Urteil des BAG vom 17.06.2020

Bürgenhaftung nach dem AEntG für Beitragspflichten zu dem Urlaubskassensystem der Bauwirtschaft - unwirksame AVE VTV 2013 II - Bestimmtheit des Klageantrags - Schätzung der Höhe der verbürgten Beitragsforderungen nach § 287 ZPO - Verzugszinsen in gesetzli

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 17. Juni 2020
Zehnter Senat
- 10 AZR 464/18 -
ECLI:DE:BAG:2020:170620.U.10AZR464.18.0
I. Arbeitsgericht Wiesbaden
Urteil vom 28. September 2017
- 4 Ca 2014/16 -
II. Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 17. August 2018
- 10 Sa 1549/17 -
Entscheidungsstichworte:
Bürgenhaftung nach dem AEntG für Beitragspflichten zu dem Urlaubskas-
sensystem der Bauwirtschaft - unwirksame AVE VTV 2013 II - Bestimmt-
heit des Klageantrags - Schätzung der Höhe der verbürgten Beitragsforde-
rungen nach § 287 ZPO - Verzugszinsen in gesetzlicher Höhe - Verfas-
sungsmäßigkeit des SokaSiG
ECLI:DE:BAG:2020:170620.U.10AZR464.18.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
10 AZR 464/18
10 Sa 1549/17
Hessisches
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
17. Juni 2020
URTEIL
Brüne, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
17. Juni 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht Gallner,
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10 AZR 464/18
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die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Brune, den Richter am Bundesarbeits-
gericht Dr. Pulz sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Rudolph und Salzburger
für Recht erkannt:
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 17. August 2018
- 10 Sa 1549/17 - wird zurückgewiesen.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten im Rahmen der Bürgenhaftung nach dem Arbeit-
nehmer-Entsendegesetz (AEntG) über Beiträge zu den Sozialkassen der Bau-
wirtschaft iHv. zuletzt noch 20.917,64 Euro.
Der Kläger ist eine gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien in
der Rechtsform eines Vereins mit eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher
Verleihung. Er ist tarifvertraglich zum Einzug der Beiträge zu den Sozialkassen
der Bauwirtschaft verpflichtet. Er nimmt die Beklagte auf der Grundlage des
AEntG und des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe
(VTV) vom 3. Mai 2013 (VTV 2013 I) als Bürgin auf Sozialkassenbeiträge für den
Zeitraum von Juli bis Dezember 2013 in Anspruch. Auf die Beitragsschuld wur-
den vor Rechtshängigkeit 22.899,54 Euro und im Verlauf des Berufungsverfah-
rens weitere 1.839,57 Euro geleistet.
Der Senat hat festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärung des
VTV 2013 I unwirksam ist
.
Die nicht durch Verbandszugehörigkeit an den VTV 2013 I gebundene
Beklagte mit Sitz im österreichischen Z betreibt ein in der Baubranche tätiges
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Unternehmen. Sie beauftragte die K Projektmanagement GmbH (K GmbH) werk-
vertraglich damit, bauliche Leistungen auf drei Baustellen in Rheinland-Pfalz zu
erbringen. Die Rohbau- und Hochbauarbeiten vergab die K GmbH an die slowe-
nische Firma 1A d.o.o. als Nachunternehmerin (Hauptschuldnerin). Die Haupt-
schuldnerin entsandte von Juli bis Dezember 2013 gewerbliche Arbeitnehmer auf
die drei Baustellen, um diese Arbeiten auszuführen.
Der Kläger hat in seiner am 2. Dezember 2016 bei Gericht eingegange-
nen und der Beklagten am 16. Januar 2017 zugestellten Klage die Auffassung
vertreten, die Beklagte hafte als Unternehmerin iSd. AEntG für die von der Haupt-
schuldnerin nach dem VTV 2013 I geschuldeten Beiträge. Gestützt auf die Ein-
tragungen in das slowenische Register und aus dem Internet abgerufene Infor-
mationen hat er behauptet, die Hauptschuldnerin sei in ihrem gesamten Betrieb
arbeitszeitlich überwiegend mit dem Bau von Wohn- und Nichtwohngebäuden
und anderen baulichen Leistungen befasst gewesen. Die Zahl und die Beschäf-
tigungszeiten der im Klagezeitraum eingesetzten Arbeitnehmer ergäben sich aus
den Anmeldungen der Hauptschuldnerin nach § 18 Abs. 1 AEntG. Es sei davon
auszugehen, dass die auf den Baustellen eingesetzten Arbeitnehmer jeweils zur
Hälfte Tätigkeiten verrichtet hätten, die nach den Rechtsnormen des Tarifver-
trags zur Regelung der Mindestlöhne im Baugewerbe im Gebiet der Bundesre-
publik Deutschland (TV Mindestlohn) vom 28. April 2011 iVm. dem Anhang 2 den
Lohngruppen 1 und 2 zuzuordnen seien.
Der Kläger hat - soweit für das Revisionsverfahren erheblich - zuletzt be-
antragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 20.917,64 Euro nebst
Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz
seit dem 5. Oktober 2016 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, der
Kläger sei seiner nach § 8 Abs. 1 Satz 1 AEntG bestehenden Darlegungslast
nicht nachgekommen. Er habe nicht vorgetragen, dass das deutsche Urlaubs-
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recht günstiger sei als das slowenische. Der Kläger habe die Beitragsforderun-
gen auch nicht schlüssig dargelegt, weil er alle Bruttolohnsummen in der An-
lage K 1 zu der Klageschrift auf der Grundlage des höheren Gesamttarifstunden-
lohns in der Lohngruppe 2 ermittelt habe. Das SokaSiG sei verfassungswidrig.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsge-
richt zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte weiterhin ihr Ziel, dass die
Klage abgewiesen wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht
hat ihre Berufung zu Recht zurückgewiesen. Die Klage ist, soweit sie in die Re-
vision gelangt ist, zulässig und begründet.
I.
Die Klage ist zulässig.
1.
Sie ist hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
a)
Eine Klage auf Sozialkassenbeiträge für gewerbliche Arbeitnehmer ge-
nügt grundsätzlich bereits dann den Vorgaben des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn
der Kläger darlegt, von welchem Arbeitgeber er für welche Kalendermonate Bei-
träge in welcher Höhe begehrt
. Diese Angaben lassen sich der
Anlage K 1 zu der Klageschrift entnehmen
. Darin hat der
Kläger die Beitragsansprüche, die er gegen die Beklagte geltend macht, tabella-
risch nach Monaten aufgeschlüsselt. Sie beliefen sich auf insgesamt
45.656,75 Euro.
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b)
Der Umstand, dass der Kläger nicht vorgetragen hat, welche seiner Bei-
tragsforderungen infolge der bereits geleisteten Zahlungen von 22.899,54 Euro
und 1.839,57 Euro erfüllt sind, führt nicht dazu, dass der Klageantrag unbestimmt
ist.
aa)
Beitragsansprüche für mehrere Kalendermonate gegen denselben
Beklagten können nach § 260 ZPO in einer Klage verbunden werden
. In diesem Fall muss erkennbar sein,
aus welchen Einzelforderungen sich die „Gesamtklage“ zusammensetzt
. Kann die Zusammensetzung der
Klageforderung nach dem Klagevorbringen mithilfe der Anrechnungsgrundsätze
des § 366 Abs. 2 BGB festgestellt werden, ist eine entsprechende Auslegung des
Klageantrags geboten
. Diese Re-
gelung entspricht im Allgemeinen dem vermuteten, vernünftigen Parteiwillen
. Sie kann auch ohne
ausdrückliche Erklärung des Klägers angewandt werden
.
bb)
Dem Rückgriff auf die gesetzliche Anrechnungsreihenfolge des § 366
Abs. 2 BGB steht § 18 Abs. 1 Satz 2 VTV 2013 I im Streitfall nicht entgegen, der
die Anwendung der §§ 366, 367 BGB ausschließt. Dabei kann dahinstehen, ob
diese Regelung wirksam ist
.
Es fehlt eine besondere Anrechnungsvereinbarung.
(1)
§ 366 BGB enthält nach allgemeiner Auffassung dispositives Recht
. Die Regelung greift nur ein, wenn die Beteiligten über die Anrechnung
keine besondere, der einseitigen Bestimmung des Schuldners vorgehende Ver-
einbarung getroffen haben
. Der Schuldner kann das Bestimmungsrecht auch dem Gläubiger über-
tragen
.
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(2)
Der VTV 2013 I enthält keine besondere Anrechnungsvereinbarung. Um-
stände, die darauf hindeuten, dass sich die Parteien auf eine von § 366 BGB
abweichende Anrechnung geeinigt hätten, sind nicht ersichtlich. Es fehlen auch
Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger das ihm etwa durch § 18 Abs. 1 Satz 2
VTV 2013 I übertragene Bestimmungsrecht ausdrücklich abweichend von § 366
Abs. 2 BGB ausgeübt hat oder den beiden Zahlungen einseitige Tilgungsbestim-
mungen des jeweiligen Leistungserbringers zugrunde lagen.
cc)
Das Klagevorbringen ermöglicht mithilfe der Anrechnungsgrundsätze
des § 366 Abs. 2 BGB die Auslegung des Klageantrags dahin, dass der Kläger
einen Teil des Beitrags für November 2013 iHv. 4.934,14 Euro und den Beitrag
für Dezember 2013 iHv. 15.983,50 Euro begehrt.
(1)
Die geleisteten Zahlungen können den geltend gemachten Beitragsfor-
derungen anhand der Angaben in der Anlage K 1 zu der Klageschrift und der
Anrechnungsgrundsätze des § 366 Abs. 2 BGB zugeordnet werden. Alle Bei-
tragsforderungen sind fällig, für den Kläger gleich sicher und der Beklagten gleich
lästig. Daher wird zunächst die ältere Schuld getilgt, dh. die Anrechnung erfolgt
sukzessive auf die Forderungen, deren Entstehungszeitpunkt am längsten zu-
rückliegt
.
(2)
Danach sind die Beitragsansprüche für Juli, August, September und
Oktober 2013 iHv. insgesamt 14.865,01 Euro nach § 362 Abs. 1 BGB durch die
bereits geleisteten Zahlungen erloschen. Die für November 2013 geltend ge-
machte Beitragsforderung iHv. 14.808,24 Euro ist bis auf einen Restbetrag von
4.934,14 Euro ebenfalls durch Erfüllung erloschen.
c)
Der Klageantrag ist auch nicht deshalb unbestimmt, weil der Kläger alle
in der Anlage K 1 zu der Klageschrift aufgeführten Bruttolohnsummen auf der
Grundlage des höheren Gesamttarifstundenlohns von 13,70 Euro ermittelt hat.
Dieser Stundenlohn war nach § 2 Abs. 3 Buchst. a TV Mindestlohn vom 28. April
2011 in Rheinland-Pfalz in der Lohngruppe 2 seit dem 1. Januar 2013 zu zahlen.
Ein Klageantrag ist nicht nur dann hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2
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ZPO, wenn der maßgebliche Sachverhalt bereits vollständig beschrieben oder
der Klageanspruch schlüssig und substantiiert dargelegt worden ist. Zweck der
Klageerhebung ist es, dem Schuldner den Willen des Gläubigers zu verdeutli-
chen, dass er seine Forderungen durchsetzen will. Im Allgemeinen reicht es da-
her aus, wenn der Anspruch identifizierbar ist. Es genügt, wenn das Klagebegeh-
ren - unterhalb der Stufe der Substantiierung - individualisiert und der Streitge-
genstand damit bestimmt ist
. Daran besteht hier kein Zweifel.
2.
Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ist auch unter
Geltung des § 545 Abs. 2 ZPO in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prü-
fen
. Sie ist
hier nach § 15 Satz 2 AEntG gegeben. Der Kläger macht Beiträge zum Urlaubs-
kassenverfahren für in die Bundesrepublik Deutschland entsandte Arbeitnehmer
geltend
.
II.
Die Klage ist begründet. Der Kläger kann von der Beklagten für den Zeit-
raum von Juli bis Dezember 2013 Sozialkassenbeiträge iHv. 20.917,64 Euro ver-
langen.
1.
Das Landesarbeitsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass dem
Kläger die geltend gemachten Beitragsansprüche zum Urlaubskassenverfahren
dem Grunde nach aus § 12 SokaSiG, § 14 Satz 1 AEntG iVm. § 7 Abs. 4 und der
Anlage 29 SokaSiG sowie § 15 Abs. 1, § 18 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 3 Satz 1
VTV 2013 I zustehen.
a)
Nach § 14 Satz 1 AEntG haftet ein Unternehmer, der einen anderen Un-
ternehmer mit der Erbringung von Werk- oder Dienstleistungen beauftragt, ua.
für die Verpflichtungen dieses Unternehmers zur Zahlung von Beiträgen an eine
gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien nach § 8 AEntG wie ein
Bürge, der auf die Einrede der Vorausklage verzichtet hat. § 14 AEntG ist hier
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nach § 12 SokaSiG entsprechend anzuwenden. § 12 SokaSiG bestimmt, dass
Abschnitt 5 des AEntG auf die Verpflichtung zur Zahlung von Beiträgen zum Ur-
laubskassenverfahren an die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirt-
schaft entsprechende Anwendung findet. Diese Geltungsanordnung betrifft alle
Zeiträume, die das SokaSiG umfasst
.
b)
Im Klagezeitraum waren Arbeitgeber mit Sitz im Ausland nach § 8 Abs. 1
Satz 1 AEntG verpflichtet, nach Maßgabe des VTV 2013 I Beiträge zum Urlaubs-
kassenverfahren nebst Zinsen an den Kläger zu entrichten.
aa)
§ 8 Abs. 1 Satz 1 AEntG verpflichtet Arbeitgeber mit Sitz im In- oder Aus-
land, die unter den Geltungsbereich eines für allgemeinverbindlich erklärten Ta-
rifvertrags nach § 4 Abs. 1 Nr. 1 sowie §§ 5 und 6 Abs. 2 AEntG fallen, einer ge-
meinsamen Einrichtung der Tarifvertragsparteien die ihr nach § 5 Satz 1 Nr. 3
AEntG zustehenden Beiträge zu leisten. Um einen Tarifvertrag nach § 4 Abs. 1
Nr. 1 AEntG handelt es sich, wenn er für den Bereich des Bauhauptgewerbes
oder des Baunebengewerbes iSd. Baubetriebe-Verordnung (BaubetrV) in der je-
weils geltenden Fassung einschließlich der Erbringung von Montageleistungen
auf Baustellen außerhalb des Betriebssitzes gilt. Nach § 5 Satz 1 Nr. 3 AEntG
können Gegenstand eines Tarifvertrags nach § 3 AEntG die Einziehung von Bei-
trägen und die Gewährung von Leistungen im Zusammenhang mit Urlaubsan-
sprüchen iSv. § 5 Satz 1 Nr. 2 AEntG durch eine gemeinsame Einrichtung der
Tarifvertragsparteien sein.
bb)
Bei dem VTV 2013 I und dem Bundesrahmentarifvertrag für das Bauge-
werbe (BRTV) vom 4. Juli 2002 in der im Klagezeitraum maßgeblichen Fassung
vom 17. Dezember 2012 (BRTV-Bau 2012 II) handelt es sich um Tarifverträge
des Bauhaupt- und des Baunebengewerbes iSd. BaubetrV. Die Tarifverträge er-
fassen mit ihren betrieblichen Geltungsbereichen überwiegend identische Be-
triebe wie die BaubetrV in ihrem § 1.
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cc)
Der BRTV-Bau 2012 II enthält in § 8 ua. Regelungen der Dauer des Ur-
laubs und des Urlaubsentgelts. § 8 Nr. 15 BRTV-Bau 2012 II sieht vor, dass die
Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft als gemeinsame Einrich-
tung der Tarifvertragsparteien im Zusammenhang mit Urlaubsansprüchen im
Baugewerbe nach Maßgabe des VTV Beiträge einzieht und Leistungen gewährt.
dd)
Aufgrund des SokaSiG ist es nicht erforderlich, dass für die hier maßgeb-
lichen Tarifverträge einer der in § 8 Abs. 1 Satz 1 AEntG genannten Geltungs-
gründe besteht
. Die allge-
meine Geltung des BRTV-Bau 2012 II folgt aus § 3 Abs. 8 iVm. Abs. 3 und der
Anlage 14 SokaSiG, die des VTV 2013 I aus § 7 Abs. 11 iVm. Abs. 4 und der
Anlage 29 SokaSiG.
c)
Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, dass es sich bei
der Beklagten um eine Unternehmerin iSv. § 14 Satz 1 AEntG handelt
. Dass die Be-
klagte nicht selbst Bauherrin war, steht außer Frage.
Sie führt die Begriffe „Pla-
nung - Produktion -
Baugesellschaft“ in ihrer Firmenbezeichnung und ist nach
den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts in der Baubranche tätig.
d)
Nach den von ihr nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeits-
gerichts beauftragte die Beklagte die K
GmbH als „andere Unternehmerin“ iSv.
§ 14 Satz 1 AEntG mit der Erbringung von Werkleistungen in Form von Bauleis-
tungen auf den drei Baustellen in Rheinland-Pfalz im Zeitraum von Juli bis
Dezember 2013. Die nach § 14 AEntG erforderliche besondere Verantwortungs-
beziehung zwischen Auftraggeber und Nachunternehmer besteht auch hier
. Die Beklagte nutzte die K
GmbH für ihre eigene wirtschaftliche Tätigkeit. Die Hauptschuldnerin wurde von
der K GmbH als Nachunternehmerin damit beauftragt, Bauleistungen zu erbrin-
gen, zu deren Ausführung sich die K GmbH gegenüber der Beklagten verpflichtet
hatte. Dass die K GmbH damit andere als eigene wirtschaftliche Zwecke verfolgt
haben könnte, ist nicht ersichtlich.
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e)
Der Kläger hat auch schlüssig dargelegt, dass die Hauptschuldnerin
nach Maßgabe des VTV 2013 I verpflichtet war, Beiträge zum Urlaubskassen-
verfahren zu entrichten.
aa)
Nach den vom Landesarbeitsgericht getroffenen Feststellungen ist das
Erfordernis des § 6 Abs. 2 AEntG gewahrt, wonach der Betrieb überwiegend
Bauleistungen gemäß § 101 Abs. 2 SGB III erbringen muss. Die Hauptschuldne-
rin errichtete mit ihrem Betrieb überwiegend Wohngebäude. Sie führte Fassa-
denbauarbeiten, Boden- und Wandverkleidungsarbeiten sowie vorbereitende
Erdarbeiten aus und baute Fenster und Türen ein. Die Revision hat dagegen
keine Rügen erhoben. Unerheblich ist, dass der Betrieb der Hauptschuldnerin
seinen Sitz im Ausland hat. Abzustellen ist allein auf den Betrieb als maßgebliche
Organisationseinheit
.
bb)
Mit der Beschäftigung von gewerblichen Arbeitnehmern auf den drei
Baustellen in Rheinland-Pfalz sind der räumliche Geltungsbereich des § 1 Abs. 1
VTV 2013 I und der persönliche Geltungsbereich des § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1
VTV 2013 I eröffnet.
cc)
Der Betrieb der Hauptschuldnerin unterfällt auch dem betrieblichen Gel-
tungsbereich des VTV 2013 I.
(1)
Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats wird ein Betrieb vom
betrieblichen Geltungsbereich der Verfahrenstarifverträge erfasst, wenn in ihm
arbeitszeitlich überwiegend Tätigkeiten verrichtet werden, die unter die Ab-
schnitte I bis V des § 1 Abs. 2 der Verfahrenstarifverträge fallen. Betriebe, die
überwiegend eine oder mehrere der in den Beispielen des § 1 Abs. 2 Abschn. V
der Verfahrenstarifverträge genannten Tätigkeiten ausführen, fallen unter den
betrieblichen Geltungsbereich der Verfahrenstarifverträge, ohne dass die Erfor-
dernisse der allgemeinen Merkmale der Abschnitte I bis III geprüft werden müs-
sen. Nur wenn in dem Betrieb arbeitszeitlich überwiegend nicht die in den Ab-
schnitten IV und V genannten Beispielstätigkeiten versehen werden, muss dar-
über hinaus untersucht werden, ob die ausgeführten Tätigkeiten die allgemeinen
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Merkmale der Abschnitte I bis III erfüllen
.
(2)
Nach diesen Maßstäben hat das Landesarbeitsgericht den Betrieb der
Hauptschuldnerin zutreffend dem betrieblichen Geltungsbereich des VTV 2013 I
zugeordnet. Die Beklagte hat weder die Feststellungen noch die darauf gestützte
Annahme des Landesarbeitsgerichts gerügt, wonach die Hauptschuldnerin nicht
nur auf den drei Baustellen in Rheinland-Pfalz, sondern auch in ihrem Betrieb
in Slowenien arbeitszeitlich überwiegend bauliche Arbeiten iSv. § 1 Abs. 2
VTV 2013 I ausgeführt hat.
f)
Der Erstreckung des VTV 2013 I auf die Hauptschuldnerin steht der ge-
botene Günstigkeitsvergleich nicht entgegen.
aa)
Ein Arbeitgeber mit Sitz im Ausland hat nicht am Urlaubskassenverfah-
ren teilzunehmen, wenn die entsandten Arbeitnehmer nach den Regeln des Ent-
sendestaats hinsichtlich des Urlaubs bessergestellt sind als vergleichbare deut-
sche Arbeitnehmer nach Maßgabe der allgemein geltenden Tarifverträge. Auf-
grund des gebotenen Günstigkeitsvergleichs kommt es dann nicht zu einer An-
wendung der geltenden tariflichen Urlaubsvorschriften. Die Bestimmungen des
AEntG sind insoweit einschränkend auszulegen
. Für den Günstigkeitsvergleich ist jeweils auf die
Ergebnisse abzustellen, zu denen die Rechtsordnungen in dem betreffenden
Teilbereich im Einzelfall gelangen
.
bb)
Das Landesarbeitsgericht hat den Günstigkeitsvergleich zu Recht durch-
geführt, obwohl der Kläger keinen dahin gehenden Vortrag gehalten hat. Unmit-
telbar und zwingend geltende Tarifverträge sind - ebenso wie Gesetze und
Rechtsverordnungen -
„Normen“, deren Inhalt nach § 293 ZPO von Amts wegen
zu ermitteln ist
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. Die Amtsermittlungspflicht gilt auch für die Vorschriften des an-
wendbaren ausländischen Rechts, die für die Entscheidung des Falls erheblich
sind
. Anhaltspunkte dafür, dass das
vom Landesarbeitsgericht gefundene Ergebnis unzutreffend sein könnte, hat die
Beklagte nicht vorgebracht. Sie sind auch nicht ersichtlich.
2.
Die Klage ist auch der Höhe nach begründet. Die vom Landesarbeitsge-
richt nach § 287 Abs. 2 iVm. Abs. 1 ZPO vorgenommene Schätzung der Beiträge
zum Urlaubskassenverfahren ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
a)
Nach § 287 Abs. 2 ZPO gelten die Vorschriften des § 287 Abs. 1 Satz 1
und Satz 2 ZPO bei vermögensrechtlichen Streitigkeiten entsprechend. Danach
ist auch die Schätzung des Umfangs von Erfüllungsansprüchen zulässig, wenn
die Parteien über die Höhe der Forderung streiten und die vollständige Aufklä-
rung aller hierfür maßgebenden Umstände unmöglich oder aber mit Schwierig-
keiten verbunden ist, die zu der Bedeutung des streitigen Teils der Forderung
in keinem Verhältnis stehen
. Allerdings muss die klagende Partei dem Gericht eine tatsäch-
liche Grundlage für die Schätzung geliefert und sich in einem den Um-
ständen nach zumutbaren Maß um eine Substantiierung bemüht haben
. Sind diese Voraussetzungen
erfüllt, können die Tatsachengerichte auch die Höhe der Beiträge zum Urlaubs-
kassenverfahren schätzen, wenn - wie im Streitfall - feststeht, dass ein mit Bau-
leistungen beauftragter Unternehmer zu ihrer Ausführung Arbeitnehmer beschäf-
tigt hat und der Auftraggeber als Bürge auf Beiträge zum Urlaubskassenverfah-
ren in Anspruch genommen wird
.
b)
Das Landesarbeitsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass der
schriftsätzliche Vortrag des Klägers und das Zahlenwerk in der Anlage K 1 zu der
Klageschrift für die Schätzung der Beitragsforderungen nach § 287 Abs. 2 iVm.
Abs. 1 ZPO ausreichen.
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aa)
Grundsätzlich ist es Sache des Anspruchstellers, auch diejenigen Um-
stände vorzutragen und gegebenenfalls zu beweisen, die seine Vorstellungen zu
der Anspruchshöhe rechtfertigen sollen. Enthält sein Vortrag Lücken oder Un-
klarheiten, ist es allerdings regelmäßig nicht gerechtfertigt, dem jedenfalls in ir-
gendeiner Höhe Berechtigten jeden Ersatz zu versagen. Steht - wie hier - dem
Grunde nach fest, dass eine Forderung besteht, und muss lediglich die Höhe
ausgefüllt werden, kommt dem Gläubiger nach § 287 Abs. 2 ZPO die Beweiser-
leichterung des § 287 Abs. 1 ZPO zugute. Im Unterschied zu den strengen An-
forderungen des § 286 Abs. 1 ZPO reicht bei der Entscheidung über die Höhe
einer Forderung eine erhebliche, auf gesicherter Grundlage beruhende Wahr-
scheinlichkeit für die richterliche Überzeugungsbildung aus. Der Tatrichter muss
nach pflichtgemäßem Ermessen beurteilen, ob nach § 287 ZPO nicht wenigstens
die Schätzung eines Mindestbetrags möglich ist. Er darf eine solche Schätzung
erst dann gänzlich unterlassen, wenn sie mangels jeglicher konkreter Anhalts-
punkte völlig
„in der Luft hinge“
.
bb)
Danach hatte das Landesarbeitsgericht die Beitragssumme zu schätzen.
Der Kläger hat schriftsätzlich und in der Anlage K 1 zu der Klageschrift substan-
tiiert dargelegt, von welchen Grundlagen er bei der Berechnung seiner Beitrags-
forderungen ausgegangen ist. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht nicht des-
halb von einer Schätzung Abstand genommen, weil der Kläger alle Bruttolöhne
nach dem Gesamttarifstundenlohn berechnet hat, der im Klagezeitraum nach § 2
Abs. 3 Buchst. a TV Mindestlohn vom 28. April 2011 in Rheinland-Pfalz mit Wir-
kung vom 1. Januar 2013 in der Lohngruppe 2 zu zahlen war. Dabei handelt es
sich allenfalls um eine Unklarheit im Hinblick auf die Bemessungsgrundlage, die
das Landesarbeitsgericht nicht an der Schätzung hinderte.
c)
Die Schätzung der Beitragsansprüche hält der revisionsrechtlichen
Nachprüfung stand.
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aa)
Die Schätzung nach § 287 Abs. 2 ZPO ist in erster Linie Sache des
Tatrichters, der nach § 287 ZPO besonders frei handeln kann. Sie ist revisions-
rechtlich nur daraufhin überprüfbar, ob der Tatrichter seinen Beurteilungsspiel-
raum überschritten, wesentliche Bemessungsfaktoren außer Betracht gelassen
oder der Schätzung unrichtige oder unbewiesene Anknüpfungstatsachen zu-
grunde gelegt hat
. Ohne eine entsprechende Verfahrensrüge ist der Senat an die
Schätzung des Tatsachengerichts gebunden
.
bb)
Die Rüge der Revision, das Landesarbeitsgericht habe seiner Schätzung
ungeprüft die überhöhten Bruttolohnsummen aus der Anlage K 1 zu der Klage-
schrift zugrunde gelegt, ist jedenfalls unbegründet. Der Kläger hat die monatli-
chen Beiträge zum Urlaubskassenverfahren nicht auf der Basis dieser Brutto-
lohnsummen errechnet.
(1)
Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 VTV 2013 I bemisst sich der Beitrag für gewerb-
liche Arbeitnehmer nach der Summe der Bruttolöhne. Der Beitragssatz für das
Urlaubskassenverfahren beträgt 14,3 vH der Bruttolohnsumme
.
(2)
Bei den Gesamttarifstundenlöhnen der Lohngruppen 1 und 2, auf denen
die Berechnung der Beitragsforderungen nach dem schriftsätzlichen Vortrag des
Klägers beruht, handelt es sich nach § 2 Abs. 2 Satz 1 TV Mindestlohn vom
28. April 2011 um Mindestlöhne iSd. § 2 Nr. 1 AEntG. Diese Mindestlöhne sind
nach § 1 Satz 2 der Achten Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen im
Baugewerbe vom 24. Oktober 2011 auch für Arbeitgeber mit Sitz im Ausland ver-
bindlich
.
(3)
Im Jahr 2013 betrug der Gesamttarifstundenlohn nach § 2 Abs. 3
Buchst. a TV Mindestlohn vom 28. April 2011 in Rheinland-Pfalz 11,05 Euro in
der Lohngruppe 1 und 13,70 Euro in der Lohngruppe 2. Die im Klagezeitraum
geleisteten Arbeitsstunden waren nach dem Vortrag des Klägers je zur Hälfte mit
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11,05 Euro und mit 13,70 Euro - also im Durchschnitt mit 12,375 Euro - zu ver-
güten. Der Kläger hat die Beiträge deshalb nicht mit dem tariflichen Beitragssatz
von 14,3 vH, sondern nur mit einem Beitragssatz von 12,92 vH der Bruttolohn-
summen ermittelt, die er in der Anlage K 1 zu der Klageschrift angegeben hat.
Werden die Bruttolohnsummen mithilfe der Angaben zu den Beschäftigungszei-
ten auf der Grundlage des gemittelten Stundenlohns von 12,375 Euro berechnet,
entsprechen die vom Kläger geforderten Beiträge dem tariflich geschuldeten
Vomhundertsatz für das Urlaubskassenverfahren (12,375 Euro x 14,3 vH
13,70 Euro x 12,92 vH).
d)
Die Beitragsforderungen sind nicht nach § 21 Abs. 1 Satz 1 VTV 2013 I
verfallen. Der Kläger hat die vierjährige Verfallfrist gewahrt. Sie endete für den
ältesten Beitragsanspruch nach § 199 Abs. 1 BGB, der nach § 21 Abs. 1 Satz 2
VTV 2013 I für die Verfallfrist entsprechend gilt, mit dem 31. Dezember 2017. Der
Kläger hat alle Beitragsansprüche bereits mit der am 2. Dezember 2016 bei Ge-
richt eingegangenen Klage anhängig gemacht. Nach § 21 Abs. 1 Satz 3
VTV 2013 I wurde die Verfallfrist dadurch gehemmt.
3.
Das Landesarbeitsgericht hat auch zutreffend erkannt, dass die Beklagte
nach § 20 VTV 2013 I Verzugszinsen in gesetzlicher Höhe auf die geschuldeten
Beiträge schuldet
.
a)
Da die Bürgschaft streng akzessorisch ist, haftet die Beklagte nach § 767
Abs. 1 Satz 1 BGB als Bürgin wie die Hauptschuldnerin. Dies gilt nach § 767
Abs. 1 Satz 2 BGB auch dann, wenn die Hauptverbindlichkeit durch Verschulden
oder Verzug der Hauptschuldnerin geändert wird und zu der Hauptverbindlichkeit
Verzugszinsen hinzutreten.
b)
Die Hauptschuldnerin befand sich seit dem 21. Januar 2014, der auf ei-
nen Dienstag fiel, mit der Zahlung aller Beiträge in Verzug iSv. § 286 BGB, die
sie dem Kläger schuldete. Bei der in § 18 Abs. 1 Satz 1 VTV 2013 I geregelten
Fälligkeit am 20. des Folgemonats handelt es sich um eine kalendermäßige Be-
stimmung des Termins für die Leistung. Eine Mahnung war nach § 286 Abs. 2
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Nr. 1 BGB entbehrlich. Die geltend gemachten Beiträge waren einschließlich des
Beitrags für Dezember 2013 spätestens am 20. Januar 2014 fällig. Dem Eintritt
des Verzugs steht nicht entgegen, dass dem SokaSiG Rückwirkung zukommt.
Der Senat teilt die in der Literatur vertretene Auffassung nicht, die die zu § 184
BGB entwickelten Grundsätze heranzieht und annimmt, im Rückwirkungszeit-
raum habe kein Verzug entstehen können
.
c)
Die Hauptschuldnerin hat es schuldhaft iSv. § 286 Abs. 4 BGB unterlas-
sen, die Beiträge zu leisten. Die Beklagte kann sich nicht auf einen unverschul-
deten Rechtsirrtum der Hauptschuldnerin berufen. Die Hauptschuldnerin durfte
nicht davon ausgehen, zu der Leistung von Beiträgen nicht verpflichtet zu sein
.
4.
Die Bindung der Hauptschuldnerin an den VTV 2013 I folgt aus § 7
Abs. 4 SokaSiG iVm. der Anlage 29. Der Senat hält das Gesetz für verfassungs-
konform.
a)
§ 7 SokaSiG verletzt nach Auffassung des Senats nicht das durch Art. 2
Abs. 1 iVm. Art. 20 Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von
rückwirkenden Gesetzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden
.
aa)
Die Beklagte musste wie alle Betroffenen mit der nachträglichen - ge-
setzlichen - Bestätigung der Beitragspflicht aufgrund der Verfahrenstarifverträge
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rechnen. Ihr Einwand, der „historische Legitimationskontext“ dürfe nicht ohne
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eiteres durch den „rückwirkenden Zugriff“ des heutigen Gesetzgebers „ausge-
schaltet“ werden, trägt nicht. Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung
der Rechtslage zu rechnen war, ist von Bedeutung, ob die bisherige Regelung
bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen der betroffenen Perso-
nengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen
. Das ist nicht der Fall
. Dass die Beklagte ihren Firmensitz in Österreich hat, ist nicht von Be-
lang. Auf die Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016
kann sich die
Beklagte schon deshalb nicht berufen, weil sie nicht die Allgemeinverbindlich-
erklärung des im Klagezeitraum geltenden VTV 2013 I betreffen. Die gesetzliche
Wiederherstellung der Normerstreckung auf tariffreie Arbeitgeber war bereits vor
der Veröffentlichung der Entscheidungsformel der Beschlüsse vom 21. Septem-
ber 2016 im Bundesanzeiger absehbar. Deshalb konnte auch aufgrund der bei-
den Entscheidungen des Senats vom 25. Januar 2017
kein Vertrauen darauf entstehen, dass die dadurch entstan-
dene Rechtslage bestehen bleibt
.
bb)
Dem Gesetzgeber steht die Wahl einer anderen Rechtsform als der in
§ 5 TVG geregelten Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Ta-
rifvertrags auf Außenseiter frei. Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Er-
gebnis der Erwägungen zu der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen.
Ein Vertrauen darauf, nur aufgrund einer wirksamen Allgemeinverbindlicherklä-
rung in Anspruch genommen zu werden, ist daher nicht schutzwürdig
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.
b)
§ 7 SokaSiG greift nicht unter Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG in
die Zuständigkeit der Fachgerichte zu der Auslegung von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
TVG in der bis zum 15. August 2014 geltenden Fassung ein. Mit der gesetzlichen
Erstreckungsanordnung sollte - letztlich mit Rücksicht auf die Forderungen der
Rechtsstaatlichkeit und der Rechtssicherheit - statt anfechtbaren Rechts unan-
fechtbares Recht gesetzt werden. Dies stellt keine „Generalkassation formell fort-
bestehender Urteile“ dar. Vielmehr hat der Gesetzgeber lediglich eine aus for-
mellen Gründen unwirksame Erstreckung der Normwirkung des VTV durch eine
wirksame - gesetzliche - Erstreckungsanordnung ersetzt, um auf diese Weise
den weitreichenden Folgen der Beschlüsse des Senats vom 21. September 2016
und
25. Januar 2017
entgegenzuwirken
.
c)
Bei dem SokaSiG handelt es sich nicht um ein nach Art. 19 Abs. 1 Satz 1
GG unzulässiges Einzelfallgesetz. Das SokaSiG greift nicht aus einer Vielzahl
gleichgelagerter Fälle einen einzelnen Fall oder eine bestimmte Gruppe heraus
.
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III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
Gallner
Pulz
Brune
Rudolph
Salzburger
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