Juni 2019 - 3 Sa
1077/18 - insoweit aufgehoben, wie es die Berufung der
Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Wupper-
tal vom 11. Oktober 2018 - 6 Ca 915/18 - zurückgewie-
sen hat.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen
Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten
des Revisionsverfahrens - an das Landesarbeitsgericht
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten zuletzt noch über eine außerordentliche Kündigung
der Beklagten sowie einen von ihr außergerichtlich gegenüber dem Kläger gel-
tend gemachten Zahlungsanspruch.
Der Kläger arbeitete seit dem Jahr 2000 als Hausmeister bei der Beklag-
ten, die mehr als 800 Arbeitnehmer in ihrem Betrieb beschäftigt. Er ist einem
schwerbehinderten Menschen gleichgestellt. Der Kläger und ein Arbeitskollege
nutzten während ihrer Arbeit tragbare und ihnen jeweils zugeordnete Telefone,
deren Ladestationen sich im Hausmeisterraum befinden. Der Kollege war in den
Monaten Juni bis August 2017 überwiegend arbeitsunfähig erkrankt und befand
sich in der verbleibenden Zeit in einer Wiedereingliederung.
Im Januar 2018 stellte die Beklagte nach ihren streitigen Angaben bei
der jährlichen Kontrolle ihrer Telefonrechnungen Unregelmäßigkeiten fest. Eine
Durchsicht habe ergeben, dass über die Nebenstellennummern des Klägers und
seines Kollegen in der Zeit vom 26. Juni 2017 bis einschließlich 9. August 2017
insgesamt 2756 Mal kostenpflichtig die Rufnummer einer Glücksspiel-Hotline ge-
wählt worden sei.
1
2
3
- 3 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 4 -
Der Kläger wurde nach Beendigung einer insgesamt zweiwöchigen
krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit am 13. und 14. März 2018 ebenso wie
sein Kollege zu dem Vorwurf angehört, er habe während der Arbeitszeit von den
dienstlichen Telefonen unbefugt die Glücksspiel-Hotline angerufen. Dabei bestritt
er die ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe.
Mit Schreiben vom 16. März 2018 beantragte die Beklagte beim Integra-
tionsamt die Zustimmung zur außerordentlichen Tat- und hilfsweise zur außeror-
dentlichen Verdachtskündigung. Am 4. April 2018 bestätigte ihr das Integrations-
amt den Eintritt der Fiktion gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX.
Die Beklagte hörte mit Schreiben vom 4. April 2018 den bei ihr bestehen-
den Betriebsrat zur beabsichtigten außerordentlichen Kündigung an, der in einer
abschließenden Stellungnahme am 9. April 2018 Bedenken äußerte. Die gleich-
falls mit Schreiben vom 4. April 2018 angehörte Schwerbehindertenvertretung
nahm die beabsichtigte Kündigung ohne Stellungnahme zur Kenntnis.
Mit einem dem Kläger am selben Tag zugegangenen Schreiben vom
10. April 2018 kündigte die Beklagte das mit ihm bestehende Arbeitsverhältnis
außerordentlich fristlos.
Die Beklagte machte außergerichtlich zunächst eine Forderung iHv.
1.913,62 Euro für die mit der Glücksspiel-Hotline geführten Telefonate gegen-
über dem Kläger geltend. Im Rahmen eines erstinstanzlichen Schriftsatzes hat
sie die Anspruchshöhe korrigiert. Zuletzt hat sich die Beklagte über einen bereits
einbehaltenen Betrag von 40,56 Euro hinaus nur eines weiteren Zahlungsan-
spruchs von 1.394,68 Euro berühmt.
Gegen die außerordentliche Kündigung hat sich der Kläger mit seiner
rechtzeitig beim Arbeitsgericht eingegangenen Klage gewandt, die er um einen
auf die Zahlungsforderung der Beklagten über 1.913,62 Euro bezogenen negati-
ven Feststellungsantrag erweitert hat. Er hat die Auffassung vertreten, die Kün-
digung sei unwirksam. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Zudem sei die Zwei-
wochenfrist nicht eingehalten worden. Eine ordnungsgemäße Anhörung zu den
streitgegenständlichen Vorwürfen habe nicht stattgefunden. Ferner hat der Klä-
4
5
6
7
8
9
- 4 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 5 -
ger die korrekte Anhörung des Betriebsrats sowie die ordnungsgemäße Beteili-
gung der Schwerbehindertenvertretung ebenso bestritten wie die ihm zur Last
gelegten Anrufe bei der Glücksspiel-Hotline.
Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren von Interesse - bean-
tragt
1.
festzustellen, dass das zwischen den Parteien beste-
hende Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Be-
klagten vom 10. April 2018 nicht aufgelöst worden ist;
2.
festzustellen, dass der Beklagten die mit Anschreiben
vom 19. April 2018 geltend gemachte Forderung iHv.
1.913,62 Euro gegenüber dem Kläger nicht zusteht.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, die
Kündigung sei wirksam. Aufgrund der Arbeitsunfähigkeit des Klägers vom
26. Februar 2018 bis zum 9. März 2018 sei eine frühere Anhörung nicht möglich
gewesen. Man habe beide Mitarbeiter zeitlich unmittelbar nacheinander zu einem
Gespräch bitten wollen, damit sie keine Möglichkeit zu einem wechselseitigen
Austausch und einer Absprache hätten. Nachdem der Kläger ebenso wie sein
Kollege bestritten habe, die Glücksspiel-Hotline angerufen zu haben, sei am 13.
und 14. März 2018 eine weitere Auswertung vorgenommen worden. Diese habe
ergeben, dass für insgesamt 109 Anrufe nur der Kläger in Frage komme, womit
dieser am 14. März 2018 konfrontiert worden sei. Sein erneutes Abstreiten der
Vorwürfe sei nicht glaubhaft gewesen. Nur der Kläger sei zu allen Anrufzeiten
zugegen gewesen. Alle anderen der zwölf zutrittsberechtigten Mitarbeiter/-innen
seien zumindest teilweise aufgrund von Krankheit oder Urlaub oder am frühen
Morgen noch gar nicht im Betrieb anwesend gewesen. Kein Anruf sei außerhalb
der Anwesenheitszeit des Klägers getätigt worden. Ab dem 10. August 2017 sei
der Kläger aufgrund von Arbeitsunfähigkeit nicht anwesend gewesen und die
Hotline nicht weiter gewählt worden. Es spreche viel dafür, dass sämtliche Anrufe
bei der Glücksspiel-Hotline durch den Kläger getätigt worden seien. Zumindest
sei davon auszugehen, dass die 109 Anrufe zu Zeiten, als nur er und (noch) kein
weiterer Kollege aus dem Facility-Management anwesend gewesen sei, nur von
10
11
- 5 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 6 -
ihm getätigt sein konnten. Der Kläger sei verpflichtet, die Kosten für die 2756 An-
rufe und die darauf entfallende Arbeitszeit zu erstatten.
Die Vorinstanzen haben der Klage - soweit vorliegend von Interesse -
stattgegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung
der Klage.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Mit der gegebenen Begrün-
dung durfte das Landesarbeitsgericht ihre Berufung gegen das der Klage statt-
gebende arbeitsgerichtliche Urteil nicht zurückweisen. Ob das Arbeitsverhältnis
der Parteien durch die Kündigung aufgelöst worden ist und der Beklagten ein
Zahlungsanspruch gegen den Kläger zusteht, kann der Senat nicht selbst ent-
scheiden. Das führt zur Aufhebung des Berufungsurteils
und
zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht
.
A.
Das Landesarbeitsgericht hat rechtsfehlerhaft angenommen, die von der
Beklagten ausgesprochene außerordentliche Kündigung erweise sich wegen
Versäumung der Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB als unwirk-
sam.
I.
Die Beklagte hat die außerordentliche Kündigung unter Berücksichtigung
der für schwerbehinderte Menschen und ihnen Gleichgestellte geltenden Rege-
lung in § 174 Abs. 5 SGB IX rechtzeitig erklärt.
1.
Gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX kann die außerordentliche Kündigung auch
nach Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB erfolgen, wenn sie unverzüg-
lich nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erklärt wird.
2.
Die Beklagte hat die sich aus § 174 Abs. 5 SGB IX ergebende Kündi-
gungserklärungsfrist gewahrt.
12
13
14
15
16
17
- 6 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 7 -
a)
§ 174 SGB IX ist auf das Arbeitsverhältnis des Klägers anwendbar. Die-
ser war nach den Feststellungen im Berufungsurteil mit Bescheid vom 9. Dezem-
ber 2016 einem schwerbehinderten Menschen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX gleich-
gestellt. Auf gleichgestellte behinderte Menschen werden nach § 151 Abs. 1 und
Abs. 3 SGB IX die besonderen Regelungen für schwerbehinderte Menschen des
Teils 3 des SGB IX - mit Ausnahme des § 208 SGB IX (Zusatzurlaub) und des
Kapitels 13 des SGB IX
(Unentgeltliche Beförderung) - angewendet. Dazu zäh-
len auch die Kündigungsschutzbestimmungen in Kapitel 4
.
b)
Der Ausspruch der Kündigung ist unverzüglich iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX
nach Erteilung der Zustimmung durch das Integrationsamt erfolgt.
aa)
„Erteilt“ iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX ist die Zustimmung, sobald eine solche
Entscheidung innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX getroffen und
der antragstellende Arbeitgeber hierüber in Kenntnis gesetzt oder wenn eine Ent-
scheidung innerhalb der Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX nicht getroffen
worden ist; in diesem Fall gilt die Zustimmung mit Ablauf der Frist gemäß § 174
Abs. 3 Satz 2 SGB IX als erteilt
.
bb)
Entsprechend der Legaldefinition des § 121 Abs.
1 BGB bedeutet „un-
verzüglich“ auch im Rahmen von § 174 Abs. 5 SGB IX „ohne schuldhaftes Zö-
gern“. Schuldhaft ist ein Zögern dann, wenn das Zuwarten durch die Umstände
des Einzelfalls nicht geboten ist. Da „unverzüglich“ weder „sofort“ bedeutet noch
damit eine starre Zeitvorgabe verbunden ist, kommt es auf eine verständige Ab-
wägung der beiderseitigen Interessen an. Dabei ist nicht allein die objektive Lage
maßgebend. Solange derjenige, dem unverzügliches Handeln abverlangt wird,
nicht weiß, dass er die betreffende Rechtshandlung vornehmen muss, oder es
mit vertretbaren Gründen annehmen kann, er müsse sie noch nicht vornehmen,
liegt kein „schuldhaftes“ Zögern vor
. Diese Grundsätze gelten auch, wenn der Arbeitgeber
die zuständigen Arbeitnehmervertretungen erst nach Abschluss des Verfahrens
18
19
20
21
- 7 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 8 -
vor dem Integrationsamt beteiligt
.
cc)
Die Kündigung ist iSv. § 174 Abs. 5 SGB
IX „erklärt“, wenn sie dem
schwerbehinderten Menschen gemäß § 130 BGB zugegangen ist
.
dd)
Danach ist die Frist des § 174 Abs. 5 SGB IX gewahrt.
(1)
Das Integrationsamt hat keine ausdrückliche Entscheidung über den An-
trag der Beklagten auf Erteilung der Zustimmung zur außerordentlichen Kündi-
gung des Arbeitsverhältnisses des Klägers getroffen, sondern der Beklagten am
4. April 2018 zutreffend bestätigt, dass die Fiktionswirkung des § 174 Abs. 3
Satz 2 SGB IX in Bezug auf ihren am 16. März 2018 eingegangenen Zustim-
mungsantrag eingetreten sei. Die Frist des § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX ist nach
§ 26 Abs. 1 SGB X iVm. § 187 Abs. 1, § 188 Abs. 1 BGB und § 26 Abs. 3 Satz 1
SGB X mit Ablauf des 3. April 2018 (Dienstag nach Ostern) abgelaufen.
(2)
Die Beklagte hat noch am selben Tag, als die Zustimmungsfiktion des
§ 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX eingetreten und ihr dies vom Integrationsamt mitge-
teilt worden war, den bei ihr bestehenden Betriebsrat und die Schwerbehinder-
tenvertretung angehört. Der Betriebsrat hat sich innerhalb der Frist des § 102
Abs. 2 Satz 3 BetrVG am 9. April 2018 (Montag) abschließend geäußert. Am
10. April 2018 ist dem Kläger das Kündigungsschreiben vom selben Tag zuge-
gangen.
3.
Die Regelung in § 174 Abs. 5 SGB IX ist nicht dahingehend teleologisch
zu reduzieren, dass sie nur Anwendung findet, wenn der Arbeitgeber die nach
§ 174 Abs. 1 iVm. § 168 SGB IX erforderliche Zustimmung des Integrationsamts
zur Kündigung innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB beantragt. Das
kann -
entgegen der bisherigen Senatsrechtsprechung, die von einer „Ausdeh-
nung
“ der Frist des § 626 Abs. 2 BGB
22
23
24
25
26
- 8 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 9 -
beziehungsweise einem „Aufschieben“ ihres Ab-
laufs
aus-
gegangen ist
- nicht angenommen
werden. Der Senat hält insoweit an seiner Rechtsprechung in den vorgenannten
Entscheidungen aus den bereits in seinem Urteil vom 27. Februar 2020
angeführten Gründen nicht mehr fest
.
a)
Gegen ein Verständnis von § 174 Abs. 5 SGB IX
als „Ausdehnung“ der
Frist des § 626 Abs. 2 Satz
1 BGB oder „Aufschieben“ ihres Ablaufs spricht der
Gesetzeswortlaut von § 174 Abs. 5 SGB IX. Die Regelung bestimmt, dass eine
Kündigung gerade „auch nach Ablauf der Frist des § 626 Absatz 2 Satz 1 des
Bürgerlichen Gesetzbuchs
“ erfolgen kann, wenn sie unverzüglich nach Erteilung
der Zustimmung erklärt wird. Darin liegt keine „Ausdehnung“ der Frist oder ein
„Aufschieben“ ihres Ablaufs. Der Ablauf der Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB
ist vielmehr Anwendungsvoraussetzung von § 174 Abs. 5 SGB IX.
b)
Gegen eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs von
§ 174 Abs. 5 SGB IX
auf Fälle, in denen die Versäumung der Frist des § 626
Abs. 2 Satz 1 BGB durch die Besonderheiten des Sonderkündigungsschutzes
bedingt war
spricht die gesonderte Fristenregelung in § 174 Abs. 2 SGB IX. Da-
nach kann die gemäß § 174 Abs. 1 iVm. § 168 SGB IX erforderliche Zustimmung
des Integrationsamts zur außerordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses
eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber nur innerhalb von
zwei Wochen beantragt werden
. Die Frist beginnt
gemäß § 174 Abs. 2 Satz 2 SGB IX mit dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitgeber
von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Die Frist-
bestimmungen sind damit § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB nachgebildet. Die Systematik
zeigt, dass der Gesetzgeber sie zusammen mit der Anforderung gemäß § 174
Abs. 5 SGB IX als Äquivalent und damit - entgegen der bisherigen Senatsrecht-
sprechung
27
28
- 9 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 10 -
als Ersatz für die Einhaltung der Kün-
digungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB konzipiert hat
. Dem Problem, dass
der Arbeitgeber bereits zu lange zugewartet haben kann, bevor er einen Antrag
auf Zustimmung zur außerordentlichen Kündigung beim Integrationsamt stellt, ist
demnach durch § 174 Abs. 2 SGB IX abschließend Rechnung getragen.
c)
Diese Sichtweise vermeidet zudem eine nach Sinn und Zweck der Fris-
tenregelung schwerlich zu rechtfertigende doppelte Prüfung der Zweiwochenfrist
zwischen Kenntnis von den Kündigungsgründen und Antragstellung beim Integ-
rationsamt einerseits durch die Gerichte für Arbeitssachen nach § 626 Abs. 2
BGB und andererseits durch das Integrationsamt bzw. die Verwaltungsgerichte
nach § 174 Abs. 2 SGB IX mit möglicherweise einander widersprechenden Er-
gebnissen
.
4.
Die Beklagte hat die Zustimmung des Integrationsamts zur außeror-
dentlichen Kündigung vom 10. April 2018 nach § 174 Abs. 2 SGB IX rechtzeitig
beantragt. Hiervon haben die mit der Beurteilung der Wirksamkeit der Kündigung
befassten Gerichte für Arbeitssachen aufgrund der eingetretenen Zustimmungs-
fiktion
auszugehen. Ihre Prüfung ist darauf be-
schränkt, ob die Kündigung nach erteilter bzw. als erteilt fingierter Zustimmung
unverzüglich iSv. § 174 Abs. 5 SGB IX erfolgt ist. Das war nach den vorstehen-
den Ausführungen
der Fall.
a)
Die Frage der Rechtzeitigkeit der Antragstellung beim Integrationsamt
bestimmt sich nach § 174 Abs. 2 SGB IX. Die Einhaltung der Frist ist Rechtmä-
ßigkeitsvoraussetzung für die Erteilung der Zustimmung
. Sie ist allein vom Integrationsamt bzw. im Falle der Anfechtung
der Entscheidung von den Verwaltungsgerichten zu prüfen
29
30
31
- 10 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 11 -
. Liegt eine Zustimmung
zur Kündigung vor, haben die Arbeitsgerichte dies ihren Entscheidungen zu-
grunde zu legen. Das gilt sowohl für ausdrückliche Entscheidungen des Integra-
tionsamts nach § 174 Abs. 3 Satz 1 SGB IX als auch für die Zustimmungsfiktion
des § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX. Die Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten
hat zur Folge, dass die Gerichte aller Rechtszweige an ihr Bestehen und ihren
Inhalt gebunden sind, selbst wenn sie rechtswidrig sind, soweit dem Gericht nicht
die Kontrollkompetenz eingeräumt ist
. Das folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG
und § 43 VwVfG bzw. § 39 SGB X. Ein (rechtswirksamer) Verwaltungsakt ist da-
her grundsätzlich von allen Staatsorganen zu beachten und ihren Entscheidun-
gen als gegeben zugrunde zu legen
. Die Tatbestandswirkung entfällt nur, wenn der Verwaltungs-
akt nichtig ist
. Eine nicht nichtige Zustimmung des Integrations-
amts entfaltet damit so lange Wirksamkeit, wie sie nicht rechtskräftig aufgehoben
ist. Nach rechtskräftiger Abweisung seiner Kündigungsschutzklage steht dem Ar-
beitnehmer ggf. die Restitutionsklage nach § 580 ZPO offen
.
b)
Die Arbeitsgerichte sind danach an eine erteilte Zustimmung gebunden
und auf eine Prüfung der Unverzüglichkeit der Kündigung gemäß § 174 Abs. 5
SGB IX beschränkt. Das Integrationsamt hat bei seiner Entscheidung allerdings
die Umstände zu berücksichtigen, die für das arbeitsrechtliche Kündigungs-
schutzverfahren von Bedeutung sind
. Die gesetzliche Regelung setzt gerade voraus, dass der
Gegenstand der öffentlich-rechtlichen Prüfung demjenigen der arbeitsrechtlichen
Prüfung entspricht
. Für die Beurteilung der Frage der Kennt-
niserlangung vom Kündigungsgrund iSd. § 174 Abs. 2 SGB IX gelten dieselben
Erwägungen, die bei der Einhaltung der Zweiwochenfrist des § 626 Abs. 2 BGB
32
- 11 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 12 -
zu beachten sind
. Zwar beginnt die Frist im Grundsatz nicht zu laufen,
bevor der Arbeitgeber von einer bereits festgestellten oder beantragten Schwer-
behinderteneigenschaft des Arbeitnehmers Kenntnis hat
. Dies erscheint sachgerecht, wenn der Arbeitgeber erst nach ei-
ner rechtzeitig innerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erklärten Kündigung
Kenntnis von der Schwerbehinderung bzw. einer entsprechenden Antragstellung
erlangt
. Ob dies auch dann
gelten kann, wenn der Arbeitgeber erst nach Ablauf von zwei Wochen nach
Kenntnis von den Kündigungsgründen von der Schwerbehinderung des Arbeit-
nehmers bzw. einer entsprechenden Antragstellung erfährt, aber nicht schon in-
nerhalb der Frist des § 626 Abs. 2 BGB eine Kündigung ohne Zustimmung des
Integrationsamts erklärt hat, ist ebenfalls allein im Rahmen der Fristenprüfung
nach § 174 Abs. 2 SGB IX zu klären.
c)
Nach diesen Grundsätzen war vom Landesarbeitsgericht nicht zu prüfen,
ob die Beklagte gemäß § 174 Abs. 2 SGB IX innerhalb von zwei Wochen nach
Kenntnis von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen die Zustimmung
zur Kündigung beim Integrationsamt beantragt hat.
5.
Das Berufungsurteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar
. Da die Versäumung der Frist des § 626 Abs. 2 BGB angesichts der
Zustimmung des Integrationsamts gemäß § 174 Abs. 3 Satz 2 SGB IX und des
nachfolgenden unverzüglichen Ausspruchs der Kündigung unschädlich ist, kann
sich die außerordentliche Kündigung der Beklagten als wirksam erweisen. Ob
das der Fall ist, kann der Senat nicht selbst entscheiden. Das führt in Bezug auf
33
34
- 12 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 13 -
den zu 1. erhobenen Feststellungsantrag zur Aufhebung des Berufungsurteils
.
II.
Der Senat sieht sich zu dem Hinweis veranlasst, dass das Berufungsge-
richt die Frage der Kündigungserklärungsfrist auch unbeschadet der Regelung in
§ 174 SGB IX rechtsfehlerhaft beurteilt hat. Nach seiner Auffassung war die Frist
des § 626 Abs. 2 BGB zum Zeitpunkt der Antragstellung beim Integrationsamt
mit Schreiben vom 16. März 2018 bereits abgelaufen. Die Beklagte habe ver-
säumt, den Kläger während der Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit zu den beste-
henden Verdachtsmomenten anzuhören, und dies auch nicht versucht. Entgegen
der Annahme des Berufungsgerichts war die Beklagte jedoch nicht gehalten, zur
Vermeidung des Fristablaufs bereits am 26. Februar 2018 eine Anhörung des
Klägers durchzuführen.
1.
Die Kündigungserklärungsfrist beginnt nach § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB mit
dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung
maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall, sobald er eine zu-
verlässige und hinreichend vollständige Kenntnis der einschlägigen Tatsachen
hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht, ob er das Arbeitsverhältnis
fortsetzen soll oder nicht. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die
für als auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände
.
2.
Die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB war zum Zeitpunkt
des Eingangs des Zustimmungsantrags beim Integrationsamt mit Schreiben vom
16. März 2018 noch nicht wegen eines von der Beklagten unterlassenen Ver-
suchs einer Anhörung des Klägers am 26. Februar 2018 abgelaufen.
a)
Allerdings hatte die Beklagte nach ihren eigenen Angaben bereits am
23. Februar 2018 Kenntnis davon, dass über das Telefon mit der Durchwahl 1780
im Zeitraum 26. Juni 2017 bis 9. August 2017 1487 Mal die Glücksspiel-Hotline
gewählt worden ist und über das Telefon mit der Durchwahl 1734 in dem genann-
ten Zeitraum 1269 Mal.
35
36
37
38
- 13 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 14 -
b)
Die Frist des § 626 Abs. 2 BGB begann am 23. Februar 2018 gleichwohl
noch nicht zu laufen. Die Beklagte durfte zur weiteren Aufklärung der Sachlage
zunächst eine Anhörung des Klägers und seines Kollegen abwarten. Nach dem
vom Landesarbeitsgericht festgestellten Sachverhalt haben besondere Um-
stände vorgelegen, aufgrund derer die erst am 13. und 14. März 2018 durchge-
führte Anhörung noch rechtzeitig gewesen sein kann.
aa)
Der Kündigungsberechtigte, der bislang nur Anhaltspunkte für einen
Sachverhalt hat, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigen könnte, kann
nach pflichtgemäßem Ermessen weitere Ermittlungen anstellen und den Be-
troffenen anhören, ohne dass die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB zu laufen
begänne. Dies gilt allerdings nur so lange, wie er aus verständigen Gründen mit
der gebotenen Eile Ermittlungen durchführt, die ihm eine umfassende und zuver-
lässige Kenntnis des Kündigungssachverhalts und der Beweismittel verschaffen
sollen. Soll der Kündigungsgegner angehört werden, muss dies innerhalb einer
kurzen Frist erfolgen. Sie darf im Allgemeinen nicht mehr als eine Woche betra-
gen und nur bei Vorliegen besonderer Umstände überschritten werden. Für die
übrigen Ermittlungen gilt keine Regelfrist. Bei ihnen ist fallbezogen zu beurteilen,
ob sie hinreichend zügig betrieben wurden. Sind die Ermittlungen abgeschlossen
und hat der Kündigungsberechtigte eine hinreichende Kenntnis vom Kündigungs-
sachverhalt, beginnt der Lauf der Ausschlussfrist. Unbeachtlich ist, ob die Ermitt-
lungsmaßnahmen tatsächlich zur Aufklärung des Sachverhalts beigetragen ha-
ben oder überflüssig waren
.
bb)
Die Beklagte durfte eine Anhörung des Klägers abwarten. Zwar war ihr
nach eigenen Angaben seit dem 23. Februar 2018 bekannt, dass unter der Ne-
benstellennummer eines schnurlosen Telefons, das grundsätzlich dem Kläger
zugeordnet war, in erheblichem Umfang eine Glücksspiel-Hotline angerufen wor-
den war und - in ähnlichem Umfang - auch unter der dem Kollegen des Klägers
zugeordneten Nebenstellennummer, der im maßgeblichen Zeitraum überwie-
gend arbeitsunfähig erkrankt war. Sie durfte es aber für erforderlich halten - auch
39
40
41
- 14 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 15 -
zur Ermittlung etwaig entlastender Umstände - den Kläger hierzu anzuhören. Da-
bei durfte sie annehmen, dass dessen schriftliche Anhörung wegen einer dann
möglichen Absprache mit dem gleichfalls noch verdächtigten Kollegen nicht
zweckmäßig war, sondern allein eine Anhörung in einem Personalgespräch zeit-
nah mit der dann ebenfalls anstehenden Anhörung des Kollegen erfolgverspre-
chend bei der Sachverhaltsaufklärung sein würde. Das wird im Ergebnis auch
vom Landesarbeitsgericht nicht in Frage gestellt.
cc)
Die Beklagte hat zwischen dem Vorliegen der Auswertungen am
23. Februar 2018 (Freitag) und dem 13. März 2018 (Dienstag, ein Tag nach Ar-
beitsantritt des Klägers nach beendeter Arbeitsunfähigkeit), als das erste Perso-
nalgespräch durchgeführt wurde, allerdings keine Maßnahmen zur Ermittlung
des Kündigungssachverhalts ergriffen, sondern ist untätig geblieben. Dies führte
vorliegend aber nicht dazu, dass die Frist des § 626 Abs. 2 BGB als gesetzlich
konkretisierter Verwirkungstatbestand
spätestens am 26. Februar 2018 zu laufen begann, wie das Lan-
desarbeitsgericht meint. Dabei hat es unberücksichtigt gelassen, dass es der Be-
klagten gerade auf eine unmittelbar aufeinander folgende Anhörung des Klägers
und von dessen Kollegen ankam. Überdies hat die Beklagte die Anhörung des
Klägers mit der gebotenen Eile durchgeführt. Während der zweiwöchigen krank-
heitsbedingten Arbeitsunfähigkeit des Klägers musste sie nicht an ihn herantre-
ten, um eine mündliche oder schriftliche Stellungnahme zu dem Kündigungs-
sachverhalt einzuholen.
(1)
Die unbestimmten Rechtsbegriffe der „gebotenen Eile“ bzw. der „beson-
deren Umstände“ unterliegen im Zusammenhang mit der Anhörung eines Arbeit-
nehmers nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Kontrolle. Das Revisi-
onsgericht kann nur prüfen, ob das Berufungsgericht den unbestimmten Rechts-
begriff richtig erkannt, bei der Subsumtion des Einzelfalls beibehalten, nicht ge-
gen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungssätze verstoßen und alle erhebli-
chen Umstände berücksichtigt hat.
42
43
- 15 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 16 -
(2)
Hieran fehlt es vorliegend. Das Landesarbeitsgericht hat bei der Ausle-
gung und Anwendung der oben genannten Merkmale den Umstand der Arbeits-
unfähigkeit des Klägers ab dem 26. Februar 2018 nicht ausreichend berücksich-
tigt. Die Beklagte war nicht gehalten, den Kläger vor Ende seiner Arbeitsunfähig-
keit anzuhören. Ihre sich aus § 626 Abs. 2 Satz 1 BGB ergebende Obliegenheit,
mit der gebotenen Eile Ermittlungen durchzuführen, zu denen auch die Anhörung
des Kündigungsgegners gehören kann
, kollidierte mit ihrer aus § 241 Abs. 2 BGB folgenden - und im konkreten
Fall ausschlaggebenden - Pflicht, auf das Wohl und die berechtigten Interessen
des betroffenen Arbeitnehmers Rücksicht zu nehmen und ihn vor Gesundheits-
gefahren zu schützen
.
(a)
Eine schlichte Untätigkeit des Arbeitgebers reicht allerdings grundsätz-
lich nicht aus, um den Beginn des Laufs der Kündigungserklärungsfrist zu ver-
hindern
.
(b)
Während der Dauer einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit ist eine
Kontaktaufnahme mit dem Arbeitnehmer aus Gründen der Rücksichtnahme auf
dessen Genesungsprozesses nur begrenzt zulässig
.
Der Arbeitgeber muss wegen seiner sich aus § 241 Abs. 2 BGB ergebenden
Pflicht auf die Erkrankung des Arbeitnehmers Rücksicht nehmen und alles unter-
lassen, was dem Genesungsprozess abträglich war oder ggf. sogar eine Ver-
schlechterung des Zustands herbeiführen konnte
.
(c)
Das Landesarbeitsgericht beruft sich in diesem Zusammenhang zu Un-
recht auf die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 2. November 2016
. Dabei nimmt es nicht genügend in den Blick,
dass sich diese nur zu Maßgaben verhält, was der Arbeitgeber im Rahmen sei-
nes Weisungsrechts vom Arbeitnehmer während dessen Erkrankung
darf. Es verkennt zudem, dass wegen der Gefahr einer Beeinträchtigung des Ge-
nesungsprozesses und einer dadurch bedingten Verlängerung des krankheitsbe-
dingten Ausfalls der Arbeitsleistung es die Rücksichtnahmepflicht aus § 241
44
45
46
47
- 16 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 17 -
Abs. 2 BGB gebietet, dem Arbeitgeber die Erteilung von Weisungen auf drin-
gende betriebliche Anlässe zu beschränken und sich bezüglich der Art und
Weise, der Häufigkeit und der Dauer der Inanspruchnahme am wohlverstande-
nen Interesse des Arbeitnehmers zu orientieren. Ist kein derartiger Anlass gege-
ben, hat der Arbeitgeber jegliche Weisung während der Dauer der Arbeitsunfä-
higkeit zu unterlassen
. Deshalb ist schon der
Anspruch des Arbeitgebers, ein „kurzes Personal-
gespräch“ zu führen, nur unter sehr eingeschränkten Möglichkeiten gegeben,
wozu der Umstand gehört, dass das Gespräch nicht auf einen Zeitpunkt nach
Beendigung der Arbeitsunfähigkeit aufschiebbar ist. Auch wenn diese Anforde-
rungen erfüllt sind, ist der Arbeitgeber nur ausnahmsweise berechtigt, den er-
krankten Arbeitnehmer anzuweisen, im Betrieb zu erscheinen. Dies kommt nur
in Betracht, wenn die persönliche Anwesenheit des Arbeitnehmers im Betrieb
dringend erforderlich ist und nicht bis nach der Genesung zugewartet werden
kann
. Dass vorlie-
gend für die Kontaktaufnahme ein dringender betrieblicher Anlass bestanden hat,
der eine Kontaktaufnahme mit dem Kläger bereits im Verlauf der ersten oder
zweiten Woche seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit gerechtfertigt
hätte, ist vom Landesarbeitsgericht nicht festgestellt worden.
(d)
Für das Anlaufen der Frist des § 626 Abs. 2 BGB gelten bei Arbeitsunfä-
higkeit des Arbeitnehmers folgende Grundsätze.
(aa)
Der Arbeitgeber muss wegen seiner eingeschränkten Kontaktaufnahme-
möglichkeit mit dem erkrankten Arbeitnehmer und dessen fehlender Verpflich-
tung, den Grund und die Auswirkungen seiner Arbeitsunfähigkeit mitzuteilen
regelmäßig nicht nachforschen, ob der
Arbeitnehmer trotz Arbeitsunfähigkeit an einer Anhörung teilnehmen kann bzw.
versuchen, ihn zu der Teilnahme an einer Anhörung zu bewegen
48
49
- 17 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 18 -
.
(bb)
Andererseits kann der Arbeitgeber auch während einer krankheitsbe-
dingten Arbeitsunfähigkeit außerordentlich kündigen. Daher darf er, sofern er
sich die Möglichkeit zur außerordentlichen Kündigung offenhalten will, auch im
Fall der Erkrankung des Arbeitnehmers, nicht beliebig lang zuwarten, bis er ver-
sucht, mit diesem auch während der Arbeitsunfähigkeit die erforderliche Sach-
verhaltsaufklärung durchzuführen. Dies wäre mit dem Normzweck des § 626
Abs. 2 BGB nicht zu vereinbaren. Insoweit ist der Arbeitgeber nach einer ange-
messenen Frist gehalten, mit dem Arbeitnehmer Kontakt aufzunehmen, um zu
klären, ob dieser gesundheitlich in der Lage ist, an der gebotenen Sachver-
haltsaufklärung mitzuwirken. Diese Anfrage kann der Arbeitgeber mit einer kur-
zen Erklärungsfrist verbinden. Wartet der Arbeitgeber, dem der Arbeitnehmer
mitteilt, er könne sich wegen einer Erkrankung nicht, auch nicht schriftlich äußern,
dessen Gesundung ab, um ihm eine Stellungnahme zu den Vorwürfen zu ermög-
lichen, liegen in der Regel hinreichende besondere Umstände vor, aufgrund de-
rer der Beginn der Frist des § 626 Abs. 2 BGB entsprechend lange hinausge-
schoben wird. Dem Arbeitgeber, der die Möglichkeit einer weiteren Aufklärung
durch den Arbeitnehmer trotz der Zeitverzögerung nicht ungenutzt lassen
möchte, wird regelmäßig nicht der Vorwurf gemacht werden können, er betreibe
keine hinreichend eilige Aufklärung. Umgekehrt verletzt der Arbeitgeber in einem
solchen Fall nicht notwendig seine vor einer Verdachtskündigung gegebene Auf-
klärungspflicht aus § 626 Abs. 1 BGB, wenn er von einem weiteren Zuwarten ab-
sieht. Ihm kann - abhängig von den Umständen des Einzelfalls - eine weitere
Verzögerung unzumutbar sein. Das ist anzunehmen, wenn der Arbeitgeber da-
von ausgehen darf, der Arbeitnehmer werde sich in absehbarer Zeit nicht äußern
(können)
.
50
- 18 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 19 -
(cc)
Für die Dauer der „angemessenen“ Frist, binnen welcher der Arbeitgeber
an den erkrankten Arbeitnehmer zur Klärung seiner Fähigkeit herantreten muss,
an der Aufklärung des möglichen Kündigungssachverhalts mitzuwirken, beste-
hen keine starren Grenzen. Der Senat hat in seiner Entscheidung vom 27. Juni
2019
einen Zeitraum von drei Wochen für die Kontaktaufnahme mit
einer arbeitsunfähig erkrankten Zeugin wegen der Entbindung von einer Vertrau-
lichkeitsvereinbarung noch als ausreichend angesehen und nicht beanstandet.
(dd)
Daran gemessen musste die Beklagte nicht vor dem Ende der zweiwö-
chigen Arbeitsunfähigkeit des Klägers an diesen herantreten, um zu klären, ob
er gesundheitlich in der Lage ist, an der gebotenen Sachverhaltsaufklärung mit-
zuwirken. Eine Pflicht der Beklagten, bereits früher Erkundigungen beim Kläger
einzuholen, ob er auch während der Arbeitsunfähigkeit zu einem Personalge-
spräch in den Betrieb kommen kann, bestand umso weniger, als dies - wie aus-
geführt - dem berechtigten Wunsch der Beklagten zuwidergelaufen wäre, den
Kläger zur Vermeidung etwaiger Absprachen nicht frühzeitig über den gegen ihn
bestehenden Verdacht in Kenntnis zu setzen.
B.
Das Landesarbeitsgericht hat ferner rechtsfehlerhaft der negativen Fest-
stellungsklage des Klägers stattgegeben. Mit der gegebenen Begründung durfte
es nicht annehmen, dass der Beklagten die mit Anschreiben vom 19. April 2018
geltend gemachte Forderung iHv. 1.913,62 Euro gegenüber dem Kläger nicht zu-
steht.
I.
Hinsichtlich des 1.435,24 Euro übersteigenden Betrags ist die negative
Feststellungsklage mangels Feststellungsinteresses iSv. § 256 Abs. 1 ZPO be-
reits unzulässig, weshalb über deren Begründetheit insoweit nicht zu befinden
war.
1.
Ein rechtliches Interesse an einer alsbaldigen Feststellung des Beste-
hens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses ist gegeben, wenn dem
Recht oder der Rechtslage eine gegenwärtige Gefahr der Unsicherheit droht und
51
52
53
54
55
- 19 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 20 -
das erstrebte Urteil geeignet ist, diese Gefahr zu beseitigen. Eine solche Gefähr-
dung liegt in der Regel schon darin, dass der Beklagte sich eines Anspruchs ge-
gen den Kläger berühmt
.
2.
Eine solche Gefährdung liegt hinsichtlich des 1.435,24 Euro übersteigen-
den Betrags nicht (mehr) vor.
a)
Die Beklagte hat vom Kläger zwar zunächst außergerichtlich mit Schrei-
ben vom 19. April 2018 einen Betrag von 1.913,62 Euro verlangt, später aber
einen Rechenfehler eingeräumt. Sie berühmt sich nunmehr noch eines An-
spruchs von insgesamt 1.435,24 Euro. Der Kläger hat aber seine negative Fest-
stellungsklage weder teilweise zurückgenommen noch teilweise für erledigt er-
klärt.
b)
Insoweit handelt es sich um eine andere Konstellation als im Fall des
Bundesgerichtshofs vom 10. Oktober 1991
,
in dem die dortige Beklagte von ihrer ursprünglichen Geltendmachung nicht ein-
deutig abgerückt war. Vorliegend hat die Beklagte klar zum Ausdruck gebracht,
dass der zuvor geltend gemachte Betrag auf einem Rechenfehler beruhe.
II.
Das Landesarbeitsgericht durfte im Übrigen mit der gegebenen Begrün-
dung die negative Feststellungsklage nicht als begründet ansehen, weil die Be-
klagte nicht den Nachweis erbracht habe, der Kläger habe die insgesamt 2756
unerlaubten Anrufe bei einer kostenpflichtigen Glücksspiel-Hotline getätigt oder
zumindest die 109 Anrufe zu Zeiten, zu denen er der einzige eingestempelte Mit-
arbeiter mit Zugang zum Hausmeisterraum gewesen sein soll.
1.
Zu Recht hat das Berufungsgericht zugrunde gelegt, dass die Beklagte
für die Voraussetzungen des Anspruchs, dessen Bestehen der Kläger mit seiner
negativen Feststellungsklage bestreitet, darlegungs- und beweispflichtig ist. Da-
bei ist von dem allgemeinen prozessualen Grundsatz auszugehen, dass jede
Partei diejenigen Tatsachen darlegen und beweisen muss, aus denen sie ihren
56
57
58
59
60
- 20 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 21 -
Anspruch herleitet. Den Anspruchsteller trifft daher die Beweislast für alle rechts-
begründenden Tatsachen, wobei es gleichgültig ist, in welcher Parteirolle er sich
dabei befindet. Bei der negativen Feststellungsklage muss der Feststellungsklä-
ger deshalb lediglich beweisen, dass sich der Beklagte eines Anspruchs auf-
grund eines bestimmten Lebenssachverhalts berühmt. Demgegenüber obliegt
dem Anspruchsteller in der Rolle des Feststellungsbeklagten der Beweis derjeni-
gen Tatsachen, aus denen er seinen Anspruch herleitet, denn auch bei der leug-
nenden Feststellungsklage ist - wenn auch mit umgekehrten Parteirollen - Streit-
gegenstand der materielle Anspruch, um dessen Nichtbestehen gestritten wird.
Deshalb ist die Umkehr der Parteirollen bei der negativen Feststellungsklage auf
die Darlegungs- und Beweislastverteilung ohne Einfluss
.
2.
Das Landesarbeitsgericht hat an die Überzeugungsbildung in Bezug auf
den von der Beklagten geltend gemachten Anspruch zu hohe Anforderungen ge-
stellt und damit § 286 Abs. 1 ZPO verletzt.
a)
Eine Überzeugungsbildung iSd. § 286 Abs. 1 ZPO setzt nicht immer eine
mathematisch lückenlose Gewissheit voraus. Selbst nach dem strengen Maß-
stab des § 286 ZPO bedarf es keines naturwissenschaftlichen Kausalitätsnach-
weises und auch keiner an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, vielmehr
genügt ein für das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit, der ver-
bleibenden Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen
.
Das Gericht muss ggf. begründen,
warum es Restzweifel nicht überwinden konnte. Insbesondere darf es das Nicht-
erreichen eines ausreichenden Grads an Gewissheit nicht allein darauf stützen,
es seien andere Erklärungen theoretisch denkbar
.
b)
Soll ein Vortrag mittels Indizien bewiesen werden, hat das Gericht zu
prüfen, ob es die vorgetragenen Hilfstatsachen - deren Richtigkeit unterstellt -
von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen. Es hat die insoweit maßgeben-
den Umstände vollständig und verfahrensrechtlich einwandfrei zu ermitteln und
61
62
63
- 21 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 22 -
alle Beweisanzeichen erschöpfend zu würdigen. Dabei sind die Tatsacheninstan-
zen grundsätzlich frei darin, welche Beweiskraft sie den behaupteten Indiztatsa-
chen im Einzelnen und in einer Gesamtschau beimessen. Revisionsrechtlich ist
ihre Würdigung allein daraufhin zu überprüfen, ob alle Umstände vollständig be-
rücksichtigt und Denk- und Erfahrungsgrundsätze nicht verletzt wurden. Um
diese Überprüfung zu ermöglichen, haben sie nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO die
wesentlichen Grundlagen ihrer Überzeugungsbildung nachvollziehbar darzule-
gen
. Dies er-
fordert zwar keine ausdrückliche Auseinandersetzung mit allen denkbaren Ge-
sichtspunkten. Die Urteilsgründe müssen aber erkennen lassen, dass überhaupt
eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat
. Es genügt daher nicht, al-
lein durch formelhafte Wendungen ohne Bezug zu den konkreten Fallumständen
zum Ausdruck zu bringen, das Gericht sei von der Wahrheit einer Tatsache über-
zeugt oder nicht überzeugt
.
c)
Diesen Anforderungen wird die Würdigung des Landesarbeitsgerichts
nicht gerecht.
aa)
Es hat ausgeführt, die Beklagte habe nur Verdachtsindizien benannt,
denn bei keinem der Telefonanrufe habe jemand den Kläger gesehen und/oder
gehört. Auch der Umstand, dass der Kläger bei 109 Telefonanrufen der einzige
zu diesem Zeitpunkt eingestempelte Mitarbeiter mit Zutrittsberechtigung zum
Hausmeisterraum gewesen sei, belege nicht, dass er die Anrufe getätigt habe.
Die Überlegung, es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich ein anderer
Mitarbeiter frühmorgens ohne einzustempeln Zutritt zum Hausmeisterraum ver-
schafft habe, bezeichnet das Landesarbeitsgericht allerdings
selbst als „spekula-
tiv“.
bb)
Dabei begründet das Berufungsgericht nicht, warum es Restzweifel nicht
überwinden konnte, obwohl jedenfalls bei den 109 Telefonanrufen alles für eine
64
65
66
- 22 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
- 23 -
„Täterschaft“ des Klägers spricht und es deshalb auch naheliegt, dass er die an-
deren Anrufe getätigt hat. Insbesondere hat das Landesarbeitsgericht das Nicht-
erreichen eines ausreichenden Grads an Gewissheit allein darauf gestützt, dass
eine andere Erklärung theoretisch denkbar sei. Ferner hat es den Vortrag der
Beklagten nicht gewürdigt, dass kein Anruf außerhalb der Anwesenheitszeit des
Klägers getätigt worden sei und die Glücksspiel-Hotline ab dem 10. August 2017
nicht mehr angerufen wurde, nachdem der Kläger arbeitsunfähig erkrankte.
3.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass eine rechtsfehlerfreie Würdigung aller
relevanten Umstände die tatrichterliche Überzeugung von der Begehung der Tat
durch den Kläger und dem Bestehen der von der Beklagten geltend gemachten
Ansprüche erbringt. Die erforderliche Würdigung der Indiztatsachen kann der Se-
nat nicht selbst vornehmen
.
C.
Der Rechtsstreit ist an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen
. Im fortgesetzten Berufungsverfahren wird es insbe-
sondere zu prüfen haben, ob ein wichtiger Grund für die außerordentliche Kündi-
gung iSv. § 626 Abs. 1 BGB vorlag und der Betriebsrat nach § 102 BetrVG bzw.
die Schwerbehindertenvertretung nach § 178 Abs. 2 SGB IX ordnungsgemäß
angehört bzw. beteiligt wurden, was es bislang - nach seiner Begründungslinie
konsequent - unterlassen hat. Darüber, ob die Beklagte - unabhängig von der
Frage der Anhörung des Klägers - die Ermittlungen im Übrigen mit der gebotenen
Eile betrieben hat, ist nach Maßgabe der Ausführungen in Rn. 31 ff. im fortge-
setzten Berufungsverfahren nicht mehr zu befinden. Ferner wird das Landesar-
beitsgericht hinsichtlich der negativen Feststellungsklage zu prüfen haben, ob die
von der Beklagten geschilderten Umstände bezüglich der Telefonanrufe bei zu-
treffender Anwendung des § 286 Abs. 1 ZPO den Schluss zulassen, dass ein für
das praktische Leben brauchbarer Grad von Gewissheit besteht, der verbleiben-
den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen, dass der Klä-
ger sie geführt hat. Dies erscheint jedenfalls nach seinen bisherigen Feststellun-
67
68
- 23 -
2 AZR 442/19
ECLI:DE:BAG:2020:110620.U.2AZR442.19.0
gen naheliegend. Ferner wird das Berufungsgericht ggf. den Parteien Gelegen-
heit zu geben haben, betreffend den unzulässigen Teil der negativen Feststel-
lungsklage, prozessuale Erklärungen abzugeben.
Koch
Rachor
Schlünder
Trümner
Niebler