Urteil des BAG vom 17.06.2020

Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG2 - Streitgegenstand - Gerüstbauerhandwerk

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 17. Juni 2020
Zehnter Senat
- 10 AZR 322/18 -
ECLI:DE:BAG:2020:170620.U.10AZR322.18.0
I. Arbeitsgericht Wiesbaden
Urteil vom 7. Juli 2016
- 10 Ca 834/14 -
II. Hessisches Landesarbeitsgericht
Urteil vom 9. März 2018
- 10 Sa 1411/17 -
Entscheidungsstichworte:
Verfassungsmäßigkeit des SokaSiG2 - Streitgegenstand
ECLI:DE:BAG:2020:170620.U.10AZR322.18.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
10 AZR 322/18
10 Sa 1411/17
Hessisches
Landesarbeitsgericht
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
17. Juni 2020
URTEIL
Jatz, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagter, Berufungskläger und Revisionskläger,
pp.
Kläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
17. Juni 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeitsgericht Gallner,
die Richterin am Bundesarbeitsgericht Dr. Brune, den Richter am Bundesarbeits-
gericht Dr. Pulz sowie die ehrenamtlichen Richterinnen Rudolph und Salzburger
für Recht erkannt:
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10 AZR 322/18
ECLI:DE:BAG:2020:170620.U.10AZR322.18.0
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1. Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des
Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 9. März 2018
- 10 Sa 1411/17 - wird zurückgewiesen.
2. Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Beiträge nach dem Tarifvertrag über das Sozi-
alkassenverfahren im Gerüstbauerhandwerk vom 20. Januar 1994 idF vom
11. Juni 2002 (VTV-Gerüstbau).
Der Kläger ist die Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes, eine gemein-
same Einrichtung der Tarifvertragsparteien in der Rechtsform eines Vereins mit
eigener Rechtspersönlichkeit kraft staatlicher Verleihung. Zu den Aufgaben des
Klägers gehört es, Beiträge im Sozialkassenverfahren des Gerüstbaugewerbes
einzuziehen. Der VTV-Gerüstbau ist am 29. Oktober 2002 mit Wirkung zum
1. Juni 2002 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit für allgemeinver-
bindlich erklärt worden.
Die Parteien streiten im Revisionsverfahren noch über Sozialkassenbei-
träge in Höhe von 32.085,02 Euro für den Zeitraum von Dezember 2011 bis
Dezember 2013.
Der Beklagte unterhielt im streitgegenständlichen Zeitraum als Einzelun-
ternehmer einen Gewerbebetrieb, in dem unstreitig jedenfalls auch Gerüstbauar-
beiten anfielen. Gerüstmaterial wurde zu den Baustellen transportiert, auf- und
abgebaut und in einem Lager vorgehalten.
Der Kläger hat die Auffassung vertreten, der Beklagte sei verpflichtet, für
den streitgegenständlichen Zeitraum Beiträge zum Sozialkassenverfahren zu
leisten. Erstinstanzlich hat der Kläger seinen Anspruch auf die Allgemeinverbind-
licherklärung des VTV-Gerüstbau gestützt, in der Berufungsinstanz hat er sich
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auf das Gesetz zur Sicherung der tarifvertraglichen Sozialkassenverfahren
(SokaSiG2) berufen. Der betriebliche Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau sei
eröffnet. Die gewerblichen Arbeitnehmer hätten in den Jahren 2011 bis 2013 ar-
beitszeitlich überwiegend die Gerüstbauarbeiten erbracht: Auf- und Abladen so-
wie Transportieren von Gerüstteilen vom Lagerplatz zu den Baustellen, Zusam-
menfügen von Gerüstteilen zu einem fertigen Gerüst und - nach Beendigung der
auf dem Gerüst zu verrichtenden Tätigkeiten - Abbau von Gerüstkonstruktionen,
Verladen der Teile und Rücktransport zum Lagerplatz, Instandhaltung und War-
tung der Gerüstteile. Für die Berechnung der Forderung sei davon auszugehen,
dass im Betrieb des Beklagten in den Jahren 2011 und 2012 zwei gewerbliche
Arbeitnehmer und ein Angestellter beschäftigt gewesen seien. Für das Kalender-
jahr 2013 gehe der Kläger von mindestens drei gewerblichen Arbeitnehmern und
einem Angestellten aus.
Der Kläger hat zuletzt beantragt,
den Beklagten zu verurteilen, an ihn 32.085,02 Euro zu
zahlen.
Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Es sei fraglich, ob der
betriebliche Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau eröffnet sei. Der Schwerpunkt
der betrieblichen Tätigkeit habe zunächst in den Bereichen der Raumausstattung
und hiermit verbundenen Nebentätigkeiten, des Gartenbaus und der Lagerver-
waltung gelegen. Nur am Rand habe er sich mit dem Gerüsttransport und dem
Gerüstbau beschäftigt. Erst im Lauf der Jahre habe sich der Schwerpunkt in Rich-
tung des Gerüstbaus verändert, sodass ab Januar 2015 überwiegend Gerüst-
bauarbeiten erbracht worden seien. Der gewerbliche Arbeitnehmer G habe im
Jahr 2011 1.331 Stunden ausschließlich in den Bereichen Lagerverwaltung, Gar-
tenbau und Raumausstattung gearbeitet. Im Gerüstbau sei er überhaupt nicht
tätig gewesen. Der gewerbliche Arbeitnehmer I habe im Jahr 2011 insgesamt
1.901 Stunden gearbeitet. Davon seien 1.711 Stunden auf die Bereiche Lager-
verwaltung, Gartenbau und Raumausstattung entfallen und nur 190 Stunden auf
den zum Gerüstbau gehörenden Bereich Netztechnik. Der Arbeitnehmer S habe
im Jahr 2011 1.910 Stunden im Bereich Gerüstbau und 212 Stunden im Lager-
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und Logistikbereich gearbeitet. Der Arbeitnehmer M sei im Rahmen einer gering-
fügigen Beschäftigung 412 Stunden tätig gewesen und ausschließlich als Fahrer
eingesetzt worden, um Arbeitnehmer zu Baustellen und Auftragsorten zu fahren.
Zu 50 % dürfte die Lagerverwaltung den Bereich des Gerüstbaus betreffen, zu
50 % die Bereiche der Raumausstattung und des Gartenbaus. Die Verteilung der
Arbeitszeit in den Jahren 2012 und 2013 sei ähnlich gewesen. Die Ansprüche
seien im Übrigen verjährt. Ferner rechne der Beklagte mit Gegenansprüchen we-
gen gewährten Urlaubs auf. Zudem sei das SokaSiG2 verfassungswidrig. Das
Gesetz verstoße gegen das Rückwirkungsverbot und Art. 9 Abs. 3 GG. Es stelle
auch einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in den Grundsatz der Gewaltentei-
lung dar. Dass ein Sozialkassenverfahren noch sinnvoll sei, müsse bezweifelt
werden.
Das Arbeitsgericht hat zwei ursprünglich getrennte Prozesse verbunden
und der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat auf Antrag der Par-
teien mit Beschluss vom 8. März 2017, der den Parteien am 10. März 2017 zu-
gestellt worden ist, das Ruhen des Verfahrens angeordnet. Mit Schreiben vom
20. Oktober 2017, bei Gericht an demselben Tag eingegangen, hat der Kläger
das Verfahren wieder angerufen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung, so-
weit für das Revisionsverfahren von Interesse, zurückgewiesen. Mit der vom Lan-
desarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte weiter das Ziel,
dass die Klage vollständig abgewiesen wird.
Entscheidungsgründe
A.
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht
hat die Berufung zu Recht zurückgewiesen. Der Kläger hat Anspruch auf die gel-
tend gemachten Beiträge aus § 15 Abs. 1 iVm. der Anlage 46 SokaSiG2 und § 1
Abs. 1 und Abs. 2 iVm. § 14 Abs. 1 und Abs. 2, § 15 Abs. 6 VTV-Gerüstbau.
I.
Die Klage ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt iSv. § 253
Abs. 2 Nr. 2 ZPO.
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1.
Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO muss die Klageschrift neben einem be-
stimmten Antrag auch eine bestimmte Angabe des Gegenstands und des Grun-
des des erhobenen Anspruchs enthalten. Ob der Streitgegenstand hinreichend
bestimmt ist, ist auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfen
. Die Klagepartei muss eindeutig festlegen, welche Entscheidung sie
begehrt. Dazu hat sie den Streitgegenstand so genau zu bezeichnen, dass der
Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis
keinem Zweifel
unterliegt und die eigentliche Streitfrage mit Rechtskraftwirkung zwischen den
Parteien entschieden werden kann
. Sowohl bei einer der Klage statt-
gebenden als auch bei einer sie abweisenden Sachentscheidung muss zuverläs-
sig feststellbar sein, worüber das Gericht entschieden hat
. Bei mehreren im Weg einer ob-
jektiven Klagehäufung nach § 260 ZPO in einer Klage verfolgten Ansprüchen
muss erkennbar sein, aus welchen Ei
nzelforderungen sich die „Gesamtklage“
zusammensetzt
.
a)
Eine Klage auf Beiträge zu dem Sozialkassenverfahren der Bauwirt-
schaft für gewerbliche Arbeitnehmer genügt grundsätzlich bereits dann den Vor-
gaben des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, wenn der Kläger darlegt, von welchem Ar-
beitgeber er für welche Kalendermonate Beiträge in welcher Höhe begehrt
. Macht die Urlaubs- und Lohnaus-
gleichskasse der Bauwirtschaft Beiträge für Angestellte geltend, ist der Streitge-
genstand hinreichend bestimmt, wenn sie darlegt, von welchem Arbeitgeber sie
für welche Zahl von Angestellten in welchem Kalendermonat Beiträge in welcher
Höhe erstrebt
. Diese
Rechtsprechung lässt sich auf Beiträge zu der Sozialkasse des Gerüstbaugewer-
bes übertragen.
b)
Der prozessuale Anspruch einer Beitragsklage der Sozialkasse des Ge-
rüstbaugewerbes auf der Grundlage des VTV-Gerüstbau umfasst für gewerbliche
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Arbeitnehmer regelmäßig den in einem Kalendermonat anfallenden Sozialkas-
senbeitrag. Verlangt der Kläger Beiträge für einen längeren Zeitraum als einen
Kalendermonat, handelt es sich um eine „Gesamtklage“. Der Kläger hat dann
darzulegen, wie sich die Ansprüche auf die einzelnen Monate verteilen. Das hat
der Senat bereits für Klagen auf Beiträge zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft
entschieden
. Für Ange-
stellte macht die Sozialkasse für die einzelnen Monate keinen einheitlichen Bei-
tragsanspruch, sondern im Weg der objektiven Klagehäufung zusammenge-
fasste Einzelansprüche für die jeweilige Zahl der beschäftigten Angestellten gel-
tend. Die Beiträge für Angestellte bestimmen sich nach der Zahl der beschäftig-
ten Angestellten im jeweiligen Kalendermonat
.
aa)
Eine hinreichend bestimmte Klage auf monatlich zu leistende Vergütung
im Arbeitsverhältnis erfordert, dass der Kläger die begehrten Teilbeträge auf die
einzelnen Monate aufteilt
. Eine Klage auf eine monatliche
Zulage ist grundsätzlich nur dann hinreichend bestimmt, wenn ihr entnommen
werden kann, welche Beträge für die einzelnen Monate des Klagezeitraums be-
ansprucht werden
. Bei der Dritt-
schuldnerklage auf gepfändetes Arbeitsentgelt, das nach Zeitabschnitten bemes-
sen ist, gehört zu der erforderlichen Bestimmung des Streitgegenstands die An-
gabe der Zeitabschnitte, für die Entgelt in bestimmter Höhe verlangt wird
.
bb)
Entsprechend gilt für eine Klage auf Beiträge zu der Sozialkasse des Ge-
rüstbaugewerbes, dass der Kläger regelmäßig gehalten ist, die Klageforderung
nach Kalendermonaten aufzuschlüsseln
. Wie sich aus § 14 Abs. 1 und Abs. 2
VTV-Gerüstbau iVm. § 5 Nr. 6.2 des Rahmentarifvertrags für das Gerüstbauer-
handwerk (RTV) vom 27. Juli 1993 idF vom 11. Juni 2002 sowie § 15 Abs. 1 und
Abs. 6 VTV-Gerüstbau ergibt, stellt der Verfahrenstarifvertrag grundsätzlich auf
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eine monatliche Beitragszahlung ab. Wie bei anderen Zahlungen, die nach Mo-
naten bemessen werden, muss der Kläger deshalb bestimmen, für welche Mo-
nate er Beiträge in welcher Höhe erstrebt. Sofern die Bruttolöhne für gewerbliche
Arbeitnehmer ausnahmsweise nicht monatlich abgerechnet werden und die Bei-
träge entsprechend für andere Abrechnungszeiträume gemeldet und gezahlt
werden müssen, ist die Beitragsklage nach den Abrechnungszeiträumen aufzu-
schlüsseln.
cc)
Der Kläger hat die Beiträge in den Klageschriften diesen Anforderungen
entsprechend nach Kalendermonaten aufgegliedert berechnet.
c)
Entgegen der Auffassung des Beklagten muss der Kläger die Arbeitneh-
mer, für die er Beiträge erstrebt, nicht namentlich benennen oder in anderer
Weise individualisieren, um den Streitgegenstand zu bestimmen.
aa)
Der Kläger macht für die einzelnen Monate jeweils einen einheitlichen
Beitragsanspruch für gewerbliche Arbeitnehmer geltend, der sich aus der jewei-
ligen Bruttolohnsumme ergibt. Die Bruttolohnsumme kann den Bruttolohn meh-
rerer gewerblicher Arbeitnehmer zusammenfassen. Die Bruttomonatslöhne ein-
zelner gewerblicher Arbeitnehmer stellen keine gesonderten Streitgegenstände
dar. Bei einem Beitragsanspruch für mehrere gewerbliche Arbeitnehmer, der sich
auf denselben Kalendermonat bezieht, handelt es sich um einen einheitlichen
Streitgegenstand. Der Beitrag errechnet sich nach § 14 Abs. 1 VTV-Gerüstbau
aus der Summe der Bruttolöhne aller von diesem Tarifvertrag erfassten Arbeit-
nehmer des Betriebs. Um den Streitgegenstand iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zu
bestimmen, ist, ausgehend von der materiellen Rechtslage, auf die Gesamt-
summe der Bruttomonatslöhne abzustellen. Ob die Gesamtsumme zutreffend
aus den Bruttomonatslöhnen einzelner Arbeitnehmer berechnet ist, ist keine
Frage der hinreichenden Bestimmtheit der Klage, sondern ihrer Begründetheit
.
bb)
Die Sozialkasse muss auch die Angestellten, für die sie Beiträge ver-
langt, nicht namentlich benennen oder in anderer Weise individualisieren, um den
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Streitgegenstand zu bestimmen. Die Beiträge für Angestellte richten sich allein
nach der Zahl der beschäftigten Angestellten und der Beschäftigungstage im Ka-
lendermonat, wobei im Regelfall von einem vollen Kalendermonat auszugehen
ist. Auf darüber hinausgehende individuelle Eigenschaften kommt es nicht an
.
cc)
Der Beklagte kann sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, bei einer
weiteren Beitragsklage sei ohne Aufschlüsselung der Beiträge nach bestimmten
Arbeitnehmern nicht klar, über welche Ansprüche bereits entschieden worden
sei.
(1)
Entschieden wird mit der jeweiligen Beitragsklage nur über Beiträge in
bestimmter Höhe für den nach Monaten bemessenen Abrechnungszeitraum. Die
Beiträge müssen dagegen nicht einzelnen Arbeitnehmern zugeordnet werden,
damit der Anspruch hinreichend bestimmt ist.
(2)
Bei Klagen auf Beiträge zu der Sozialkasse des Gerüstbaugewerbes
handelt es sich regelmäßig um offene oder verdeckte Teilklagen. Der Kläger ist
für die Berechnung der Beiträge in der Regel auf eigene Meldungen des Arbeit-
gebers oder auf Informationen durch Dritte - etwa die Bundesagentur für Arbeit
oder das Hauptzollamt - angewiesen, die fehlerhaft sein können. Er behält sich
daher regelmäßig vor, weitere Beiträge zu fordern, wenn er Kenntnis davon er-
langt, dass die tatsächlichen Beitragsansprüche höher sind als ursprünglich an-
genommen. Hat ein Kläger im vorangegangenen Prozess nur einen Teilanspruch
geltend gemacht, erfasst die Rechtskraft des Urteils lediglich diesen Teil des An-
spruchs und erstreckt sich nicht auf den nicht eingeklagten restlichen Anspruch.
Das gilt grundsätzlich auch, wenn der Kläger im Vorprozess eine sog. verdeckte
Teilklage verfolgt hat, ohne sich weiter gehende Ansprüche vorzubehalten
.
2.
Der Kläger konnte seine Beitragsklage in der Berufungsinstanz in zuläs-
siger Weise erstmals auf § 15 Abs. 1 iVm. der Anlage 46 SokaSiG2 und § 14
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Abs. 1 und Abs. 2 VTV-Gerüstbau stützen. Er hat damit keine neuen prozessua-
len Streitgegenstände in den Prozess eingeführt. Auch wenn er sich in erster
Instanz lediglich auf die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau ge-
stützt hat, leitet er den Klageanspruch aus ein und demselben Lebenssachverhalt
her. Er stützt ihn lediglich auf zwei konkurrierende Anspruchsgrundlagen
. Es handelt sich des-
halb nicht um eine an die gesetzliche Frist des § 524 Abs. 2 Satz 2 ZPO iVm.
§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG gebundene Anschlussberufung.
II.
Die Klage ist begründet. Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend er-
kannt hat, stehen dem Kläger die eingeklagten Beiträge aus § 15 Abs. 1 iVm. der
Anlage 46 SokaSiG2 zu. Die Beitragspflicht des Beklagten folgt aus § 1 Abs. 1,
Abs. 2 und Abs. 3 iVm. § 14 Abs. 1 und Abs. 2, § 15 Abs. 6 VTV-Gerüstbau.
1.
Der im Land Baden-Württemberg gelegene Betrieb des Beklagten unter-
fällt dem räumlichen Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau
. Die beim
Beklagten beschäftigten gewerblichen Arbeitnehmer und der beschäftigte Ange-
stellte werden vom persönlichen Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau erfasst
.
2.
Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, dass der betriebliche
Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau nach § 1 Abs. 2 Abschn. I Buchst. a eröff-
net ist.
a)
Ein Betrieb unterfällt nach § 1 Abs. 2 Abschn. I Buchst. a VTV-Gerüstbau
dem betrieblichen Geltungsbereich, wenn er nach seiner durch die Art der be-
trieblichen Tätigkeit geprägten Zweckbestimmung arbeitszeitlich überwiegend
mit eigenem oder fremdem Material gewerblich Gerüste erstellt oder Gerüstma-
terial bereitstellt
.
Auf wirtschaftliche Gesichtspunkte oder auf handels- oder gewerberechtliche Kri-
terien kommt es nicht an. Den Gerüstbauarbeiten sind diejenigen Nebenarbeiten
zuzuordnen, die zu ihrer sachgerechten Ausführung notwendig sind
.
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b)
Die Darlegungs- und Beweislast dafür, dass in einem Betrieb arbeitszeit-
lich überwiegend Gerüstbautätigkeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Gerüstbau
erbracht werden, obliegt dem Kläger. Sein Sachvortrag ist schlüssig, wenn er
Tatsachen vorbringt, die den Schluss zulassen, der Betrieb des Arbeitgebers
werde vom betrieblichen Geltungsbereich des VTV-Gerüstbau erfasst. Dazu ge-
hört neben der Darlegung von Arbeiten, die sich § 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Ge-
rüstbau zuordnen lassen, auch das Vorbringen, dass diese Tätigkeiten insge-
samt arbeitszeitlich überwiegen. Nicht erforderlich ist, dass der Kläger jede Ein-
zelheit der behaupteten Tätigkeiten vorträgt. Dem Arbeitgeber obliegt es, sich
nach § 138 Abs. 2 ZPO zu dem schlüssigen Tatsachenvortrag des Klägers zu
dem betrieblichen Geltungsbereich zu erklären. Regelmäßig trifft ihn die Last des
substantiierten Bestreitens, weil der Kläger außerhalb des Geschehensablaufs
steht und er keine nähere Kenntnis der maßgebenden Tatsachen hat, während
der Arbeitgeber sie kennt und ihm die entsprechenden Angaben zuzumuten sind.
Das substantiierte Bestreiten kann sich auf die Art und/oder den Umfang der ver-
sehenen Arbeiten beziehen. Um feststellen zu können, welche Tätigkeiten in wel-
chem Umfang ausgeübt wurden, muss der Arbeitgeber substantiiert bestreiten
und entsprechende Tatsachen vortragen. Dazu gehört, dass er die zeitlichen An-
teile der verschiedenen Tätigkeiten darlegt
.
c)
Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Landesarbeitsgericht mit zu-
treffender Begründung davon ausgegangen, dass im Betrieb des Beklagten ar-
beitszeitlich überwiegend Gerüstbauarbeiten iSv. § 1 Abs. 2 Abschn. I VTV-Ge-
rüstbau erbracht werden.
aa)
Der Kläger hat schlüssig behauptet, die gewerblichen Arbeitnehmer des
Beklagten hätten in den Jahren 2011 bis 2013 arbeitszeitlich überwiegend Ge-
rüstbauarbeiten verrichtet. Er hat vorgetragen, die Arbeitnehmer des Beklagten
fügten Gerüstteile zu einem fertigen Gerüst zusammen und bauten Gerüstkon-
struktionen wieder ab. Diese Tätigkeiten fallen unter „Gerüste erstellen“ iSv. § 1
Abs. 2 Abschn. I Buchst. a VTV-Gerüstbau. Das behauptete Auf- und Abladen
sowie Transportieren von Gerüstteilen vom Lagerplatz zu den Baustellen, das
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Verladen der Teile und der Rücktransport zum Lagerplatz, die Instandhaltung
und die Wartung der Gerüstteile sind ebenfalls dem Gerüstbau zuzurechnen.
Konkludent hat der Kläger damit auch zum Ausdruck gebracht, dass sich die Tä-
tigkeit des Angestellten auf den Gerüstbau bezogen hat.
bb)
Die Darlegungen des Beklagten zu Art und Umfang der im Betrieb ver-
sehenen Tätigkeiten stehen der Anwendung des VTV-Gerüstbau nicht entgegen.
(1)
Der Beklagte hat behauptet, in dem streitgegenständlichen Zeitraum von
2011 bis 2013 habe der Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit in den Bereichen
der Raumausstattung und hiermit verbundenen Nebentätigkeiten, des Garten-
baus und der Lagerverwaltung gelegen. Nur in zeitlich untergeordnetem Umfang
seien Tätigkeiten des Gerüstbaus angefallen.
(2)
Der Beklagte hat jedoch nicht ausreichend zwischen den Arbeitszeitan-
teilen für den Gerüstbau einerseits und den Arbeitszeitanteilen für die Bereiche
Gartenbau und Raumausstattung andererseits unterschieden. Insbesondere hat
der Beklagte versäumt, den zeitlichen Umfang der Lagerarbeiten konkret darzu-
legen, die sich nach seinem eigenen Vortrag zu etwa 50 % auf den Bereich des
Gerüstbaus bezogen.
(a)
Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht angenommen, dass Lagerarbei-
ten, die Gerüstmaterial betreffen, dem Bereich des Gerüstbauerhandwerks zu-
zuordnen sind. Das ergibt sich aus der Regelung in § 5 Nr. 3.2.8 RTV. Danach
sind Gerüstbau-Lagerarbeiter Arbeitnehmer, die im Gerüstbauerhandwerk, nicht
aber im Gerüstbau eingesetzt werden. Sie werden nicht bei der Gerüstmontage
oder -demontage eingesetzt, sondern transportieren und lagern Gerüst- und an-
dere Baumaterialien. Daran wird deutlich, dass das Lagern von Gerüstmaterial
dem Gerüstbauerhandwerk zuzuordnen ist.
(b)
Der Beklagte wird mit seinem Vortrag zu den Zeitanteilen der einzelnen
Arbeitnehmer für das Jahr 2011 seiner Einlassungspflicht nicht gerecht.
(aa)
Der Beklagte hat in Bezug auf den gewerblichen Arbeitnehmer G vorge-
tragen, er habe im Jahr 2011 insgesamt 1.331 Stunden ausschließlich in den
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Bereichen Lagerverwaltung, Gartenbau und Raumausstattung gearbeitet, ohne
die Verteilung weiter aufzuschlüsseln. Im Hinblick auf alle Arbeitnehmer hat der
Beklagte dargelegt, die Lagerverwaltung habe zu ungefähr 50 % den Bereich des
Gerüstbaus und zu ebenfalls etwa 50 % die Bereiche Raumausstattung und Gar-
tenbau betroffen. Sollte die Lagerverwaltung - was nach dem Vortrag des Be-
klagten möglich ist - den ganz überwiegenden Anteil der Arbeitszeit des Arbeit-
nehmers G ausgemacht haben, zählte knapp die Hälfte seiner Gesamtarbeitszeit
zu dem Bereich des Gerüstbauerhandwerks.
(bb)
Hinsichtlich des gewerblichen Arbeitnehmers I hat der Beklagte vorge-
tragen, er habe im Jahr 2011 1.901 Stunden gearbeitet. Davon seien 1.711 Stun-
den auf die Bereiche Lagerverwaltung, Gartenbau und Raumausstattung entfal-
len. Da der Beklagte nicht aufschlüsselt, wie sich diese 1.711 Stunden arbeits-
zeitlich auf die Tätigkeiten in den Bereichen Lagerverwaltung, Gartenbau und
Raumausstattung aufteilen, ist zu seinen Lasten davon auszugehen, dass die
Arbeiten ganz überwiegend zu der Lagerverwaltung gehörten. Diese ist nach
dem eigenen Vortrag des Beklagten mit der Hälfte der Arbeitszeit dem Gerüst-
baugewerbe zuzurechnen. Zusammen mit den 190 Stunden, die nach dem Vor-
bringen des Beklagten auf den Bereich Netztechnik entfielen, der zum Gerüstbau
gehört, kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Arbeitnehmer I überwie-
gend Tätigkeiten des Gerüstbauerhandwerks verrichtet hat.
(cc)
Der Arbeitnehmer S hat nach dem Vortrag des Beklagten 1.910 Stunden
im Bereich Gerüstbau und 212 Stunden im Lager- und Logistikbereich gearbeitet.
Damit hat er ganz überwiegend Gerüstbauarbeiten erbracht.
(dd)
Der geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer M war als Fahrer eingesetzt.
Für ihn ist nicht konkretisiert, auf welchen Geschäftsbereich sich diese Fahrtätig-
keit bezog. Auch nach dem Vorbringen des Beklagten ist nicht auszuschließen,
dass sie dem Bereich Gerüstbau zuzuordnen ist.
(ee)
Zusammengefasst kann für das Jahr 2011 nach dem Vortrag des Be-
klagten nur für den Arbeitnehmer G angenommen werden, dass er mit einem
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leicht überwiegenden Anteil seiner Arbeitszeit außerhalb des Gerüstbaus einge-
setzt war. Alle anderen gewerblichen Arbeitnehmer waren auch nach dem Be-
klagtenvorbringen möglicherweise arbeitszeitlich überwiegend oder ausschließ-
lich im Bereich des Gerüstbaus eingesetzt. Damit kann nach dem Vorbringen des
Beklagten nicht ausgeschlossen werden, dass dieser Bereich arbeitszeitlich
überwog.
(c)
In den Jahren 2012 und 2013 haben sich die Arbeitszeitanteile nach dem
Vortrag des Beklagten weiter in Richtung des Gerüstbaus verschoben. Auch für
diese Jahre ist demnach davon auszugehen, dass die Tätigkeiten im Bereich des
Gerüstbaus arbeitszeitlich überwogen.
3.
Die Höhe der Forderungen hat der Kläger schlüssig dargelegt. Der Be-
klagte hat sie nicht bestritten.
4.
Die in der Revisionsinstanz noch streitigen Beiträge für den Zeitraum von
Dezember 2011 bis Dezember 2013 sind weder verjährt noch verfallen.
a)
Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf die von ihm erhobene Einrede
der Verjährung berufen.
aa)
Wie das Landesarbeitsgericht zutreffend zugrunde gelegt hat, gilt für die
hier streitigen Beitragsansprüche mangels einer abweichenden tarifvertraglichen
Regelung die regelmäßige Verjährungsfrist von drei Jahren nach § 195 BGB. Die
Verjährungsfrist beginnt nach § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB frühestens mit dem
Schluss des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist. Regelmäßig entsteht
ein Anspruch iSv. § 199 Abs. 1 Nr. 1 BGB, wenn er nach § 271 BGB fällig ist
. Die Verjährungsfrist kann nicht zulasten des Berechtigten begin-
nen, solange er nicht in der Lage ist, den Anspruch geltend zu machen, indem er
Klage erhebt
.
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bb)
Die Beitragsansprüche sind nach § 15 Abs. 6 VTV-
Gerüstbau „bis zum
nächsten 15.
des Monats“ zu zahlen. Der älteste Beitragsanspruch für Dezember
2011 ist mit dem 15. Januar 2012 fällig geworden und entstanden iSv. § 199
Abs. 1 Nr. 1 BGB. Die Verjährungsfrist beginnt mit dem Schluss des Jahres 2012
und endet mit Ablauf des 31. Dezember 2015.
cc)
Die Verjährungsfrist für den Beitragsmonat Dezember 2011 ist durch eine
am 12. Dezember 2014 bei Gericht eingegangene und dem Beklagten am
24. Dezember 2014 zugestellte Beitragsklage nach § 204 Abs. 1 Nr. 1 BGB ge-
hemmt worden. Die Verjährungsfrist für die Beitragsmonate Januar 2012 bis
Dezember 2013 ist durch eine am 19. März 2015 eingegangene und am 2. April
2015 zugestellte Klage gehemmt worden.
dd)
Es kann dahinstehen, ob die Hemmung der Verjährung nach § 204
Abs. 2 Satz 2 und Satz 3 BGB in der bis zum 31. Oktober 2018 geltenden Fas-
sung
zwischenzeitlich geendet und neu begonnen hat, weil
der Rechtsstreit vom 8. März 2017 bis 20. Oktober 2017 geruht hat. Selbst in
diesem Fall wäre die Verjährungsfrist gewahrt.
b)
Durch die Erhebung der Beitragsklagen im Dezember 2014 und April
2015 ist auch die vierjährige Verfallfrist des § 18 VTV-Gerüstbau gewahrt.
5.
Die Beitragsansprüche des Klägers sind nicht ganz oder teilweise durch
Aufrechnung nach § 389 BGB erloschen.
a)
Der Beklagte ist nach § 14 Abs. 4 Satz 2 VTV-Gerüstbau nicht berech-
tigt, mit Erstattungsforderungen gegen bestehende Beitragsrückstände aufzu-
rechnen
.
b)
Im Übrigen fehlt eine hinreichend bestimmte Aufrechnungserklärung. Der
Beklagte hat die zur Aufrechnung gestellten möglichen Erstattungsansprüche
nicht beziffert. Eine Aufrechnung setzt jedoch voraus, dass klar ist, mit welcher
Forderung aufgerechnet wird. Für die Aufrechnung mit einer Gegenforderung gilt
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der Bestimmtheitsgrundsatz. Es muss feststellbar sein, welche der zur Aufrech-
nung gestellten Gegenansprüche in welcher Höhe erloschen sind
.
6.
Gegen die Geltungserstreckung des VTV-Gerüstbau auf den nicht origi-
när tarifgebundenen Beklagten durch § 15 Abs. 1 iVm. der Anlage 46 SokaSiG2
bestehen aus Sicht des Senats keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen
Bedenken
.
a)
§ 15 Abs. 1 SokaSiG2 ist mit Art. 9 Abs. 3 GG vereinbar
.
aa)
Der Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, das SokaSiG2
verstoße gegen Art. 9 Abs. 3 GG, weil es den frei gebildeten Koalitionen und nicht
dem Gesetzgeber zustehe, die Arbeitsbedingungen in eigener Verantwortung zu
gestalten. Die Tarifvertragsparteien hatten für den von § 15 Abs. 1 SokaSiG2 in
Bezug genommenen Verfahrenstarifvertrag einen Antrag auf Allgemeinverbind-
licherklärung gestellt. Beim Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung unterliegt
der Normgeber der Grundrechtsbindung
.
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10 AZR 322/18
ECLI:DE:BAG:2020:170620.U.10AZR322.18.0
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bb)
Ein etwaiger Eingriff in die Tarifautonomie ist jedenfalls gerechtfertigt. Die
Regelung des § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verfolgt einen legitimen Zweck. Sie dient
dazu, den Fortbestand des Sozialkassenverfahrens im Gerüstbauerhandwerk
und damit die Funktionsfähigkeit des Systems der Tarifautonomie zu sichern, in-
dem sie die Anwendung des VTV-Gerüstbau auf Nichtverbandsmitglieder aus-
dehnt. Darüber hinaus schafft das SokaSiG2 Bedingungen für einen fairen Wett-
bewerb. Das Gesetz ist geeignet, weil es jedenfalls förderlich ist, diese Ziele zu
erreichen. Es ist auch erforderlich. Die vom Gesetzgeber angestellten Erwägun-
gen sind - entgegen der Auffassung des Beklagten, der Sozialkassenverfahren
für nicht mehr sinnvoll hält - von seinem Einschätzungsspielraum gedeckt.
Schließlich sind die mit § 15 Abs. 1 SokaSiG2 verbundenen Belastungen zumut-
bar. Die bezweckte Sicherung des Sozialkassenverfahrens des Gerüstbauge-
werbes sowie die Herstellung von Bedingungen für einen fairen Wettbewerb ste-
hen im allgemeinen Interesse und stellen einen gewichtigen Belang im Rahmen
der durchzuführenden Abwägung dar. Demgegenüber wird die Tarifautonomie
der vom SokaSiG2 erfassten Arbeitgeber und Verbände allenfalls geringfügig be-
einträchtigt
.
cc)
Der Beklagte kann nicht mit seiner Ansicht durchdringen, das SokaSiG2
verletze die Freiheit einzelner Arbeitgeber, einer Vereinigung beizutreten oder
nicht beizutreten. Soweit die gesetzliche Geltungserstreckung des VTV-Gerüst-
bau einen mittelbaren Druck erzeugen sollte, um der größeren Einflussmöglich-
keit willen Mitglied einer der tarifvertragsschließenden Parteien zu werden, ist
dieser Druck jedenfalls nicht so erheblich, dass die negative Koalitionsfreiheit
verletzt würde
.
dd)
Der Beklagte beruft sich vergeblich darauf, die „Ersetzung“ der möglich-
erweise unwirksamen Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau durch
eine gesetzliche Regelung sei nicht vorhersehbar gewesen. Dem Gesetzgeber
steht die Wahl einer anderen Rechtsform als der in § 5 TVG geregelten Allge-
meinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines Tarifvertrags auf Außenseiter
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frei. Die Rechtsform ändert nichts an Inhalt und Ergebnis der Erwägungen zu der
Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen
.
ee)
Schließlich überzeugen die Bedenken des Beklagten nicht, dass ein kon-
kurrierender Tarifpartner mit einem spezielleren Tarifvertrag das SokaSiG2 nicht
verdrängen könne. Darin ist keine Verletzung von Art. 9 Abs. 3 GG zu erkennen.
Auch ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag
über eine gemeinsame Einrichtung ist einzuhalten, selbst wenn der Arbeitgeber
nach § 3 TVG an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist
. § 15 Abs. 1 SokaSiG2 wirkt nicht anders als ein nach § 5 Abs. 1a TVG für
allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag. Das SokaSiG2 dient ebenso wie die
Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags über eine gemeinsame Ein-
richtung nach § 5 Abs. 1a TVG dem Zweck, den gleichmäßigen Beitragseinzug
zu sichern. Das rechtfertigt es, einen Ausschluss von der Beitragspflicht durch
speziellere Tarifverträge zu verhindern.
b)
§ 15 Abs. 1 SokaSiG2 verstößt nicht gegen Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und
Abs. 3 GG. Der Gesetzgeber hat lediglich eine möglicherweise aus formellen
Gründen unwirksame Erstreckung der Normwirkung der Verfahrenstarifverträge
um eine wirksame - gesetzliche - Erstreckungsanordnung ergänzt, um auf diese
Weise den möglichen Folgen der Beschlüsse des Senats vom 21. September
2016 für die Bauwirtschaft
auch für andere Branchen vorzubeugen
.
c)
§ 15 Abs. 1 SokaSiG2 verletzt nicht das durch Art. 2 Abs. 1 iVm. Art. 20
Abs. 3 GG geschützte Vertrauen tariffreier Arbeitgeber, von rückwirkenden Ge-
setzen nicht in unzulässiger Weise belastet zu werden
.
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aa)
Das grundsätzliche Verbot rückwirkender belastender Gesetze beruht
auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes. Es schützt
das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung
des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage
erworbenen Rechte
. Normen mit echter Rückwirkung („Rückbewirkung von
Rechtsfolgen“) sind grundsätzlich verfassungsrechtlich unzulässig, sofern eine
Durchbrechung dieses Verbots nicht ausnahmsweise durch zwingende Belange
des Gemeinwohls oder ein nicht - oder nicht mehr - vorhandenes schutzbedürfti-
ges Vertrauen des Einzelnen gestattet wird
.
bb)
Die in § 15 Abs. 1 SokaSiG2 angeordnete echte Rückwirkung begegnet
keinen durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Bei den nicht originär
tarifgebundenen Arbeitgebern konnte sich kein hinreichend gefestigtes und damit
schutzwürdiges Vertrauen darauf bilden, von Beitragszahlungen verschont zu
bleiben oder Beiträge erstattet zu bekommen.
(1)
Bis zum 20. September 2016 bestand keine Grundlage für ein Vertrauen
auf die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau.
Die Arbeitgeber mussten vielmehr vom Gegenteil ausgehen und ihre wirtschaft-
lichen Dispositionen auf die vollständige Erfüllung der in den verschiedenen Ver-
fahrenstarifverträgen geregelten Pflichten einrichten. Das gilt für den unmittelbar
von den Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016
betroffenen Bereich der Bau-
wirtschaft
. Ebenso wenig konnte sich bis zu diesem Zeitpunkt im Bereich des Gerüst-
baugewerbes ein Vertrauen darauf bilden, die Allgemeinverbindlicherklärung des
VTV-Gerüstbau sei unwirksam
.
(2)
Die nicht verbandszugehörigen Arbeitgeber des Gerüstbaugewerbes
konnten auch nach den Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016
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nicht da-
rauf vertrauen, nicht mehr zu Beiträgen zum Sozialkassenverfahren herangezo-
gen zu werden oder bereits geleistete Zahlungen zurückerstattet zu erhalten.
Aufgrund der Entscheidungen des Senats vom 21. September 2016 stand nicht
fest, dass auch die Allgemeinverbindlicherklärung des VTV-Gerüstbau in einem
Verfahren nach § 98 ArbGG für unwirksam erklärt werden würde
.
B.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Gallner
Brune
Pulz
Rudolph
Salzburger
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