Urteil des BAG vom 25.11.2010

Kündigungsschutzprozess - Verwirkung

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BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZR 323/09
8 Sa 892/08
Landesarbeitsgericht
München
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
25. November 2010
URTEIL
Schmidt, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Kläger,
Berufungsbeklagter und Revisionskläger,
pp.
Beklagte,
Berufungsklägerin und Revisionsbeklagte,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 25. November 2010 durch den Vorsitzenden Richter am Bun-
desarbeitsgericht Kreft, den Richter am Bundesarbeitsgericht Schmitz-
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Scholemann, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Berger sowie die ehren-
amtlichen Richter Dr. Bartz und Dr. Grimberg für Recht erkannt:
1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Lan-
desarbeitsgerichts München vom 10.
Februar 2009
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2. Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Ent-
scheidung, auch über die Kosten der Revision, an das
Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten noch über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfs-
weise ordentlichen Kündigung und zweier Abmahnungen.
Der 1958 geborene Kläger war seit April 2000 bei der konzernangehö-
rigen Beklagten als Leiter Rechnungswesen beschäftigt. Durch E-Mail vom April
2002 teilte er seinen Kollegen mit, für ihn werde Mitte des Jahres der Zeitpunkt
seines Austritts kommen, „um plangemäß in die A Hauptverwaltung zurückzu-
kehren“. Seit Anfang August 2002 war er auf eigenen Wunsch von der Arbeits-
leistung freigestellt.
Mit Schreiben vom 28. November 2002 kündigte die Beklagte das Ar-
beitsverhältnis ordentlich zum 31. Dezember 2002. Dagegen erhob der Kläger
am 19. Dezember 2002 Kündigungsschutzklage und begehrte seine Weiter-
beschäftigung. Am 22. Januar 2003 erklärte die Beklagte die Kündigung „ver-
bindlich für gegenstandlos“ und forderte den Kläger auf, die Arbeit bei ihr wieder
aufzunehmen. Dieser erklärte mit Schreiben vom 24. Januar 2003, die ein-
seitige „Zurücknahme“ der Kündigung sei nicht möglich. Ihm sei eine Über-
legungsfrist von einer Woche einzuräumen, binnen derer er sich erklären
werde. Eine Arbeitsaufnahme scheide aus tatsächlichen und rechtlichen
Gründen aus. In Erfüllung seiner Verpflichtung aus § 11 KSchG habe er
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zwischenzeitlich - unstreitig - ein anderweitiges - bis Juni 2008 währendes -
Arbeitsverhältnis begründet.
Mit Schreiben vom 31. Januar und 10. Februar 2003 verlangte die Be-
klagte - jeweils unter Fristsetzung - der Kläger möge sich abschließend zur
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erklären und ggf. die Arbeit bei ihr wieder
aufnehmen. Das Schreiben vom 10. Februar 2003 verband sie mit einer Ab-
mahnung. Da der Kläger hierauf nicht reagierte, mahnte sie ihn mit Schreiben
vom 13. Februar 2003 erneut ab und setzte ihm eine Frist zur Arbeitsaufnahme
bis zum 17. Februar 2003. Nachdem der Kläger wiederum nicht zur Arbeit
erschienen war, kündigte sie das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom
25. Februar 2003 fristlos, hilfsweise fristgerecht zum 31. März 2003.
Am 11.
März 2003 fand im Verfahren über die Kündigung vom
28. November 2002 die Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht statt. Im
Sitzungsprotokoll heißt es: „Die Parteien erörtern den Sach- und Streitstand“
und im Anschluss daran: „Im Einverständnis mit den Parteien verkündet der
Vorsitzende folgenden Beschluss: Neuer Termin wird auf Antrag einer Partei
bestimmt“.
Nach Terminsende, aber noch am selben Tag, ging beim Arbeitsgericht
ein auf den 10. März 2003 datierter Schriftsatz des Klägers ein, mit dem dieser
sich gegen die Kündigung vom 25. Februar 2003 und die beiden Abmahnungen
wandte. Er bat um „förmliche Zustellung dieser Klageerweiterung“ und kündigte
an, „im Termin der mündlichen Verhandlung“ die im Schriftsatz enthaltenen
Anträge zu stellen. Der Schriftsatz wurde der Beklagten am 4. April 2003 gegen
Empfangsbekenntnis zugestellt. Einen Termin hat das Arbeitsgericht nicht
bestimmt. Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2003 regte die Beklagte an, beim
Kläger anzufragen, ob er die Klage aufrecht erhalte. Das Arbeitsgericht sandte
das Schreiben formlos an dessen Prozessbevollmächtigten. Eine Antwort blieb
aus.
Mit Schriftsatz vom 14. März 2006 beantragte der Kläger, dem Ver-
fahren Fortgang zu geben und Termin zur Kammerverhandlung anzuberaumen.
Im Kammertermin vom 16. November 2006 erklärte die Beklagte die Kündigung
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vom 28. November 2002 erneut „für gegenstandslos“. Der Kläger erklärte seine
dagegen gerichtete Kündigungsschutzklage daraufhin „für erledigt“. Die Klage
gegen die Kündigung vom 25. Februar 2003 hat er aufrechterhalten und geltend
gemacht, die Kündigung sei rechtsunwirksam. Es fehle an Kündigungsgründen
und an einer ordnungsgemäßen Anhörung des Betriebsrats. Die Abmahnungen
seien unberechtigt. Er habe seine arbeitsvertraglichen Pflichten nicht verletzt.
Der Kläger hat - soweit noch von Bedeutung - beantragt
1.
festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien
durch die Kündigung vom 25. Februar 2003 nicht
aufgelöst worden ist, sondern unverändert fort-
besteht;
2.
die
Beklagte
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hilfsweise
für den Fall des Obsiegens -
zu verurteilen, ihn zu unveränderten Bedingungen
als Leiter Rechnungswesen weiterzubeschäftigen;
3.
die Beklagte zu verurteilen, die Abmahnungen vom
10. Februar 2003 und vom 13. Februar 2003 aus der
Personalakte zu entfernen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auf-
fassung vertreten, dem Kläger fehle die „Klagebefugnis“. Er habe den Kündi-
gungsschutzprozess für die Dauer von etwas mehr als drei Jahren nicht be-
trieben. Dadurch habe er den Eindruck erweckt, er habe sich mit der Be-
endigung des Arbeitsverhältnisses abgefunden. Das gelte erst recht unter
Beachtung seiner vorgerichtlichen Äußerungen. Außerdem habe er im Güte-
termin erklärt, die Klage nach erfolgreicher Probezeit im neuen Arbeitsverhältnis
zurücknehmen zu wollen. Nachdem eine Reaktion auf ihren Schriftsatz vom
Oktober 2003 ausgeblieben sei, habe sie zum 31. Dezember 2003 Rück-
stellungen für einen möglichen Prozessverlust aufgelöst. Außerdem habe sie
die früheren Aufgaben des Klägers mehrfach innerbetrieblich umverteilt, seine
Position in zwei Stellen aufgespalten und nachbesetzt. Im Übrigen sei die
Kündigung vom 25. Februar 2003 gerechtfertigt. Der Kläger habe sich nach
„Rücknahme“ ihrer vorangegangenen Kündigung illoyal verhalten. Er habe sie
pflichtwidrig über eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses im Unklaren ge-
lassen.
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Mit Urteil vom September 2008 hat das Arbeitsgericht der Klage statt-
gegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Mit der Revision
begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungs-
urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das
Landesarbeitsgericht . Anders als dieses an-
genommen hat, hat der Kläger sein „Recht“, die Unwirksamkeit der Kündigung
vom 25. Februar 2003 geltend zu machen, nicht verwirkt. Ob die Kündigung
wirksam ist, steht noch nicht fest.
I.
Die Klage ist im noch interessierenden Umfang ordnungsgemäß er-
hoben. Eine Klagerücknahme liegt nicht vor.
1.
Die Klageerweiterung vom 10. März 2003 war wirksam. Der Schriftsatz
ist der Beklagten förmlich gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden
. Ob dem im Hinblick auf § 251 ZPO iVm. § 249 Abs. 2 ZPO Hin-
dernisse entgegen standen, kann dahinstehen. Die Beklagte hat einen solchen
Mangel nicht gerügt; sie hat vielmehr die Zustellung gegen sich gelten lassen
.
2.
Die Rechtshängigkeit ist nicht durch Klagerücknahme
entfallen.
a)
Die Klage gilt nicht nach § 54 Abs. 5 Satz 4 ArbGG iVm. § 269 Abs. 3
ZPO als zurückgenommen.
aa)
Nach § 54 Abs. 5 Satz 4 ArbGG iVm. § 269 Abs. 3 ZPO wird die Klage-
rücknahme fingiert, wenn in der Güteverhandlung oder im Anschluss daran das
Ruhen des Verfahrens angeordnet wurde, weil beide Parteien nicht erschienen
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sind oder nicht „verhandelt“ haben, und wenn binnen sechs Monaten kein
Terminsantrag gestellt wird.
bb)
Die Parteien sind zum Gütetermin vom 11. März 2003 erschienen und
haben im Sinne von § 54 Abs. 5 Satz 4 ArbGG verhandelt. Dafür reicht aus,
dass eine dem Zweck der Güteverhandlung entsprechende Erörterung statt-
gefunden hat
. Das ist im Streitfall laut Sitzungsprotokoll geschehen. Eine
analoge Anwendung von § 54 Abs. 5 ArbGG auf Fälle einer gezielten vorüber-
gehenden Abstandnahme von der Weiterführung des Rechtsstreits kommt nicht
in Betracht . Das betrifft nicht nur den
Fall außergerichtlicher Vergleichsverhandlungen. Die Fiktion der Klagerück-
nahme wird auch nicht dadurch ausgelöst, dass zunächst die Entwicklung eines
bestimmten Lebenssachverhalts, etwa der Verlauf eines neuen Arbeitsverhält-
nisses abgewartet werden soll
. Darum ging es hier.
Ob sich die Wirkungen des § 54 Abs. 5 ArbGG auf eine erst nach dem Güte-
termin erhobene Klageerweiterung erstrecken können, hinsichtlich derer das
Verfahren nicht weiter betrieben wird, kann dahinstehen.
b)
Soweit die Beklagte - nicht unwidersprochen - behauptet hat, der Kläger
habe im Gütetermin in Aussicht gestellt, die Klage nach erfolgreicher Probezeit
in seinem neuen Arbeitsverhältnis zurücknehmen, folgt daraus nichts anderes.
Eine solche Aussage ist schon angesichts der Bedingungsfeindlichkeit der
Klagerücknahme
nicht geeignet, die Wirkungen des § 269 Abs. 3
ZPO auszulösen.
II.
Der Kläger hat weder sein Klagerecht noch ein materielles „Recht“, sich
auf die Unwirksamkeit der Kündigung zu berufen, verwirkt.
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1.
Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung
. Mit ihr wird ausgeschlossen, Rechte illoyal verspätet geltend zu
machen
. Ein Recht darf nicht
mehr ausgeübt werden, wenn seit der Möglichkeit, es in Anspruch zu nehmen,
längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten,
die die verspätete Inanspruchnahme als Verstoß gegen Treu und Glauben
erscheinen lassen . Letzteres ist der Fall, wenn der Ver-
pflichtete bei objektiver Betrachtung aus dem Verhalten des Berechtigten
entnehmen durfte, dass dieser sein Recht nicht mehr geltend machen werde;
der Berechtigte muss unter Umständen untätig geblieben sein, unter denen
vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden
pflegt
. Ferner muss sich der Verpflichtete im Vertrauen auf das Verhalten
des Berechtigten in seinen Vorkehrungen und Maßnahmen so eingerichtet
haben, dass ihm durch die verspätete Durchsetzung des Rechts ein unzumut-
barer Nachteil entstehen würde
.
2.
Die Verwirkung beschränkt sich nicht auf materiell-rechtliche Rechts-
positionen des Berechtigten. Auch die Möglichkeit zur gerichtlichen Klärung
einer Rechtsposition ist eine eigenständige Befugnis, die verwirken kann
. Das gilt auch für die Befugnis zur
Fortsetzung eines bereits rechtshängigen Verfahrens, das längere Zeit nicht
betrieben wurde. In der Klageerhebung allein erschöpft sich das Recht zur
gerichtlichen Geltendmachung der Unwirksamkeit einer Kündigung nicht
.
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3.
Geht es um eine Verwirkung des Klagerechts, muss aus rechtsstaat-
lichen Gründen darauf geachtet werden, dass durch die
Annahme einer Verwirkung der Weg zu den Gerichten nicht in unzumutbarer,
aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert wird. Im
anhängigen Rechtsstreit kann der Verlust des Klagerechts nur in begrenzten
Ausnahmefällen in Betracht kommen. Dies ist bei den Anforderungen an das
Zeit- und Umstandsmoment zu berücksichtigen
.
4.
Ob ausgehend von diesen Grundsätzen im Streitfall eine „Prozessver-
wirkung“ in Rede steht oder die Verwirkung eines materiellen „Rechts“ des
Klägers, sich auf die Unwirksamkeit der Kündigung zu berufen, bedarf keiner
Entscheidung
. Die Beklagte kann sich unter keinem Gesichtspunkt auf Ver-
wirkung berufen.
a)
Der Kläger hat sein Klagerecht nicht durch Untätigkeit im Kündigungs-
schutzprozess verloren.
aa)
Allerdings ist das erforderliche Zeitmoment erfüllt. Der Kläger hat seine
Klageerweiterung unmittelbar im Anschluss an den Termin vom 11. März 2003
und im Bewusstsein der dortigen gerichtlichen Anordnungen eingereicht. Unter
diesen Umständen musste sein Begehren dahin verstanden werden, dass die
Terminlosstellung des Verfahrens - nach Zustellung - auf die mit der Klage-
erweiterung verfolgten Anträge ausgedehnt werden sollte. Jedenfalls musste
der Kläger erkennen, dass das Arbeitsgericht sein Anliegen in diesem Sinn
verstanden hat. Er hat folglich auch selbst das Verfahren drei Jahre nicht
betrieben.
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bb)
Es fehlt jedoch an dem Umstandsmoment. Die Untätigkeit des Klägers
war nicht geeignet, bei der Beklagten ein schutzwürdiges Vertrauen dahin-
gehend zu begründen, er werde seine Kündigungsschutzklage nicht mehr
verfolgen und habe sich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses endgültig
abgefunden.
(1)
Der Arbeitgeber hat auch nach Klageerhebung ein anerkennenswertes
Interesse an einer zügigen Entscheidung über die Wirksamkeit einer Kündi-
gung. Dem trägt das Gesetz insbesondere durch die Verpflichtung der Gerichte
zur besonderen Prozessförderung in Kündigungsverfahren
Rechnung. Gleichwohl duldet das Prozessrecht einen längeren Schwebe-
zustand, wenn es deshalb nicht zu einer gerichtlichen Entscheidung kommt,
weil das Gericht auf Antrag oder im Einvernehmen mit den Parteien das Ruhen
des Verfahrens anordnet oder - was dem praktisch gleich steht -
auf deren Wunsch zunächst keinen Verhandlungstermin anberaumt. Dem
Interesse der Parteien, den Rechtsstreit nicht auf unabsehbare Zeit in der
Schwebe zu belassen, ist dadurch Rechnung getragen, dass jede von ihnen die
Möglichkeit hat, das Verfahren durch Terminsantrag wieder in Gang zu setzen
und eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Wird ein solcher Antrag
nicht gestellt, erlischt die Rechtshängigkeit auch dann nicht, wenn das Ver-
fahren längere Zeit nicht betrieben wird. Eine Verjährung der Rechtshängigkeit
ist dem geltenden Verfahrensrecht fremd
.
(2)
Angesichts dieser Prozesslage hat der Arbeitgeber selbst bei lang-
jährigem Verfahrensstillstand grundsätzlich keinen Anlass darauf zu vertrauen,
nicht mehr gerichtlich auf die Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung in
Anspruch genommen zu werden. Für eine Prozessverwirkung ist allenfalls in
engen Grenzen Raum. Es müssen zur Untätigkeit des Arbeitnehmers be-
sondere Umstände hinzutreten, die unzweifelhaft darauf hindeuten, er werde
trotz der ihm eröffneten Möglichkeit einer ggf. späten Verfahrensaufnahme auf
Dauer von der Durchführung des Rechtsstreits absehen. Daran fehlt es.
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(a)
Das Verhalten des Klägers vor dem Gütetermin ist kein solcher Um-
stand. Die gegenteilige Würdigung des Landesarbeitsgerichts nimmt nicht
ausreichend auf die prozessuale Lage Bedacht.
Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist davon auszu-
gehen, dass die Parteien seit Mitte des Jahres 2002 eine „Trennung“ zum
Jahresende anstrebten. Allerdings hatten sie dabei ein einvernehmliches
Ausscheiden des Klägers unter Rückkehr zur Konzern-Hauptverwaltung im
Blick, worauf sie sich später ersichtlich nicht mehr verständigen konnten. Dies
war offenbar der Grund dafür, dass die Beklagte eine Beendigung des Arbeits-
verhältnisses durch die Kündigung vom 28. November 2002 anstrebte. Ob der
Kläger seine Pflicht zur Rücksichtnahme verletzt hat, als er
sich zur „Kündigungsrücknahme“ und dem darin liegenden Angebot der Be-
klagten, das Arbeitsverhältnis einvernehmlich fortzusetzen, nicht äußerte, ist für
die Frage der Verwirkung ohne Belang. Selbst wenn eine Erklärungspflicht des
Klägers bestanden hätte, konnte die Beklagte seinem Schweigen - auch unter
Berücksichtigung des mehrjährigen Nichtbetreibens des Kündigungsschutz-
prozesses - nicht entnehmen, er habe sich mit der Beendigung seines Arbeits-
verhältnisses endgültig abgefunden. Dagegen spricht, dass er sich nach dem
Ergebnis des Gütetermins die jederzeitige Aufnahme des Verfahrens vor-
behalten hat. Selbst wenn es dem Kläger - wie die Beklagte meint - in erster
Linie um das „Wie“ der Beendigung gegangen sein sollte, ändert dies nichts
daran, dass er gerade nicht bereit war, sich mit seinem Ausscheiden aufgrund
arbeitgeberseitiger Kündigung abzufinden. Das gilt erst recht für die weitere
Kündigung vom 25. Februar 2003 und die ihr vorausgegangen Abmahnungen.
Weshalb der Kläger von einer Verteidigung gegen diese hätte Abstand nehmen
wollen, ist nicht ersichtlich.
(b)
Es kann offen bleiben, ob der Kläger - was er bestreitet - im Gütetermin
erklärt hat, er werde die Klage bei „Überstehen“ der Probezeit im neuen Ar-
beitsverhältnis zurücknehmen. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob ihn das
Schreiben der Beklagten vom 21. Oktober 2003 erreicht hat; der Kläger hat
auch dies bestritten. Selbst wenn beides zugunsten der Beklagten unterstellt
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wird, konnte die - weitere - Untätigkeit des Klägers bei ihr nicht die berechtigte
Erwartung auslösen, er werde gegen die Kündigung(en) nicht weiter vorgehen.
Das Schweigen des Klägers kann ebenso gut dahin verstanden werden, dass
er den Kündigungsschutzprozess bewusst möglichst lange in der Schwebe
halten wollte. Soweit dies den Interessen der Beklagten zuwider lief, hätte auch
sie die Möglichkeit gehabt, dem Verfahren Fortgang zu geben.
cc)
Die Beklagte hat zudem nicht dargetan, dass sie im Hinblick auf die
Untätigkeit des Klägers Dispositionen getroffen hätte, aufgrund derer es ihr
unzumutbar gewesen wäre, sich auf die Kündigungsschutzklage noch im Jahr
2006 einzulassen. Die Neubesetzung der Stelle des Klägers hatte sie bereits
Mitte des Jahres 2002 in die Wege geleitet, ohne sich mit ihm zuvor über die
Modalitäten einer Vertragsbeendigung rechtsverbindlich verständigt zu haben.
Soweit die Beklagte sich darauf beruft, Ende des Jahres 2003 Rückstellungen
zur Abdeckung der Prozessrisiken aufgelöst zu haben, geschah dies ersichtlich
nicht erst mit Rücksicht auf den folgenden jahrelangen Verfahrensstillstand. Im
Übrigen rechtfertigt das Fehlen von Rückstellungen nicht die Annahme, der
Beklagten sei die Fortsetzung des Kündigungsrechtsstreits wegen möglicher
Folgeansprüche wirtschaftlich unzumutbar
.
b)
Die Voraussetzungen einer materiell-rechtlichen Verwirkung liegen
nicht vor. Zwar können - vorbehaltlich der Umstände des Einzelfalls - materielle
Ansprüche und Rechte auch noch nach Rechtshängigkeit verwirken
. Im Hinblick auf ein etwaiges
materielles „Recht“ des Arbeitnehmers, sich auf die Unwirksamkeit einer Kündi-
gung zu berufen, ist aber zu beachten, dass der Verwirkungstatbestand
durch die Dreiwochenfrist konkretisiert wird
. Im
Fall der Fristversäumnis gilt die Kündigung - vorbehaltlich der sich aus §§ 5, 6
KSchG ergebenden Einschränkungen - als wirksam . Hat dagegen
der Arbeitnehmer fristgerecht Klage erhoben, ist während der Dauer des
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Kündigungsschutzprozesses für eine Verwirkung des „Rechts“, die Unwirksam-
keit der Kündigung geltend zu machen, grundsätzlich kein Raum. Jedenfalls
stehen im Streitfall die gegen eine Prozessverwirkung sprechenden Gesichts-
punkte auch der Annahme einer materiell-rechtlichen Verwirkung entgegen.
III.
Das Berufungsurteil stellt sich nicht aus anderen Gründen als richtig dar
. Der Senat vermag über die Wirksamkeit der Kündigung vom
25. Februar 2003 und der Abmahnungen nicht abschließend entscheiden. Das
Landesarbeitsgericht hat - von seinem Standpunkt aus konsequent - nicht
geprüft, ob ein wichtiger Grund iSv. § 626 BGB vorliegt oder die Kündigung
nach § 1 KSchG sozial gerechtfertigt ist. Dementsprechend fehlt es an hin-
reichenden Feststellungen. Unabhängig davon hat der Kläger auch die
ordnungsgemäße Anhörung des Betriebsrats gerügt, ohne dass dazu Fest-
stellungen getroffen worden wären.
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