Urteil des BAG vom 30.07.2020

Datenschutzbeauftragter - Kündigungsschutz - Unionsrecht

Bundesarbeitsgericht
Vorlagebeschluss (EuGH) vom 30. Juli 2020
Zweiter Senat
- 2 AZR 225/20 (A) -
ECLI:DE:BAG:2020:300720.B.2AZR225.20A.0
I. Arbeitsgericht Nürnberg
Endurteil vom 22. Juli 2019
- 3 Ca 4080/18 -
II. Landesarbeitsgericht Nürnberg
Urteil vom 19. Februar 2020
- 2 Sa 274/19 -
Entscheidungsstichworte:
Datenschutzbeauftragter - Kündigungsschutz - Unionsrecht
Leitsätze:
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) um die Beantwor-
tung der folgenden Fragen ersucht:
1. Ist Art. 38 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung (EU) 2016/679 (Datenschutz-
Grundverordnung; im Folgenden DSGVO) dahin auszulegen, dass er einer
Bestimmung des nationalen Rechts, wie hier § 38 Abs. 1 und Abs. 2 iVm.
§ 6 Abs. 4 Satz 2 des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG), entgegen-
steht, die die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Daten-
schutzbeauftragten durch den Verantwortlichen, der sein Arbeitgeber ist,
für unzulässig erklärt, unabhängig davon, ob sie wegen der Erfüllung seiner
Aufgaben erfolgt?
Falls die erste Frage bejaht wird:
2. Steht Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO einer solchen Bestimmung des na-
tionalen Rechts auch dann entgegen, wenn die Benennung des Daten-
schutzbeauftragten nicht nach Art. 37 Abs. 1 DSGVO verpflichtend ist, son-
dern nur nach dem Recht des Mitgliedstaats?
Falls die erste Frage bejaht wird:
3. Beruht Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO auf einer ausreichenden Ermäch-
tigungsgrundlage, insbesondere soweit er Datenschutzbeauftragte erfasst,
die in einem Arbeitsverhältnis zum Verantwortlichen stehen?
ECLI:DE:BAG:2020:300720.B.2AZR225.20A.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
2 AZR 225/20 (A)
2 Sa 274/19
Landesarbeitsgericht
Nürnberg
Verkündet am
30. Juli 2020
BESCHLUSS
Radtke, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
1.
Beklagte zu 1., Widerklägerin, Berufungsklägerin zu 1. und
Revisionsklägerin,
2. bis
5. …
pp.
Klägerin, Widerbeklagte, Berufungsbeklagte und Revisionsbeklagte,
hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen
Verhandlung vom 30. Juli 2020 durch den Vorsitzenden Richter am Bundes-
arbeitsgericht Prof. Dr. Koch, die Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Niemann
und Dr. Schlünder sowie den ehrenamtlichen Richter Söller und die ehrenamtli-
che Richterin Alex beschlossen:
- 2 -
2 AZR 225/20 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:300720.B.2AZR225.20A.0
- 3 -
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß
Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Euro-
päischen Union (AEUV) um die Beantwortung der fol-
genden Fragen ersucht:
1. Ist Art. 38 Abs. 3 Satz 2 der Verordnung (EU)
2016/679 (Datenschutz-Grundverordnung; im Fol-
genden DSGVO) dahin auszulegen, dass er einer
Bestimmung des nationalen Rechts, wie hier § 38
Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 6 Abs. 4 Satz 2 des Bun-
desdatenschutzgesetzes (BDSG), entgegensteht, die
die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses
des Datenschutzbeauftragten durch den Verantwort-
lichen, der sein Arbeitgeber ist, für unzulässig erklärt,
unabhängig davon, ob sie wegen der Erfüllung sei-
ner Aufgaben erfolgt?
Falls die erste Frage bejaht wird:
2. Steht Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO einer solchen
Bestimmung des nationalen Rechts auch dann ent-
gegen, wenn die Benennung des Datenschutzbeauf-
tragten nicht nach Art. 37 Abs. 1 DSGVO verpflich-
tend ist, sondern nur nach dem Recht des Mitglied-
staats?
Falls die erste Frage bejaht wird:
3. Beruht Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO auf einer aus-
reichenden Ermächtigungsgrundlage, insbesondere
soweit er Datenschutzbeauftragte erfasst, die in ei-
nem Arbeitsverhältnis zum Verantwortlichen stehen?
II. Das Revisionsverfahren wird bis zur Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union über das Vor-
abentscheidungsersuchen ausgesetzt.
Gründe
A.
Gegenstand des Ausgangsverfahrens
Die Parteien streiten zuletzt noch über die Wirksamkeit einer ordentli-
chen Kündigung des zwischen ihnen bestehenden Arbeitsverhältnisses.
Die Klägerin arbeitete seit 15. Januar 2018 bei der Beklagten zu 1. (im
Folgenden Beklagte)
als „Teamleiter Recht“. Mit Schreiben von diesem Tag
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benannte die Beklagte die Klägerin mit Wirkung vom 1. Februar 2018 außer-
dem zur betrieblichen Datenschutzbeauftragten. Die Beklagte, ein privatrecht-
lich organisiertes Unternehmen, beschäftigt mindestens 50 Arbeitnehmer und
war sowohl nach dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) in der vom
1. September 2009 bis 24. Mai 2018 geltenden Fassung (aF) als auch nach
§ 38 Abs. 1 Satz 1 BDSG in der vom 25. Mai 2018 bis 25. November 2019 gel-
tenden Fassung zur Benennung eines Datenschutzbeauftragten verpflichtet.
Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 13. Juli
2018 ordentlich zum 15. August 2018. Zur Wirksamkeit der Kündigung berief
sie sich auf eine Umstrukturierungsmaßnahme, die zum Wegfall des Beschäfti-
gungsbedürfnisses für die Klägerin geführt habe. Die Klägerin hat mit ihrer Kla-
ge rechtzeitig die Unwirksamkeit der Kündigung geltend gemacht. Die Vor-
instanzen haben der Klage stattgegeben. Die ordentliche Kündigung erweise
sich schon deshalb als unwirksam, da der Klägerin als Datenschutzbeauftragter
nach § 38 Abs. 2 iVm. § 6 Abs. 4 Satz 2 BDSG nur außerordentlich aus wichti-
gem Grund gekündigt werden könne. Darüber hinaus stelle die von der Beklag-
ten beschriebene Umstrukturierungsmaßnahme auch keinen wichtigen Grund
für eine außerordentliche Kündigung dar. Dagegen hat sich die Beklagte mit
ihrer Revision gewandt.
B.
Das einschlägige nationale Recht
I.
Bundesdatenschutzgesetz in der vom 25. Mai 2018 bis 25. November
2019 geltenden Fassung
:
1.
㤠6
Stellung
(4) Die Abberufung der oder des Datenschutzbeauf-
tragten ist nur in entsprechender Anwendung des
§ 626 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zulässig. Die
Kündigung des Arbeitsverhältnisses ist unzulässig,
es sei denn, dass Tatsachen vorliegen, welche die
öffentliche Stelle zur Kündigung aus wichtigem
Grund ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist berech-
tigen. Nach dem Ende der Tätigkeit als Datenschutz-
beauftragte oder als Datenschutzbeauftragter ist die
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Kündigung des Arbeitsverhältnisses innerhalb eines
Jahres unzulässig, es sei denn, dass die öffentliche
Stelle zur Kündigung aus wichtigem Grund ohne
Einhaltung einer Kündigungsfrist berechtigt ist.“
2.
㤠38
Datenschutzbeauftragte nichtöffentlicher Stellen
(1) Ergänzend zu Artikel 37 Absatz 1 Buchstabe b
und c der Verordnung (EU) 2016/679 benennen der
Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter eine Da-
tenschutzbeauftragte oder einen Datenschutzbeauf-
tragten, soweit sie in der Regel mindestens zehn
Personen ständig mit der automatisierten Verarbei-
tung personenbezogener Daten beschäftigen. Neh-
men der Verantwortliche oder der Auftragsverarbeiter
Verarbeitungen vor, die einer Datenschutz-Folgen-
abschätzung nach Artikel 35 der Verordnung (EU)
2016/679 unterliegen, oder verarbeiten sie perso-
nenbezogene Daten geschäftsmäßig zum Zweck der
Übermittlung, der anonymisierten Übermittlung oder
für Zwecke der Markt- oder Meinungsforschung, ha-
ben sie unabhängig von der Anzahl der mit der Ver-
arbeitung beschäftigten Personen eine Datenschutz-
beauftragte oder einen Datenschutzbeauftragten zu
benennen.
(2) § 6 Absatz 4, 5 Satz 2 und Absatz 6 finden An-
wendung, § 6 Absatz 4 jedoch nur, wenn die Benen-
nung einer oder eines Datenschutzbeauftragten ver-
pflichtend ist.“
In § 38 Abs. 1 Satz 1 BDSG in der seit 26. November 2019 geltenden
Fassung ist die Beschäftigtenzahl von
„zehn“ auf „20“ erhöht worden.
II.
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) in der Fassung der Bekanntmachung
vom 2. Januar 2002
:
1.
㤠134
Gesetzliches Verbot
Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Ver-
bot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Ge-
setz ein anderes ergibt.“
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2.
㤠626
Fristlose Kündigung aus wichtigem Grund
(1) Das Dienstverhältnis kann von jedem Vertragsteil
aus wichtigem Grund ohne Einhaltung einer Kündi-
gungsfrist gekündigt werden, wenn Tatsachen vorlie-
gen, auf Grund derer dem Kündigenden unter Be-
rücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und
unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile
die Fortsetzung des Dienstverhältnisses bis zum Ab-
lauf der Kündigungsfrist oder bis zu der vereinbarten
Beendigung des Dienstverhältnisses nicht zugemutet
werden kann.
(2) Die Kündigung kann nur innerhalb von zwei Wo-
chen erfolgen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in
dem der Kündigungsberechtigte von den für die
Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis er-
langt.
…“
III.
Kündigungsschutzgesetz (KSchG) in der Fassung der Bekanntma-
chung vom 25. August 1969
, zuletzt geändert durch Art. 4 des
Gesetzes vom 17. Juli 2017
:
㤠1
Sozial ungerechtfertigte Kündigungen
(1) Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses gegen-
über einem Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis
in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Un-
terbrechung länger als sechs Monate bestanden hat,
ist rechtsunwirksam, wenn sie sozial ungerechtfertigt
ist.
(2) Sozial ungerechtfertigt ist die Kündigung, wenn
sie nicht durch Gründe, die in der Person oder in
dem Verhalten des Arbeitnehmers liegen, oder durch
dringende betriebliche Erfordernisse, die einer Wei-
terbeschäftigung des Arbeitnehmers in diesem Be-
trieb entgegenstehen, bedingt ist. …“
C.
Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
Verordnung (EU) 2016/679 vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher
Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Daten-
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verkehr und zur Aufhebung der Richtlinie (RL) 95/46/EG
:
1.
„Artikel 37
Benennung eines Datenschutzbeauftragten
(4) In anderen als den in Absatz 1 genannten Fällen
können der Verantwortliche oder der Auftragsverar-
beiter oder Verbände und andere Vereinigungen, die
Kategorien von Verantwortlichen oder Auftragsverar-
beitern vertreten, einen Datenschutzbeauftragten
benennen; falls dies nach dem Recht der Union oder
der Mitgliedstaaten vorgeschrieben ist, müssen sie
einen solchen benennen. …“
2.
„Artikel 38
Stellung des Datenschutzbeauftragten
(3) Der Verantwortliche und der Auftragsverarbeiter
stellen sicher, dass der Datenschutzbeauftragte bei
der Erfüllung seiner Aufgaben keine Anweisungen
bezüglich der Ausübung dieser Aufgaben erhält. Der
Datenschutzbeauftragte darf von dem Verantwortli-
chen oder dem Auftragsverarbeiter wegen der Erfül-
lung seiner Aufgaben nicht abberufen oder benach-
teiligt werden. …“
3.
„Artikel 88
Datenverarbeitung im Beschäftigtenkontext
(1) Die Mitgliedstaaten können durch Rechtsvor-
schriften oder durch Kollektivvereinbarungen spezifi-
schere Vorschriften zur Gewährleistung des Schut-
zes der Rechte und Freiheiten hinsichtlich der Verar-
beitung personenbezogener Beschäftigtendaten im
Beschäftigungskontext, insbesondere für Zwecke der
Einstellung, der Erfüllung des Arbeitsvertrags ein-
schließlich der Erfüllung von durch Rechtsvorschrif-
ten oder durch Kollektivvereinbarungen festgelegten
Pflichten, des Managements, der Planung und der
Organisation der Arbeit, der Gleichheit und Diversität
am Arbeitsplatz, der Gesundheit und Sicherheit am
Arbeitsplatz, des Schutzes des Eigentums der Ar-
beitgeber oder der Kunden sowie für Zwecke der
Inanspruchnahme der mit der Beschäftigung zu-
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sammenhängenden individuellen oder kollektiven
Rechte und Leistungen und für Zwecke der Beendi-
gung des Beschäftigungsverhältnisses vorsehen.
…“
D.
Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs und Erörte-
rung der Vorlagefragen
I.
Erforderlichkeit der Entscheidung des Gerichtshofs
1.
Nach nationalem Recht wäre die Kündigung vom 13. Juli 2018 nach
§ 38 Abs. 2 iVm. § 6 Abs. 4 Satz 2 BDSG und § 134 BGB nichtig und die Revi-
sion der Beklagten unbegründet. Das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers,
der zugleich verpflichtend benannter Datenschutzbeauftragter ist, kann nur au-
ßerordentlich aus wichtigem Grund nach § 626 BGB wirksam gekündigt wer-
den. Die Beklagte hat aber nur eine ordentliche Kündigung ausgesprochen.
2.
Die Anwendbarkeit von § 38 Abs. 2 iVm. § 6 Abs. 4 Satz 2 BDSG hängt
nach dem Verständnis des Senats davon ab, ob nach Unionsrecht, insbesonde-
re Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO, eine mitgliedstaatliche Regelung zulässig ist,
durch die eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines Datenschutzbeauf-
tragten an strengere Voraussetzungen als nach dem Unionsrecht geknüpft ist.
Hierüber kann der Senat nicht ohne Anrufung des Gerichtshofs nach Art. 267
AEUV befinden. Müssten dagegen § 38 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 6 Abs. 4
Satz 2 BDSG wegen des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht (insbesondere
Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO) unangewendet bleiben, wäre die Revision der
Beklagten erfolgreich. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begrün-
dung durfte es die Kündigung nicht als nichtig ansehen.
II.
Erläuterung der ersten Vorlagefrage
1.
Der Senat kann nicht eindeutig beurteilen, ob neben der Regelung in
Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO mitgliedstaatliche Normen anwendbar sind, die
die Möglichkeit der Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines betrieblichen Da-
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tenschutzbeauftragten gegenüber den unionsrechtlichen Regelungen ein-
schränken.
2.
Nach Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO darf der Datenschutzbeauftragte
von dem Verantwortlichen wegen der Erfüllung seiner Aufgaben nicht abberu-
fen
(in der englischen Sprachfassung „dismissed“, was nach dem Verständnis
des Senats als Verbot einer Kündigung verstanden werden kann) oder benach-
teiligt werden. Demgegenüber sieht § 38 Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 6 Abs. 4
BDSG vor, dass ein verpflichtend benannter Datenschutzbeauftragter nur aus
wichtigem Grund
abberufen und sein Arbeitsverhältnis eben-
falls nur aus wichtigem Grund gekündigt werden kann, auch wenn die Abberu-
fung oder Kündigung - wie vorliegend - nicht mit der Erfüllung seiner Aufgaben
in einem Zusammenhang stehen. Das nationale Recht sieht - wenn der ver-
pflichtend zu benennende Datenschutzbeauftragte für den Verantwortlichen
oder Auftragsverarbeiter zugleich als Arbeitnehmer beschäftigt wird - neben
dem Schutz vor einer Abberufung zusätzlich einen Kündigungsschutz für das
Arbeitsverhältnis vor. Dieser besteht ein Jahr über den Zeitpunkt einer etwaigen
Abberufung hinaus fort und ist unabhängig davon, ob die Benennung eines Da-
tenschutzbeauftragten auch nach Art. 37 Abs. 1 DSGVO verpflichtend ist und
der Arbeitnehmer den allgemeinen Kündigungsschutz nach nationalem Recht
erworben hat. Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass
nach nationalem Recht ein wichtiger Grund für die Abberufung nicht darin liegt,
dass aufgrund einer organisatorischen Änderung der betriebliche Datenschutz
zukünftig durch einen externen Datenschutzbeauftragten gewährleistet werden
soll
.
3.
Die DSGVO ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in
jedem Mitgliedstaat
. Nach
der Rechtsprechung des Gerichtshofs bewirken gemäß dem Grundsatz des
Vorrangs des Unionsrechts die Bestimmungen des AEU-Vertrags und die un-
mittelbar geltenden Rechtsakte der Organe in ihrem Verhältnis zum innerstaat-
lichen Recht der Mitgliedstaaten, dass allein durch ihr Inkrafttreten jede entge-
genstehende Bestimmung des nationalen Rechts ohne Weiteres unanwendbar
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wird
. Die DSGVO will - wie schon die durch sie aufgehobene RL 95/46/EG
vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung
personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr
- durch Harmonisierung der nationalen Vorschriften
zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Da-
ten den freien Verkehr dieser Daten zwischen Mitgliedstaaten sicherstellen
.
Wegen der von der RL 95/46/EG bewirkten Vollharmonisierung konnten nach
der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch verschärfende nationale Regelun-
gen unzulässig sein
.
4.
Die unionsrechtliche Rechtslage wird im nationalen Schrifttum unter-
schiedlich beurteilt.
a)
Überwiegend wird die Auffassung vertreten, bei dem Sonderkündi-
gungsschutz in § 38 Abs. 2 iVm. § 6 Abs. 4 Satz 2 und Satz 3 BDSG handele
es sich um materiell-arbeitsrechtliche Regelungen, für die gemäß Art. 153
AEUV keine Gesetzgebungskompetenz der Union bestehe, weshalb eine Kolli-
sion mit Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO ausscheide. Außerdem könne sich der
nationale Gesetzgeber bei einer Lückenfüllung auf die arbeitsrechtliche Öff-
nungsklausel des Art. 88 DSGVO stützen
. Nach den Materialien zur Neu-
fassung des BDSG ist auch der deutsche Gesetzgeber offenbar davon ausge-
gangen, dass es sich bei § 6 Abs. 4 BDSG um eine arbeitsrechtliche Regelung
handelt, die ergänzend zu den Vorgaben der DSGVO entsprechend der bis
zum 24. Mai 2018 geltenden nationalen Rechtslage beibehalten werden könne
.
b)
Die Gegenansicht nimmt an, die Verknüpfung des arbeitsrechtlichen
Kündigungsschutzes mit der Stellung des Datenschutzbeauftragten sei im
Bereich der nichtöffentlichen Stellen unionsrechtswidrig, jedenfalls soweit es
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sich um nach Art. 37 Abs. 1 DSGVO verpflichtend zu benennende Daten-
schutzbeauftragte handele. Es werde ein wirtschaftlicher Druck aufgebaut, an
einem einmal benannten Datenschutzbeauftragten dauerhaft festzuhalten
.
Ebenso wird in Frage gestellt, ob der Sonderkündigungsschutz für den internen
Datenschutzbeauftragten überhaupt in den Anwendungsbereich von Art. 88
Abs. 1 DSGVO fällt.
III.
Erläuterung der zweiten Vorlagefrage
1.
Für den Fall, dass die erste Vorlagefrage bejaht wird, möchte der Senat
wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO, dem
weitergehenden nationalen Kündigungsschutz auch dann entgegensteht, wenn
die Benennung des Datenschutzbeauftragten nicht nach Art. 37 Abs. 1 DSGVO
verpflichtend ist, sondern nur nach dem Recht des Mitgliedstaats.
2.
Das Unionsrecht könnte dahingehend auszulegen sein, dass ein etwai-
ger Anwendungsvorrang des Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO lediglich für nach
Unionsrecht verpflichtend benannte Datenschutzbeauftragte besteht, da die
Regelung nur insoweit als abschließend zu betrachten sein könnte. Die Voraus-
setzungen, unter denen ein Datenschutzbeauftragter verpflichtend zu benennen
ist, sind in Art. 37 Abs. 1 DSGVO und in § 38 Abs. 1 BDSG unterschiedlich ge-
regelt und decken sich nicht. Die Vorinstanz hat im Ausgangsverfahren bislang
nur festgestellt, dass die Klägerin nach § 38 Abs. 1 BDSG verpflichtend als Da-
tenschutzbeauftragte benannt wurde. Ob eine solche Verpflichtung auch nach
Art. 37 Abs. 1 DSGVO bestand, bedürfte gegebenenfalls weiterer Feststellun-
gen.
3.
Außerdem bedarf es einer Klärung, wie in diesem Zusammenhang
Art. 37 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 DSGVO zu verstehen ist. Der Wortlaut der Norm
ließe jedenfalls die Auslegung zu, dass ein nach dem Recht eines Mitglied-
staats verpflichtend benannter Datenschutzbeauftragter damit auch iSd.
DSGVO verpflichtend benannt ist. Nach der unionsrechtlichen Regelung
„müs-
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sen“ (englische Sprachfassung: „shall“) die Verantwortlichen einen Daten-
schutzbeauftragten benennen, falls ihnen dies nach dem Recht des Mitglied-
staats vorgeschrieben ist. Sollte Art. 37 Abs. 4 Satz 1 Halbs. 2 DSGVO so aus-
zulegen sein, wäre - sofern die erste Vorlagefrage bejaht wird - ein nach natio-
nalem Recht bestehender Kündigungsschutz unzulässig, selbst wenn die Be-
nennung des Datenschutzbeauftragten nicht nach Art. 37 Abs. 1 DSGVO ver-
pflichtend ist, sondern nur nach nationalem Recht.
IV.
Erläuterung der dritten Vorlagefrage
1.
Für den Fall der Bejahung der ersten Vorlagefrage möchte der Senat
wissen, ob Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO auf einer ausreichenden Ermächti-
gungsgrundlage beruht, insbesondere soweit er Datenschutzbeauftragte er-
fasst, die in einem Arbeitsverhältnis zum Verantwortlichen stehen, oder ob sei-
ner Wirksamkeit mangels einer solchen Ermächtigungsgrundlage Hinderungs-
gründe entgegenstehen.
2.
Für die Europäische Union gilt gemäß Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 EUV der
Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Er wird konkretisiert durch
Art. 2 ff. AEUV. Die Union wird danach nur innerhalb der Grenzen der Zustän-
digkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung
der darin niedergelegten Ziele übertragen haben.
a)
Der Erlass der DSGVO wird insbesondere auf Art. 16 AEUV gestützt
. Unionsrechtliche Re-
gelungen über die Datenverarbeitung durch Privatpersonen könnten nach dem
Verständnis des Senats
lediglich auf der Basis des Terminus „freier Datenver-
kehr“ in Art. 16 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz AEUV ergehen. Allerdings wird
der Wortlaut von Art. 16 Abs. 2 Satz 1 AEUV im nationalen Schrifttum teilweise
so verstanden, dass sich die vertraglich eingeräumte Rechtssetzungsbefugnis
der Union lediglich auf den Datenschutz bei der Datenverarbeitung der Unions-
organe, die Datenverarbeitung der öffentlichen Stellen bei der Umsetzung des
Unionsrechts und auf die grenzüberschreitende Datenverarbeitung beschränkt
. Die bisherige Rechtsprechung des Gerichts-
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hofs zur RL 95/46/EG und Art. 100a EGV ist nicht von einem so engen Ver-
ständnis ausgegangen
.
b)
Andererseits könnte die Ermächtigungsgrundlage zur Rechtsanglei-
chung im Binnenmarkt gemäß Art. 114 Abs. 1 AEUV maßgeblich sein
. Einem Rückgriff auf Art. 114 Abs. 1 AEUV als Kompetenzgrundlage
könnte aber in Bezug auf Art. 38 Abs. 3 Satz 2 DSGVO Art. 114 Abs. 2 AEUV
entgegenstehen, wonach Absatz 1 ua. nicht für Bestimmungen über die Rechte
und Interessen der Arbeitnehmer gilt. Dies wäre dann kein Hindernis, wenn die
DSGVO keine spezifische Zielrichtung in Bezug auf Arbeitnehmerrechte enthiel-
te, sondern nur die Regelung einer Querschnittsmaterie mit bloßen Reflexen
auch auf die Rechtsstellung von Beschäftigten
.
3.
Wenngleich der Senat die im nationalen Schrifttum geäußerten und
nachfolgend dargestellten Bedenken in Bezug auf die Gültigkeit der DSGVO
nicht teilt, bittet er den Gerichtshof, zur Klärung der unionsrechtlichen Rechtsla-
ge und aus Gründen der Rechtsklarheit auf diese einzugehen.
a)
Teilweise wird vom Schrifttum ein Verstoß gegen das unionsrechtliche
Subsidiaritätsprinzip
angenommen
. In Übereinstimmung mit dieser Sichtweise hat der Deutsche Bundes-
rat mit Beschluss vom 30. März 2012
eine Subsi-
diaritätsrüge nach Art. 12 Buchst. b EUV iVm. Art. 6 des Protokolls über die
Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit vom
13. Dezember 2007
gegen den
ursprünglichen Vorschlag der DSGVO erhoben.
b)
Schließlich wird die DSGVO vereinzelt im nationalen Schrifttum wegen
eines Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip des Art. 5 Abs. 4
Unterabs. 1 EUV für unwirksam gehalten
.
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E.
Das Revisionsverfahren ist in entsprechender Anwendung von § 148
Abs. 1 ZPO bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über das Vorabentschei-
dungsersuchen auszusetzen.
Koch
Niemann
Schlünder
Söller
Alex
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