Urteil des BAG vom 16.09.2020

Baugewerbe - Nutzung und Verwaltung eigener Immobilien - Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 16. September 2020
Zehnter Senat
- 10 AZR 56/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:160920.U.10AZR56.19.0
I. Arbeitsgericht Wiesbaden
Urteil vom 14. September 2017
- 1 Ca 63/17 -
II. Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 16. November 2018
- 10 Sa 1579/17 -
Entscheidungsstichworte:
Baugewerbe -
Nutzung und Verwaltung eigener Immobilien
Leitsätze:
1. Die Tarifvertragsparteien haben in § 1 Abs. 2 der Verfahrenstarifverträge
im Baugewerbe den unbestimmten Rechtsbegriff des Gewerbes iSd. staat-
lichen Gewerberechts als Tatbestandsmerkmal aufgenommen. Der Sozial-
kasse obliegt die abgestufte Darlegungslast und die Beweislast für die Tat-
sachen, die darauf schließen lassen, dass der in Anspruch genommene
Betrieb eine gewerbliche Tätigkeit erbringt.
2. Die Nutzung und Verwaltung eigenen Immobilienvermögens ist gewerb-
lich iSv. § 1 Abs. 2 der Verfahrenstarifverträge im Baugewerbe, wenn die
Betätigung nach ihrem Gesamtbild den allgemeinen Vorstellungen von ei-
nem planmäßigen Geschäftsbetrieb entspricht. Das ist regelmäßig der Fall,
wenn die Tätigkeit in einem das Private übersteigenden Maß der Wert-
schöpfung dient, weil sie aufgrund ihres Umfangs eine professionelle Füh-
rung nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen erfordert. Eine Gewinner-
zielungsabsicht wird nicht vorausgesetzt.
Die einkommensteuerrechtliche
Bewertung der Betätigung ist ebenfalls nicht erheblich.
Es kommt auch
nicht darauf an, ob Bauleistungen am Markt angeboten werden.
Hinweis des Senats:
Führende Entscheidung zu einer teilweisen Parallelsache
ECLI:DE:BAG:2020:160920.U.10AZR56.19.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
10 AZR 56/19
10 Sa 1579/17
Hessisches
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
16. September 2020
URTEIL
Jatz, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
16. September 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht
Gallner, die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Brune, den Richter am
Bundesarbeitsgericht Pessinger sowie die ehrenamtlichen Richter Baschnagel
und Budde für Recht erkannt:
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10 AZR 56/19
ECLI:DE:BAG:2020:160920.U.10AZR56.19.0
- 3 -
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 16. November
2018 - 10 Sa 1579/17 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirt-
schaft für den Zeitraum von Januar bis November 2012.
Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in
der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher
Verleihung. Er ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen
der Bauwirtschaft verpflichtet. Der im Streitzeitraum geltende Tarifvertrag über
das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18. Dezember 2009 idF
vom 21. Dezember 2011 (VTV 2011) war am 3. Mai 2012 für allgemeinverbind-
lich erklärt worden (AVE VTV 2012). Der Senat hat festgestellt, dass diese Allge-
meinverbindlicherklärung unwirksam ist
.
Die nicht originär tarifgebundene Beklagte wird in der Rechtsform einer
GmbH betrieben. Die Beklagte hat den Zweck, Immobilien zu betreuen, die im
Allein- oder Miteigentum ihrer alleinigen Gesellschafterin stehen. Die Beklagte
setzt Angestellte ein, um vor allem die Mietverträge durchzuführen. Als gewerb-
liche Arbeitnehmer beschäftigte sie während des gesamten Klagezeitraums
Herrn S und vom 1. Januar bis zum 14. August 2012 Herrn W.
Im Februar und im Mai 2008 hatte das Hauptzollamt Frankfurt (Oder)
Baustellen der Beklagten kontrolliert. Der Kläger war durch ein Schreiben der
Bundesagentur für Arbeit vom 28. Oktober 2009 auf die Beklagte aufmerksam
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geworden. Er nahm sie daraufhin in einem Vorprozess auf Beiträge zu den Sozi-
alkassen der Bauwirtschaft für den Zeitraum von Dezember 2005 bis November
2006 in Anspruch. Das Hessische Landesarbeitsgericht bestätigte das der Klage
stattgebende erstinstanzliche Urteil am 13. November 2015
.
Die Entscheidung ist rechtskräftig.
Auf den am 15. Dezember 2016 eingegangenen Antrag des Klägers hat
das Arbeitsgericht am 17. Januar 2017 einen Mahnbescheid gegen die Beklagte
erlassen und ihn ihr am 21. Januar 2017 zugestellt. Auf der Vorderseite des
Mahnbescheids heißt es, der Antragsteller mache Beiträge für die Beschäftigung
von
„jeweils mindestens zwei gewerblichen Arbeitnehmern/Monat“ in der Ge-
samthöhe von 14.146,00 Euro für den Zeitraum von Januar bis November 2012
geltend. Der mit „Begründung des Antragstellers“ überschriebene Text auf der
Rückseite des Mahnbescheids enthält ua. einen Hinweis auf den in diesem Zeit-
raum geltenden Verfahrenstarifvertrag. Ebenfalls angegeben ist die Höhe der für
das Jahr 2012 in den einzelnen Regionen der Bundesrepublik jeweils maßgebli-
chen monatlichen „Mindestbeiträge“. Die Beklagte hat am 26. Januar 2017 Wi-
derspruch gegen den Mahnbescheid erhoben. Der Kläger hat die Klage mit dem
am Folgetag bei Gericht eingegangenen Schriftsatz vom 13. Juni 2017 begrün-
det.
Der Kläger hat unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse des Hauptzoll-
amts aus dem Jahr 2008 behauptet, die im Betrieb der Beklagten beschäftigten
Arbeitnehmer hätten im Klagezeitraum jeweils zu mehr als 50 % ihrer persönli-
chen Arbeitszeit die folgenden Arbeiten erbracht:
„Montage von im Handel serienmäßig vorgefertigten
und bezogenen Wandbekleidungen und Deckensys-
temen nebst dem Anbringen der Unterkonstruktionen
und des Isoliermaterials gemäß den Anforderungen
des Wärme-, Kälte- und Schallschutzes;
Montage von Leichtbauwänden durch Befestigung an
Wand und Boden, Ausfüllen der Zwischenräume mit
Isoliermaterial, Verkleidung beider Seiten mit Paneel-
und Plattenelementen, Verfugung entstandener Stö-
ße;
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Montage von im Handel bezogenen, serienmäßig vor-
gefertigten Fenstern und Türen einschließlich Stemm-
und Isolierarbeiten;
Verlegearbeiten von Kunst- und Natursteinen, kerami-
schen Fliesen und Platten und dergleichen einschließ-
lich der dazugehörenden Fugarbeiten;
Maurerarbeiten, Versetzen natürlicher oder künstli-
cher Steine mit oder ohne Mörtel
“.
Diesen Sachverhalt habe der in dem Vorprozess als Zeuge vernommene
Herr S im Rahmen der am 14. Februar 2012 durchgeführten Beweisaufnahme
bestätigt.
Der Kläger hat - soweit für die Revision von Interesse - beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 11.895,50 Euro zu zah-
len.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen, und gemeint, sie übe
keine gewerbliche Tätigkeit aus. Sie verwalte und nutze lediglich das Immobilien-
vermögen ihrer Alleingesellschafterin. Der Kläger habe
„ins Blaue hinein“ be-
hauptet, der betriebliche Geltungsbereich des VTV 2011 sei eröffnet, indem er
sich auf Vorgänge aus dem Jahr 2008 und auf den Vorprozess berufen habe, der
den noch weiter zurückliegenden Beitragszeitraum von Dezember 2005 bis
November 2006 betroffen habe. Die Beklagte hat behauptet, ihre Angestellten St
und G
hätten vorrangig im ostdeutschen Raum liegende Immobilien „im Sinn der
Bewirtschaftung und des Facility-
Managements“ betreut. Herr S habe von Januar
bis August 2012 im Rahmen einer Aushilfstätigkeit und ab dem 1. September
2012 in Vollzeit gearbeitet. Er und sein Kollege W seien Hausmeister gewesen.
Dabei - so die Auffassung der Beklagten - handele es sich nicht um eine bauge-
werbliche Tätigkeit. Die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung sei mit
Rückwirkung
(„ex tunc“) festgestellt worden. Deshalb dürfe das SokaSiG mit der
Wertung des § 142 Abs. 1 BGB nicht als Rechtsgrundlage für die Forderungen
gegen nicht an die Verfahrenstarifverträge gebundene Arbeitgeber herangezo-
gen werden, wenn sie - wie die Beklagte - auf die Unwirksamkeit vertraut hätten.
Das SokaSiG gehe weit über das eigentliche gesetzgeberische Anliegen hinaus,
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lediglich Rückforderungsklagen nach § 812 BGB auszuschließen. Die Beitrags-
forderungen seien ohnehin verjährt. Nach dem Rechtsgedanken des § 142
Abs. 1 BGB müsse die gesetzliche Verjährungsfrist gelten. Sie sei ebenso wie
die tarifvertragliche Verjährungsfrist abgelaufen. Die Zustellung des Mahnbe-
scheids wirke nicht nach § 167 ZPO zurück. Die Forderung sei im Mahnbescheid
nicht individualisiert gewesen. Die Klage sei erst Monate später begründet wor-
den.
Das Arbeitsgericht hat der Klage in der im Mahnbescheid ausgewiese-
nen Gesamthöhe stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Verurteilung
der Beklagten iHv. 11.895,50 Euro bestätigt und die Klage im Übrigen abgewie-
sen. Mit der vom Landesarbeitsgericht für sie unbeschränkt zugelassenen Revi-
sion will die Beklagte erreichen, dass die Klage in vollem Umfang abgewiesen
wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung der Beklagten, soweit für das Revisionsverfahren erheblich, zu
Recht zurückgewiesen. Die Klage ist iHv. 11.895,50 Euro zulässig und begrün-
det.
A.
Die Revision ist zulässig. Sie ist form- und fristgerecht begründet worden.
Die Beklagte hat die Revision mit Schriftsatz vom 19. März 2019, der versehent-
lich zu der bei dem Revisionsgericht unter dem Aktenzeichen - 10 AZR 57/19 -
geführten Parallelsache eingereicht worden ist, iSv. § 551 Abs. 2 Satz 1 ZPO be-
gründet.
I.
Zu den Senatsakten ist am 20. März 2019 eine mit dem Aktenzeichen
„10 AZR 56/19“ versehene Revisionsbegründung vom selben Tag eingereicht
worden. Ausweislich des Betreffs setzt sie sich mit einem in dem Verfah-
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ren - 10 Sa 931/18 SK - ergangenen Urteil des Hessischen Landesarbeitsge-
richts auseinander. Dieses Berufungsurteil ficht die Beklagte in der vor dem Se-
nat unter dem Aktenzeichen - 10 AZR 57/19 - geführten Parallelsache an. In ihrer
am 19. März 2019 zu dem Verfahren - 10 AZR 57/19 - eingereichten Revisions-
begründung, die im Betreff
das Aktenzeichen „10 AZR 57/19“ trägt, wendet sich
die Beklagte gegen das in diesem Revisionsverfahren angefochtene Berufungs-
urteil - 10 Sa 1579/17 -.
II.
Vor diesem Hintergrund ist es offensichtlich, dass die Prozessbevoll-
mächtigte der Beklagten die Aktenzeichen der Revisionsverfahren - 10 AZR
56/19 - und - 10 AZR 57/19 - versehentlich vertauscht hat. Im Fall einer verse-
hentlichen Falschbezeichnung (
„falsa demonstratio“) gilt nicht das fehlerhaft Er-
klärte, sondern das wirklich Gewollte
. Die am 19. März 2019 eingegangene
Revisionsbegründung ist deshalb iSv. § 551 Abs. 2 Satz 1 ZPO zu diesem Ver-
fahren eingereicht worden.
B.
Die Revision ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beru-
fung der Beklagten in dem für das Revisionsverfahren maßgeblichen Umfang zu
Recht zurückgewiesen. Die Klage ist zulässig und begründet.
I.
Der Kläger hat die zulässige Klage nicht geändert, indem er die Beitrags-
forderungen im Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens auf § 7 Abs. 6 iVm. der
Anlage 31 SokaSiG gestützt hat. Beitragsansprüche nach einem Verfahrenstarif-
vertrag, für dessen Geltungserstreckung sowohl eine Allgemeinverbindlicherklä-
rung als auch § 7 SokaSiG in Betracht kommen, werden von demselben den
Streitgegenstand umgrenzenden Lebenssachverhalt erfasst. Die Ansprüche stüt-
zen sich auf dasselbe Tatgeschehen. Sie sind weder in ihren materiell-rechtlichen
Voraussetzungen noch in ihren Folgen oder strukturell grundlegend verschieden
ausgestaltet
.
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II.
Die Klage ist in dem vom Landesarbeitsgericht zuerkannten Umfang be-
gründet. Der Kläger kann von der Beklagten für den Zeitraum von Januar bis
November 2012 Sozialkassenbeiträge iHv. 11.895,50 Euro verlangen.
1.
Die Beitragsansprüche des Klägers für den Klagezeitraum ergeben sich
aus § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31 SokaSiG. Die Anlage 31 enthält den vollstän-
digen Text des VTV 2011
. Die in § 7 Abs. 6 SokaSiG angeordnete Geltungserstre-
ckung des VTV 2011 auf nicht Tarifgebundene ist aus Sicht des Senats verfas-
sungsgemäß. Die Beitragspflichten der Beklagten für ihre gewerblichen Arbeit-
nehmer folgen aus § 1 Abs. 1, Abs. 2 Abschn. II, Abschn. V Nr. 15, Nr. 16, Nr. 23,
Nr. 37 und Nr. 38, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 iVm. § 18 Abs. 2 Satz 1, § 21 Abs. 1 Satz 1
VTV 2011.
a)
Der im streitigen Zeitraum in Karlsruhe gelegene Betrieb der Beklagten
unterfällt dem räumlichen Geltungsbereich des Tarifvertrags
. Die gewerblichen Arbeitnehmer, die die Beklagte im Klagezeitraum
beschäftigte, werden vom persönlichen Geltungsbereich erfasst
.
b)
Das Landesarbeitsgericht ist auf der Grundlage der von ihm getroffenen
Feststellungen im Ergebnis zu Recht davon ausgegangen, dass die Beklagte im
Klagezeitraum einen gewerblichen Betrieb iSv. § 1 Abs. 2 VTV 2011 unterhielt.
Die von ihr insoweit erhobenen Verfahrensrügen hat der Senat geprüft und für
nicht durchgreifend erachtet. Das Gesamtbild der betrieblichen Tätigkeit ent-
sprach den allgemeinen Vorstellungen von einem planmäßigen (Bau-)Geschäfts-
betrieb. Der mit der Immobiliennutzung und -verwaltung verbundene organisato-
rische und personelle Aufwand und die Teilnahme der Beklagten am Markt für
Vermietungsleistungen erforderten eine professionelle Führung nach betriebs-
wirtschaftlichen Grundsätzen. Die Betätigung diente damit letztlich in einem das
Private übersteigenden Maß der Wertschöpfung. Auf eine vorhandene Gewinn-
erzielungsabsicht kommt es nicht an.
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aa)
§ 1 Abs. 2 Satz 1 der Verfahrenstarifverträge erstreckt, beschränkt zu-
gleich aber auch den betrieblichen Geltungsbereich auf Betriebe des Baugewer-
bes. Die Tarifnorm verlangt, dass „gewerblich“ entweder Bauten aller Art erstellt
oder andere bauliche Leistungen erbracht werden
. Dadurch haben die Tarifvertragsparteien deutlich zum Ausdruck ge-
bracht, dass sich der betriebliche Geltungsbereich der Verfahrenstarifverträge
nicht auf alle Betriebe erstreckt, in denen - bezogen auf die Gesamtarbeitszeit
der Arbeitnehmer überwiegend - Bauarbeiten verrichtet werden. Unter die Ver-
fahrenstarifverträge sollen vielmehr nur solche Betriebe fallen, die begrifflich dem
Baugewerbe zuzurechnen sind
.
bb)
Die Gewerblichkeit des Betriebs ist danach ein allgemeines Tatbestands-
merkmal des § 1 Abs. 2 der Verfahrenstarifverträge, das unabhängig von den
Detailregelungen in den Abschnitten I bis V des § 1 Abs. 2 der Verfahrenstarif-
verträge erfüllt sein muss
.
Dementsprechend obliegt der Sozialkasse die abgestufte Darlegungslast und die
Beweislast für die Tatsachen, die darauf schließen lassen, dass der in Anspruch
genommene Baubetrieb eine gewerbliche Tätigkeit erbringt.
cc)
Die Tarifvertragsparteien des Baugewerbes haben in § 1 Abs. 2 der Ver-
fahrenstarifverträge den Gewerbebegriff des staatlichen Gewerberechts in Bezug
genommen
. Die Gewerbe-
ordnung enthält allerdings keine Legaldefinition des Gewerbebegriffs. Sie setzt
ihn vielmehr als unbestimmten Rechtsbegriff voraus
.
(1)
Nach herkömmlichem Verständnis ist Gewerbe iSd. Gewerbeordnung
jede nicht sozial unwertige, auf Gewinnerzielung gerichtete und auf gewisse
Dauer angelegte selbständige Tätigkeit. Ausgenommen sind die Urproduktion,
freie Berufe und die bloße Verwaltung und Nutzung eigenen Vermögens
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. Als - nicht gewerbliche -
„Verwaltung und Nutzung eigenen
Vermögens“ werden solche Betätigungen angesehen, die nicht oder nur gering-
fügig die Schutzzwecke der Gewerbeordnung berühren, weil der Zweck der Ka-
pitalanlage im Vordergrund steht
.
Sie sind regelmäßig dem privaten Bereich zuzuordnen, auch wenn es sich um
die Verwaltung und Nutzung von Immobilienvermögen handelt
.
(2)
Der früher für die Beitragsstreitigkeiten zuständige Vierte Senat des Bun-
desarbeitsgerichts hat angenommen
, die „rechtliche Eigenschaft“ eines Gewer-
bes oder eines Gewerbebetriebs hänge begriffsnotwendig von der Gewinnerzie-
lungsabsicht ab
. Daher sei auch
keine bloße Vermögensnutzung und -verwaltung, sondern eine baugewerbliche
Tätigkeit gegeben, wenn ein im Eigentum des Betriebsinhabers stehendes
Wohnhaus für 18 Mietparteien über einen Zeitraum von zwei Jahren durch einen
eigens dafür angemeldeten Gewerbebetrieb saniert werde, um die Wohnungen
anschließend gewinnbringend zu vermieten
.
(3)
Auch der nun für Beitragsstreitigkeiten zuständige Zehnte Senat des
Bundesarbeitsgerichts hat für die Abgrenzung der Verwaltung und Nutzung eige-
nen Immobilienvermögens als Kapitalanlage von einer (bau-)gewerblichen Tätig-
keit vorrangig auf das Merkmal der Gewinnerzielungsabsicht abgestellt. Der Wie-
deraufbau einer abgebrannten Lagerhalle mit dem Ziel der anschließenden Ver-
mietung durch den Eigentümer sei eine gewerbliche Tätigkeit, weil sie letztlich
die nachhaltige Gewinnerzielung bezweckt habe
. Auch die über mehrere Jahre andauernde Sanie-
rung, Instandsetzung und Instandhaltung von Gebäuden unter Einsatz von
durchschnittlich 41 gewerblichen Arbeitnehmern mit dem Ziel der Vermietung an
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Dritte hat der Senat wegen der darin zum Ausdruck kommenden Gewinnerzie-
lungsabsicht als (bau-)gewerbliche Tätigkeit angesehen
. Bauarbeiten zum Aufbau einer Al-
terssicherung an eigenen Immobilienobjekten mit 48 Wohneinheiten, die durch
eigens hierfür eingestellte Arbeitnehmer verwaltet wurden, hat der Senat wegen
der Gewinnerzielungsabsicht ebenfalls als (bau-)gewerblich eingestuft
. Die
Gewinnerzielungsabsicht - und damit eine gewerbliche Tätigkeit - hat der Senat
zuletzt in einem Fall bejaht, in dem der Eigentümer eines Fabrikgeländes darauf
innerhalb von drei Jahren mithilfe von weniger als zehn gewerblichen Arbeitneh-
mern 18 Wohnungen errichten oder sanieren ließ, um sie anschließend zu ver-
äußern oder durch eine Hausverwaltungsgesellschaft an Dritte zu vermieten
.
(4)
Im handels- und gewerberechtlichen Schrifttum - aber auch in der Recht-
sprechung - wird zunehmend infrage gestellt, ob eine Gewinnerzielungsabsicht
über die Gewerbeeigenschaft eines Betriebs entscheidet. Weder die gewerbe-
rechtlichen noch die handelsrechtlichen Folgen der Gewerbeeigenschaft stünden
in einem inneren Sinnzusammenhang mit den außen kaum erkennbaren Motiv-
lagen des Betreibers. Auch die Tatsache, dass in Unternehmenszusammen-
schlüssen und Konzernen aus unterschiedlichen Gründen die gezielte Zuwei-
sung von Gewinnen und Verlusten an einzelne Unternehmen zu beobachten sei,
obwohl an deren gewerblicher Funktion im Zusammenhang des Konzerns kein
Zweifel bestehen könne, spreche dagegen, auf die Gewinnerzielungsabsicht ab-
zustellen. Ohne dieses Merkmal vollständig fallen zu lassen, schlägt die handels-
rechtliche Literatur deshalb andere Kriterien vor, wie etwa die entgeltliche Tätig-
keit am Markt
. Andere Autoren befürworten, die Führung nach betriebswirtschaftlichen
Grundsätzen und die Tätigkeit am Markt im Wettbewerb mit Privatunternehmen
ausreichen zu lassen
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.
(5)
Der Bundesgerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung, dass der
Gewerbebegriff für jedes Gesetz selbständig nach Inhalt und Zweck der jeweili-
gen Vorschrift und unabhängig von dem Verständnis des Begriffs in anderen
Rechtsgebieten zu bestimmen ist. Er verzichtet mittlerweile für einzelne Fallge-
staltungen ganz auf eine Gewinnerzielungsabsicht
. Für die Abgrenzung der
privaten Nutzung und Verwaltung eigenen Immobilienvermögens als Verbrau-
cher von einer unternehmerischen Betätigung stellt der Bundesgerichtshof nun
allein auf den Umfang, die Komplexität und die Zahl der damit verbundenen Vor-
gänge ab. Vermittele der mit der Vermögensverwaltung einhergehende organi-
satorische und zeitliche Aufwand das Bild eines planmäßigen Geschäftsbe-
triebs - wie etwa die Unterhaltung eines Büros oder einer Organisation -, handele
es sich um eine gewerbliche Betätigung
.
(6)
Auch nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts ist zumindest der
im Tierschutz- und Tierseuchenschutzrecht verwendete Begriff der Gewerbsmä-
ßigkeit offen für eine Auslegung, die auf eine Gewinnerzielungsabsicht verzichtet
und es genügen lässt, dass Einnahmen erzielt werden, die grundsätzlich kosten-
deckend sind
.
Die
„Nutzung und Verwaltung eigenen Vermögens“ nimmt das Bundesverwal-
tungsgericht nur dann vom Gewerbebegriff aus, wenn die Auswirkungen der Be-
tätigung Dritte nicht oder doch nur in geringer, eine
„Bagatellschwelle“ nicht über-
schreitender Weise berühren
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.
dd)
Mit Blick auf den Zweck des § 1 Abs. 2 der Verfahrenstarifverträge ist
danach eine gewerbliche Nutzung und Verwaltung eigenen Immobilienvermö-
gens anzunehmen, wenn das Gesamtbild der Betätigung den allgemeinen Vor-
stellungen von einem planmäßigen (Bau-)Geschäftsbetrieb entspricht. Das ist re-
gelmäßig der Fall, wenn die Vermögensnutzung und -verwaltung in einem das
Private übersteigenden Maß der Wertschöpfung dient, weil die damit verbunde-
nen organisatorischen, personellen und wirtschaftlichen Vorgänge eine professi-
onelle Führung nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen verlangen. Eine Ge-
winnerzielungsabsicht ist nicht erforderlich.
(1)
Den Verfahrenstarifverträgen liegt erkennbar die Einschätzung der Tarif-
vertragsparteien zugrunde, dass die Arbeitnehmer des Baugewerbes besonders
schutzbedürftig sind. Diese Schutzbedürftigkeit steht regelmäßig nicht in einem
Zusammenhang mit der Frage, aus welchen Motiven der Arbeitgeber handelt und
ob er die Absicht hat, Gewinne zu erzielen. Sie hat ihren Grund in den Besonder-
heiten der Arbeit, die ua. mit häufigen Wechseln des Arbeitsorts und vor allem
des Arbeitgebers verbunden ist.
(2)
Die für die Normsetzung verantwortlichen Tarifvertragsparteien haben
nur die bei gewerblichen Arbeitgebern beschäftigten Arbeitnehmer in den Schutz
der Verfahrenstarifverträge einbezogen. Damit haben sie den tariflichen Anwen-
dungsbereich erkennbar auf solche Arbeitgeber beschränkt
, die sich „berufsmä-
ßig“ dem Baugewerbe gewidmet haben und einem der beiden Mitgliedsverbände
angehören können, die die Verfahrenstarifverträge auf Arbeitgeberseite abge-
schlossen haben
.
(3)
Unabhängig von einer bestehenden Gewinnerzielungsabsicht zählen
deshalb solche Betriebe nicht zum Baugewerbe, die bauliche Leistungen aus-
schließlich zu erzieherischen oder therapeutischen Zwecken erbringen lassen,
um die Arbeitsfähigkeit der dazu eingesetzten Personen wiederzugewinnen oder
zu steigern
. Dasselbe
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gilt für Personen und Unternehmen, die für ihren eigenen Bedarf bauen oder ein
Gebäude sanieren lassen und auf diese Weise ihr Kapital anlegen
. Diese beiden Bereiche
sind dadurch gekennzeichnet, dass die Bautätigkeit als solche nicht oder jeden-
falls nicht in einem den privaten Bereich überschreitenden Maß der Wertschöp-
fung dient.
(4)
Eine gewerbliche Nutzung und Verwaltung von Immobilienvermögen ist
demgegenüber in der Regel anzunehmen, wenn die Tätigkeit etwa angesichts
ihres Umfangs und der Komplexität der damit verbundenen organisatorischen,
personellen und wirtschaftlichen Vorgänge eine professionelle Führung nach be-
triebswirtschaftlichen Grundsätzen erfordert. In diesem Fall dient die Betätigung
in einem das Private übersteigenden Maß der Wertschöpfung und entspricht
nach ihrem Gesamtbild den allgemeinen Vorstellungen von einem Gewerbe. Die
in einem solchen Betrieb beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer sind, wenn
arbeitszeitlich überwiegend bauliche Tätigkeiten ausgeführt werden, mit den ty-
pischen Beschäftigungsbedingungen der Baubranche konfrontiert. Der planmä-
ßige Betrieb eines (Bau-)Gewerbes wirft auch die im Mittelpunkt des Interesses
von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden stehende und typischerweise
durch Tarifverträge geregelte Frage der kollektiven Verteilung der erzielten Er-
träge auf
. In diesem Zusammenhang spielt die - leicht
festzustellende - Entgeltlichkeit der Leistung eine Rolle, die das infrage stehende
Unternehmen am Markt anbietet. Auch eine etwaige Gewinnerzielungsabsicht ist
zu berücksichtigen. Ihr Vorhandensein oder Fehlen ist jedoch nicht das aus-
schlaggebende Kriterium für die Beurteilung, ob es sich um einen gewerblichen
Betrieb iSd. Verfahrenstarifverträge handelt oder nicht.
ee)
Nach diesen Maßstäben hat das Landesarbeitsgericht den Vortrag des
Klägers, wonach die Beklagte im Klagezeitraum einen Gewerbebetrieb iSd. Ver-
fahrenstarifverträge unterhalten habe, im Ergebnis zu Recht für schlüssig und die
entsprechenden Darlegungen der Beklagten nicht für erheblich gehalten.
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(1)
Nach den Ausführungen des Klägers entsprach das Gesamtbild der Tä-
tigkeit der Beklagten den allgemeinen Vorstellungen von einem planmäßigen Ge-
werbebetrieb.
(a)
Die in der Rechtsform einer GmbH betriebene Beklagte vermietete im
Klagezeitraum die im Allein- oder Miteigentum ihrer Alleingesellschafterin stehen-
den Immobilien an Dritte und verwaltete sie. Sie setzte für die Vermietung und
die Bewirtschaftung der Immobilien - neben dem Geschäftsführer - zwei Ange-
stellte und einen gewerblichen Arbeitnehmer ein, über fast acht Monate hinweg
sogar zwei gewerbliche Arbeitnehmer. Dies spricht für einen erheblichen Umfang
der mit der Immobiliennutzung und -verwaltung verbundenen Vorgänge und ei-
nen hohen organisatorischen und zeitlichen Aufwand. Bereits diese Umstände
vermitteln das Bild eines berufsmäßigen Gewerbebetriebs, der professionell ent-
geltliche Vermietungs- und Verwaltungsleistungen am Markt erbringt und damit
in einem das Private übersteigenden Maß der Wertschöpfung dient.
(b)
Die durch einen Geschäftsführer vertretene Beklagte unterhielt dazu ein
Büro. Die Betätigung erforderte eine betriebswirtschaftliche Organisation nicht
nur des Vermietungssektors und der dort anfallenden zahlreichen Vorgänge,
sondern auch des Personals, insbesondere in Bezug auf die Einsatzplanung, die
Personalführung und die Lohnbuchhaltung. Als in das Handelsregister eingetra-
gene GmbH hatte die Beklagte darüber hinaus gesetzlich eine Vielzahl organisa-
torischer Maßgaben zu erfüllen, deren Zweck es ist, ihr die ordnungsgemäße und
sachgerechte Erledigung ihrer Aufgaben zu ermöglichen.
(2)
Diesem Vorbringen des Klägers ist die Beklagte nicht erheblich entge-
gengetreten.
(a)
Ob die Beklagte
nur „zum Schutz“ ihrer Alleingesellschafterin gegründet
wurde, die
„ihre Ruhe haben wollte“, und ob ihre Alleingesellschafterin die Be-
klagte in irgendeiner Form „zum Erwerb“ oder sogar gewinnbringend betreiben
wollte, ist für die Gewerbeeigenschaft nicht relevant. Das Motiv für die Gründung
eines Betriebs hat, solange es nicht nach außen sichtbar ist, regelmäßig keinen
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Einfluss auf das Gesamtbild der ausgeübten Tätigkeit. Da die Beklagte unbestrit-
ten Einnahmen durch die Vermietungstätigkeit erzielte und den Vermietungssek-
tor betriebswirtschaftlich organisierte, steht auch die möglicherweise fehlende
Gewinnerzielungsabsicht der Gewerblichkeit ihrer Tätigkeit nicht entgegen. Es
kommt ebenfalls nicht darauf an, ob die Beklagte „Marktteilnehmerin am Markt
für Bauleistungen“ war, was sie bestritten hat.
(b)
Die einkommensteuerrechtliche Bewertung der Tätigkeiten der Beklag-
ten hat keine Bedeutung für die Frage, ob sie im Klagezeitraum ein Gewerbe iSd.
Verfahrenstarifverträge unterhielt. Die Beklagte übersieht, dass der Gewerbebe-
griff gesetzeszweckakzessorisch und daher für jedes Gesetz selbständig nach
Inhalt und Zweck der jeweiligen Vorschrift und unabhängig von dem Verständnis
des Begriffs in anderen Rechtsgebieten zu bestimmen ist
.
Der Begriff des Gewerbes iSd. Gewerbeordnung ist mit dem Gewerbebegriff des
Steuerrechts nicht identisch. Während es im Steuerrecht um fiskalische Ziele
geht, ist die - für die Auslegung der Verfahrenstarifverträge maßgebliche - Ge-
werbeordnung dazu bestimmt, die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Wirt-
schaftsleben zu wahren
.
c)
Der Betrieb der Beklagten erbrachte im streitigen Zeitraum bauliche Leis-
tungen iSv. § 1 Abs. 2 VTV 2011.
aa)
Der betriebliche Geltungsbereich der Verfahrenstarifverträge ist eröffnet,
wenn in dem fraglichen Betrieb in den Kalenderjahren des Anspruchszeitraums
arbeitszeitlich überwiegend Tätigkeiten ausgeführt wurden, die unter § 1 Abs. 2
Abschn. I bis Abschn. V der Verfahrenstarifverträge fallen. Für den Anwendungs-
bereich der Verfahrenstarifverträge reicht es aus, wenn in dem Betrieb überwie-
gend eine oder mehrere der in den Beispielen ihres § 1 Abs. 2 Abschn. IV oder
Abschn. V genannten Tätigkeiten ausgeübt werden. Der Betrieb wird dann stets
von dem betrieblichen Geltungsbereich erfasst, ohne dass die allgemeinen Merk-
male der Abschnitte I bis III zusätzlich geprüft werden müssen
.
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bb)
Die abgestufte Darlegungslast und die Beweislast dafür, dass in einem
Betrieb arbeitszeitlich überwiegend baugewerbliche Tätigkeiten verrichtet wer-
den, obliegt dem Kläger. Sein Sachvortrag ist schlüssig, wenn er Tatsachen dar-
legt, die den Schluss zulassen, der Betrieb des Arbeitgebers werde vom betrieb-
lichen Geltungsbereich der Verfahrenstarifverträge erfasst. Dazu gehört neben
der Darlegung von Arbeiten, die sich § 1 Abs. 2 der Verfahrenstarifverträge zu-
ordnen lassen, auch der Vortrag, dass diese Tätigkeiten insgesamt arbeitszeitlich
überwiegen
. Ist ent-
sprechender Tatsachenvortrag gehalten, hat sich der Arbeitgeber hierzu nach
§ 138 Abs. 2 ZPO zu erklären. Regelmäßig obliegt ihm die Last des substantiier-
ten Bestreitens, weil der Kläger außerhalb des Geschehensablaufs steht und
keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen hat, während der Arbeitge-
ber sie kennt und ihm die entsprechenden Angaben zuzumuten sind. Das sub-
stantiierte Bestreiten kann sich auf die Art und/oder den Umfang der verrichteten
Arbeiten beziehen. Um feststellen zu können, welche Tätigkeiten in welchem Um-
fang ausgeübt wurden, muss der Arbeitgeber im Rahmen des substantiierten
Bestreitens entsprechende Tatsachen vortragen. Dazu gehört auch die Darle-
gung der zeitlichen Anteile der verschiedenen Tätigkeiten
.
cc)
Der Kläger hat schlüssig behauptet, dass die Arbeitnehmer der Beklag-
ten im Klagezeitraum arbeitszeitlich überwiegend Tätigkeiten verrichtet haben,
die unter den Abschnitt V des § 1 Abs. 2 VTV 2011 fallen. Die Verlege- und Mon-
tagebauarbeiten unterfallen § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 15, Nr. 37 und Nr. 38
VTV 2011. Maurerarbeiten werden von § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 23 VTV 2011
erfasst, Verfugungsarbeiten von § 1 Abs. 2 Abschn. V Nr. 16 VTV 2011.
(1)
Der Kläger hat diese Tatsachen entgegen der Auffassung der Revision
nicht „ins Blaue hinein“ behauptet. Die darlegungspflichtige Sozialkasse steht au-
ßerhalb des für ihren Anspruch erheblichen Geschehensablaufs. Sie hat sich hier
auf vom Hauptzollamt anlässlich einer Baustellenüberprüfung gewonnene Er-
kenntnisse, ein Schreiben der Bundesagentur für Arbeit, ein zu einem früheren
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Beitragszeitraum ergangenes rechtskräftiges Urteil und eine in dem dortigen Ver-
fahren protokollierte Zeugenaussage berufen, um die Voraussetzungen des be-
trieblichen Geltungsbereichs des VTV 2011 darzulegen. Damit bezieht sich die
Sozialkasse auf öffentliche Urkunden und Schreiben von Behörden, deren In-
halte auch die Beklagte kennt und zu denen sie Stellung nehmen kann
.
(2)
Der Kläger musste trotz des Umstands, dass der Vorprozess den Bei-
tragszeitraum 2005/2006 betraf, keine weiteren Tatsachen für die Eröffnung des
betrieblichen Geltungsbereichs der Verfahrenstarifverträge vortragen. Allein der
Umstand, dass die Sozialkasse im Klagezeitraum keine Betriebsprüfung vor-
nahm, führt nicht zu einer weiter reichenden Darlegungslast auf der ersten Stufe
nach § 138 Abs. 1 ZPO
.
dd)
Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht den Vortrag der Beklagten für
nicht erheblich gehalten, ihre gewerblichen Arbeitnehmer S und W seien lediglich
als Hausmeister tätig geworden. Selbst wenn dies zuträfe, ist nicht ausgeschlos-
sen, dass der betriebliche Geltungsbereich des VTV 2011 eröffnet ist.
(1)
Zu den baulichen Leistungen iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. II der Verfahrens-
tarifverträge gehören ua. Arbeiten, die der Instandsetzung oder Instandhaltung
von Bauwerken zu dienen bestimmt sind
. Der betriebliche Geltungsbereich der Verfahrenstarifver-
träge ist nicht nur eröffnet, wenn Arbeiten verrichtet werden, die eine abgeschlos-
sene Berufsausbildung im Baugewerbe erfordern. Hausmeister führen üblicher-
weise kleinere Reparaturen und Instandhaltungsarbeiten an den von ihnen be-
treuten Gebäuden durch. Sie versehen deshalb regelmäßig jedenfalls auch bau-
liche Tätigkeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. II der Verfahrenstarifverträge
.
(2)
Die Beklagte geht davon aus, Hausmeister verrichteten
„neben den all-
gemeinen pflegerischen Tätigkeiten … aber auch anspruchsvollere und letztlich
substanzerhaltende Tätigkeiten wie Fliesenarbeiten, Trockenbau und einfache
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Arbeiten, die leicht anlernbar“ seien. Sie hat vorgetragen, ihre Hausmeister hät-
ten „vergleichbare Aufgaben“ gehabt, die sich „tatsächlich in der Substanzerhal-
tung/Pfl
ege erschöpft“ hätten. Instandsetzungs- und Instandhaltungsarbeiten an
Bauwerken sind in den betrieblichen Geltungsbereich der Verfahrenstarifverträge
einbezogen. Nach dem Vortrag der Beklagten ist daher nicht ausgeschlossen,
dass der betriebliche Geltungsbereich des VTV 2011 eröffnet ist.
(3)
Das Vorbringen der Beklagten, sie habe im streitigen Zeitraum Ange-
stellte beschäftigt, ist ebenfalls unerheblich. Soweit die von Angestellten verse-
henen Tätigkeiten dazu dienten, baugewerbliche Leistungen zu erbringen, sind
sie diesen Leistungen nach der ständigen Rechtsprechung des Senats hinzuzu-
rechnen
. Da die Angestellten nach dem
Vortrag der Beklagten die Immobilien betreuten und iSd.
„Facility-Managements“
bewirtschafteten, ist es nicht ausgeschlossen, dass sie sich auch um den Einsatz
der beiden Hausmeister kümmerten und insoweit Zusammenhangstätigkeiten zu
den baugewerblichen Tätigkeiten erbrachten. Um die vom Kläger behauptete Er-
öffnung des betrieblichen Geltungsbereichs des VTV 2011 wirksam zu bestrei-
ten, hätte die Beklagte angeben müssen, welche Tätigkeiten die Angestellten im
Klagezeitraum im Einzelnen ausführten und welche Arbeitszeitanteile darauf je-
weils entfielen.
(4)
Soweit die Revision schließlich rügt, das Landesarbeitsgericht habe
seine Aufklärungspflicht verletzt, übersieht sie, dass es nach den Grundsätzen
der abgestuften Darlegungslast ihre Aufgabe gewesen wäre, den Sachverhalt
durch ihre Einlassung aufzuklären.
(a)
Eine sekundäre Darlegungslast trifft den bestreitenden Prozessgegner,
wenn die primär darlegungsbelastete Partei keine nähere Kenntnis der maßgeb-
lichen Umstände und keine Möglichkeit zur weiteren Sachaufklärung hat, wäh-
rend der Bestreitende alle wesentlichen Tatsachen kennt und es ihm unschwer
möglich und zumutbar ist, nähere Angaben zu machen. Dem Bestreitenden ob-
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liegt es im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, Nachforschungen anzu-
stellen, wenn ihm das zumutbar ist
.
(b)
Der in Anspruch genommene Arbeitgeber kennt im Gegensatz zu der
Sozialkasse alle für die Beitragspflicht wesentlichen Tatsachen. Sein einfaches
Bestreiten genügt deshalb nach den Grundsätzen der sekundären Darlegungs-
last nicht, sofern ihm nähere Angaben zuzumuten sind. In diesem Fall kann von
ihm das substantiierte Bestreiten der behaupteten Tatsachen unter Darlegung
der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt werden.
Die von der Revision hiergegen der Sache nach unter Hinweis auf die Bindung
an Recht und Gesetz sowie das Gebot fairen Verfahrens erhobenen Einwände
tragen nicht. Die Pflicht der Parteien, ihre Tatsachenerklärungen wahrheitsge-
mäß und vollständig abzugeben, dient gerade der redlichen und fairen Prozess-
führung
.
2.
Der Kläger ist berechtigt, Beitragsansprüche für die gewerblichen Arbeit-
nehmer im Weg einer sog. Durchschnittsbeitragsklage zu verfolgen und dafür die
vom Statistischen Bundesamt ermittelten durchschnittlichen Bruttomonatslöhne
in der Bauwirtschaft heranzuziehen
.
a)
Das Landesarbeitsgericht hat die auf diese Weise für einen gewerblichen
Arbeitnehmer berechneten Beiträge mit dem Faktor 18,5 multipliziert, um dem
Umstand Rechnung zu tragen, dass Herr S von Januar bis November 2012 und
Herr W von Januar bis Mitte August 2012 bei der Beklagten beschäftigt waren.
Gegen diese Berechnung erhebt die Revision keine Einwände.
b)
Das Landesarbeitsgericht durfte auch den Vortrag der Beklagten für un-
erheblich erachten, wonach Herr S von Januar bis August 2012 lediglich als Aus-
hilfskraft beschäftigt worden sei. Die Beklagte hat die dem Kläger nicht bekannte
tatsächliche Höhe der monatlichen Bruttolohnsummen für den Zeitraum von Ja-
nuar bis August 2012 nicht mitgeteilt. Das Landesarbeitsgericht konnte deshalb
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nicht prüfen, ob die anhand der tatsächlichen Bruttolohnsummen ermittelten Bei-
tragsforderungen niedriger waren als die vom Kläger geltend gemachten.
3.
Die Ansprüche sind weder verfallen, noch steht ihnen die erhobene Ein-
rede der Verjährung entgegen. Verfall und Verjährung der Ansprüche richten sich
nach § 24 Abs. 1 und Abs. 4 VTV 2011. Die Verfall- und die Verjährungsfrist be-
tragen vier Jahre. § 199 BGB findet Anwendung. Diese Verlängerung der Verjäh-
rungsfrist gegenüber § 195 BGB ist nach § 202 BGB wirksam
.
a)
Der Auffassung der Beklagten, die Beitragsansprüche gegen sie als sog.
Außenseiterin seien
„mit der Wertung des § 142 BGB“ nie entstanden und hätten
daher auch nicht rückwirkend und mit der verlängerten Verjährungsfrist begrün-
det werden können, steht die rückwirkende Geltungserstreckung des
VTV 2011 - mit den die Verjährung betreffenden Normen - durch § 7 Abs. 6
SokaSiG entgegen. Anders als die Beklagte gemeint hat, schützt § 7 SokaSiG
die Sozialkassen nicht nur vor Rückforderungsansprüchen, sondern stellt auch
den zukünftigen Beitragseinzug sicher
. Der Annahme, § 7 SokaSiG werde von § 142 Abs. 1 BGB
verdrängt, kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil sich der Anwendungs-
bereich des § 142 Abs. 1 BGB auf anfechtbare rechtsgeschäftliche Willenserklä-
rungen beschränkt.
b)
Der älteste Beitragsanspruch für Januar 2012 war nach § 21 Abs. 1
Satz 1 VTV 2011 mit dem 15. Februar 2012 fällig, sodass die Verfall- und die
Verjährungsfrist mit dem Schluss des Jahres 2012 zu laufen begannen und am
31. Dezember 2016 endeten. Der Kläger hat die Ansprüche innerhalb der Ver-
fallfrist anhängig gemacht, indem er den Mahnantrag am 15. Dezember 2016
beim Arbeitsgericht eingereicht hat
. Nach § 24 Abs. 1 Satz 3 VTV 2011 genügt das, um die Verfallfrist ein-
zuhalten.
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c)
Die Verjährung der Beitragsansprüche wurde nach § 204 Abs. 1 Nr. 3
BGB iVm. § 167 ZPO durch den Eingang des Antrags auf Erlass eines Mahnbe-
scheids am 15. Dezember 2016 gehemmt.
aa)
Die Zustellung des Mahnbescheids am 21.
Januar 2017 erfolgte „dem-
nächst“.
(1)
Eine Zustellung „demnächst“ nach Eingang des Antrags bedeutet eine
Zustellung innerhalb einer nach den Umständen angemessenen, selbst längeren
Frist, wenn die Partei oder ihr Prozessbevollmächtigter unter Berücksichtigung
der Gesamtsituation alles Zumutbare für die unverzügliche Zustellung getan ha-
ben
. Nicht mehr „demnächst“ erfolgt ist die Zustellung, wenn die Partei, der die
Fristwahrung obliegt, oder ihr Prozessbevollmächtigter durch nachlässiges
- auch leicht fahrlässiges - Verhalten zu einer nicht nur geringfügigen Zustel-
lungsverzögerung beigetragen hat
.
(2)
Der Kläger hat durch die Einreichung des vollständig ausgefüllten An-
trags auf Erlass des Mahnbescheids am 15. Dezember 2016 bei Gericht alles
Zumutbare für die unverzügliche Zustellung des Mahnbescheids getan. Die
verzögerte Zustellung des antragsgemäß erlassenen Mahnbescheids am
21. Januar 2017 beruhte nicht auf dem Verhalten des Klägers, sondern auf der
Arbeitsweise des Gerichts. Sie kann dem Kläger daher nicht zugerechnet wer-
den.
bb)
Die Ansprüche waren in dem Mahnbescheid in einer den Anforderungen
des § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO entsprechenden Weise individualisiert
.
(1)
Entgegen der Auffassung der Beklagten muss die Sozialkasse die ge-
werblichen Arbeitnehmer, für die sie Beiträge erstrebt, nicht namentlich benen-
nen, um den Streitgegenstand zu bestimmen. Macht die Sozialkasse mit einem
Mahnantrag Beiträge für gewerbliche Arbeitnehmer geltend, sind die Vorgaben
des § 690 Abs. 1 Nr. 3 ZPO grundsätzlich erfüllt, wenn sie darlegt, von welchem
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Arbeitgeber sie für welche Kalendermonate Beiträge in welcher Höhe begehrt
.
(2)
Diese Angaben lassen sich dem Mahnbescheid vom 17. Januar 2017
entnehmen. Sie ermöglichten es der Beklagten zu beurteilen, ob sie sich gegen
den Anspruch zur Wehr setzen wollte.
cc)
Dem Beginn der Hemmung am 15. Dezember 2016 steht nicht entgegen,
dass sich der Kläger erst im Verlauf des Rechtsstreits auf das SokaSiG als Gel-
tungsgrund für den VTV 2011 berufen hat. Bei den Beitragsansprüchen handelt
es sich um denselben Streitgegenstand, unabhängig davon, ob die Verfahrens-
tarifverträge aufgrund einer Allgemeinverbindlicherklärung oder nach § 7
SokaSiG zur Anwendung kommen
. Deshalb kommt es nicht darauf an, ob die Tatbestandsvoraussetzungen
des § 213 BGB erfüllt sind
.
4.
Die Beklagte war ungeachtet ihrer fehlenden Verbandszugehörigkeit
nach § 7 Abs. 6 iVm. der Anlage 31 SokaSiG an den im Streitzeitraum geltenden
VTV 2011 gebunden. Das SokaSiG ist als Geltungsgrund für die Verfahrenstarif-
verträge nach Auffassung des Senats verfassungsgemäß
. Die An-
griffe der Revision führen zu keiner anderen Beurteilung.
a)
Anders als die Beklagte annimmt, schließt § 7 SokaSiG nicht nur Rück-
forderungsansprüche aus. Die Norm sichert auch den Einzug rückständiger Bei-
träge.
aa)
Darin erkennt der Senat insbesondere keinen Verstoß gegen Art. 9
Abs. 3 GG
.
bb)
Ein etwaiger Eingriff in die Tarifautonomie durch die gesetzliche Gel-
tungserstreckung ist jedenfalls im Interesse der Sicherung der Funktionsfähigkeit
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des Systems der Tarifautonomie gerechtfertigt. Das SokaSiG dient einem legiti-
men Zweck, weil es den Fortbestand der Sozialkassenverfahren in der Bauwirt-
schaft sichern und Bedingungen für einen fairen Wettbewerb schaffen soll. Das
Gesetz ist geeignet, weil es jedenfalls förderlich ist, diese Ziele zu erreichen. Der
Gesetzgeber verfügt über einen Einschätzungsspielraum für die Beurteilung der
tatsächlichen Grundlagen einer Regelung. Die Grenze liegt dort, wo sich deutlich
erkennbar abzeichnet, dass eine Fehleinschätzung vorgelegen hat
. Dafür sind
keine Anhaltspunkte gegeben
. Das SokaSiG ist ferner erforderlich. Die vom Gesetzgeber angestellten
Erwägungen sind von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt. Indem § 7
SokaSiG nicht nur Rückforderungsansprüche ausschließt, sondern auch den zu-
künftigen Beitragseinzug sicherstellt, kann dieser Zweck erreicht werden. Eine
auf Rückforderungsansprüche beschränkte Regelung wäre zwar milder gewe-
sen, aber nicht gleich wirksam
. Die
mit § 7 SokaSiG verbundenen Belastungen für nicht tarifgebundene Arbeitgeber
hält der Senat angesichts der mit der Norm verfolgten Ziele für zumutbar
.
b)
§ 7 SokaSiG verletzt nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG
geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Gesetzen nicht
in unzulässiger Weise belastet zu werden
.
Der von der Beklagten betonte Umstand, sie trete „doch
schon seit Jahr und Tag dem Revisionsgegner und dessen Ansichten und des-
sen vermeintlichen Ansprüchen entgegen“, hindert die Anwendung des SokaSiG
hier nicht. Es kommt allein darauf an, ob die tariffreien Arbeitgeber bei objektiver
Betrachtung darauf vertrauen durften, dass die Geltungserstreckung der Verfah-
renstarifverträge auf Dauer entfällt
. Das ist nicht der Fall.
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aa)
Bis zum 20. September 2016 bestand keine Grundlage für ein Vertrauen
auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV idF der An-
lage 31 des SokaSiG, auf die § 7 Abs. 6 SokaSiG verweist. Die Arbeitgeber
mussten vielmehr vom Gegenteil ausgehen und ihre wirtschaftlichen Dispositio-
nen auf die vollständige Erfüllung der in den Verfahrenstarifverträgen geregelten
Pflichten einrichten
. Es entsprach der weit überwiegenden Rechtsansicht, dass
diese Fassung des VTV wirksam für allgemeinverbindlich erklärt worden war. Et-
waige Zweifel der in Anspruch genommenen Arbeitgeber waren keine geeignete
Grundlage für die Bildung von Vertrauen dahin, dass auf der Annahme der feh-
lenden Normwirkung der Verfahrenstarifverträge beruhenden Dispositionen nicht
nachträglich die Grundlage entzogen werden würde
.
bb)
Für den von § 7 Abs. 6 SokaSiG erfassten Zeitraum konnte sich bei der
Beklagten aufgrund der Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016
und
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kein hinreichend gefestig-
tes und damit schutzwürdiges Vertrauen darauf bilden, nicht zu Sozialkassenbei-
trägen herangezogen zu werden. Vielmehr musste sie nach der rechtlichen Situ-
ation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge von § 7 Abs. 6
SokaSiG zurückbezogen wird, damit rechnen, dass die tariflichen Rechtsnormen
durch Gesetz rückwirkend wieder auf nicht originär tarifgebundene Arbeitgeber
erstreckt werden würden. Der Gesetzgeber brauchte auf in der Zwischenzeit den-
noch getätigte gegenläufige Vermögensdispositionen keine Rücksicht zu neh-
men
.
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C.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Gallner
Pessinger
Brune
R. Baschnagel
Budde
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