Urteil des BAG vom 15.07.2020

Nachtarbeitszuschläge nach § 6 Abs. 5 ArbZG

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 15. Juli 2020
Zehnter Senat
- 10 AZR 123/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:150720.U.10AZR123.19.0
I. Arbeitsgericht Freiburg
Urteil vom 13. Juni 2018
- 1 Ca 492/17 -
II. Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
- Kammern Freiburg -
Urteil vom 11. Januar 2019
- 9 Sa 58/18 -
Entscheidungsstichwort:
Nachtarbeitszuschläge nach § 6 Abs. 5 ArbZG
Leitsatz:
Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG machen keine Vorgaben für die
Höhe des als angemessen anzusehenden Nachtarbeitszuschlags nach § 6
Abs. 5 ArbZG. Konkrete Vorgaben zu der Höhe einer Entschädigung in
Geld oder eines finanziellen Ausgleichs für Nachtarbeiter ergeben sich
auch nicht aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG
iVm. Art. 3 Abs. 1 und Art. 8 des Übereinkommens 171 (1990) der Interna-
tionalen Arbeitsorganisation über Nachtarbeit.
Hinweis des Senats:
Führende Entscheidung zu weiteren (teilweisen) Parallelsachen
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BUNDESARBEITSGERICHT
10 AZR 123/19
9 Sa 58/18
Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
15. Juli 2020
URTEIL
Jatz, Urkundsbeamtin
der Geschäftsstelle
In Sachen
Klägerin, Berufungsbeklagte, Revisionsklägerin und Revisionsbeklagte,
pp.
Beklagte, Berufungsklägerin, Revisionsbeklagte und Revisionsklägerin,
hat der Zehnte Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der mündlichen Ver-
handlung vom 15. Juli 2020 durch die Vorsitzende Richterin am Bundesarbeits-
gericht Gallner, die Richter am Bundesarbeitsgericht Dr. Pulz und Pessinger
sowie den ehrenamtlichen Richter Schurkus und die ehrenamtliche Richterin
Scheck für Recht erkannt:
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10 AZR 123/19
ECLI:DE:BAG:2020:150720.U.10AZR123.19.0
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1. Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten gegen
das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württem-
berg - Kammern Freiburg - vom 11. Januar 2019 - 9 Sa
58/18 - werden zurückgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin
74 % und die Beklagte 26 % zu tragen. Hiervon ausge-
nommen sind die durch die Säumnis der Beklagten ver-
anlassten Kosten, die die Beklagte zu tragen hat.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten über Zuschläge für Nachtarbeit.
Die nicht tarifgebundene Beklagte betreibt eine Seniorenresidenz in Frei-
burg im Breisgau, in der die Klägerin als Altenpflegerin arbeitet. Die Klägerin wird
als Dauernachtwache zwischen 20:00 Uhr und 06:00 Uhr eingesetzt. Die Belas-
tung der Klägerin entspricht der Normalbelastung einer Nachtarbeitnehmerin. Die
Beklagte ist verpflichtet, eine bestimmte Zahl von Beschäftigten, darunter auch
Pflegefachkräfte, im Nachtdienst einzusetzen. Diese Verpflichtung ergibt sich aus
§ 10 Abs. 1 der baden-württembergischen Verordnung des Sozialministeriums
über personelle Anforderungen für stationäre Einrichtungen (Landespersonalver-
ordnung - LPersVO) vom 7. Dezember 2015
iVm. § 10 Abs. 3
Nr. 4 Satz 1 Halbs. 3 des baden-württembergischen Gesetzes für unterstützende
Wohnformen, Teilhabe und Pflege (Wohn-, Teilhabe- und Pflegegesetz - WTPG)
vom 20. Mai 2014
.
Für den streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 15. Juni
2017 zahlte die Beklagte an die Klägerin Nachtarbeitszuschläge für 959,4 Stun-
den iHv. 1.779,68 Euro auf der Grundlage von 15 % des Bruttostundenentgelts,
das 12,37 Euro betrug.
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Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, ihr stehe ein Nachtarbeitszu-
schlag iHv. insgesamt 30 % zu. Für Nachtarbeit sei regelmäßig ein Zuschlag von
25 % angemessen, bei Dauernachtarbeit von 30 %. Der Umstand, dass die Tä-
tigkeit zwingend nachts ausgeführt werden müsse, könne nicht dazu führen, dass
der Nachtarbeitszuschlag geringer ausfalle. Die gesundheitlichen Belastungen
durch die Nachtarbeit bestünden unabhängig davon, ob die Nachtarbeit vermeid-
bar oder unvermeidbar sei. In jedem Fall sei eine Beschäftigung in Dauernacht-
arbeit vermeidbar. Eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 6 Abs. 5 ArbZG
stehe einem niedrigeren Nachtarbeitszuschlag entgegen. Daneben habe sie An-
spruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB iHv. 520,00 Euro.
Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
1.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 1.779,68 Euro
brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über
dem Basiszinssatz der EZB hieraus seit Klagezustel-
lung zu zahlen;
2.
die Beklagte zu verurteilen, an sie 520,00 Euro zu
zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat gemeint, die
Klägerin habe nur Anspruch auf Nachtarbeitszuschläge iHv. 15 % des
Bruttostundenentgelts. Als Betreiberin einer stationären Altenpflegeeinrichtung
sei sie verpflichtet, in einem bestimmten Umfang Pflegefachkräfte auch nachts
einzusetzen. Deswegen könne der mit Nachtarbeitszuschlägen nach § 6 Abs. 5
ArbZG verfolgte Zweck, Nachtarbeit zu verteuern und dadurch möglichst zu ver-
meiden („Lenkungszweck“), nicht erreicht werden. Dieser Umstand sei mit einem
Abschlag von mindestens 15 Prozentpunkten anzusetzen. Der daneben be-
zweckte Ausgleich für mit Nachtarbeit verbundene Belastungen („Ausgleichs-
zweck“) sei mit zehn Prozentpunkten zu gewichten. Der Umstand, dass die Klä-
gerin Dauernachtarbeit leiste, sei mit einem Aufschlag von fünf Prozentpunkten
zu berücksichtigen.
Das Arbeitsgericht hat der Klage mit Versäumnisurteil stattgegeben und
das Urteil auf den Einspruch der Beklagten aufrechterhalten. Auf die Berufung
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der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts teil-
weise abgeändert, das Versäumnisurteil teilweise aufgehoben und der Klägerin
lediglich weitere Nachtarbeitszuschläge iHv. 5 % des Bruttostundenentgelts und
damit 593,88 Euro brutto nebst Zinsen zugesprochen. Im Übrigen hat das Lan-
desarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht ist demnach
einschließlich der gezahlten Beträge von Ansprüchen auf Nachtarbeitszuschläge
iHv. insgesamt 20 % des Bruttostundenentgelts ausgegangen. Mit den vom Lan-
desarbeitsgericht für beide Parteien zugelassenen Revisionen begehrt die Klä-
gerin, dass die erstinstanzliche Entscheidung in vollem Umfang wiederhergestellt
wird, und die Beklagte, dass die Klage vollständig abgewiesen wird.
Entscheidungsgründe
Die Revisionen sind zulässig, aber unbegründet. Das Landesarbeitsge-
richt hat das Urteil des Arbeitsgerichts in revisionsrechtlich nicht zu beanstanden-
der Weise abgeändert.
A.
Die Revisionen sind zulässig.
I.
Nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 1 ZPO muss der Revisionsklä-
ger die Revision begründen. Die Begründung muss nach § 551 Abs. 3 Satz 1
Nr. 2 Buchst. a ZPO diejenigen Umstände bezeichnen, aus denen sich die
Rechtsverletzung ergeben soll. Dies erfordert die konkrete Darlegung der
Gründe, aus denen das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft sein soll. Die Revi-
sionsbegründung muss den angenommenen Rechtsfehler des Landesarbeitsge-
richts dabei in einer Weise aufzeigen, dass Gegenstand und Richtung des Revi-
sionsangriffs erkennbar sind. Die Revisionsbegründung hat sich deshalb mit den
tragenden Gründen des Berufungsurteils auseinanderzusetzen. Dadurch soll si-
chergestellt werden, dass der Revisionsführer das angefochtene Urteil im Hin-
blick auf das Rechtsmittel überprüft und mit Blickrichtung auf die Rechtslage
durchdenkt. Außerdem soll die Revisionsbegründung durch die Kritik des ange-
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fochtenen Urteils zur richtigen Rechtsfindung durch das Revisionsgericht beitra-
gen
.
II.
Diesen Anforderungen genügen die Revisionsbegründungen der Par-
teien. Sie haben sich hinreichend mit den Entscheidungsgründen des Berufungs-
gerichts auseinandergesetzt.
1.
Im Hinblick auf die Nachtarbeitszuschläge haben die Parteien aufgezeigt,
aus welchen Gründen die vom Berufungsgericht als angemessen angesehene
Höhe der Nachtarbeitszuschläge aus ihrer jeweiligen Sicht als zu hoch oder zu
niedrig anzusehen ist.
2.
Die Revision der Klägerin ist auch zulässig, soweit sie sich dagegen wen-
det, dass das Landesarbeitsgericht keine Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1
BGB zugesprochen hat.
a)
Bei den geltend gemachten Ansprüchen aus § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB
handelt es sich um eigene Streitgegenstände, die neben den begehrten Nacht-
arbeitszuschlägen stehen
. Werden mehrere selbständige prozessuale Ansprüche zu- oder ab-
erkannt, muss das Rechtsmittel grundsätzlich hinsichtlich jedes Anspruchs, über
den zulasten des Rechtsmittelführers entschieden worden ist, begründet werden
.
b)
Die Klägerin hat sich in der Revisionsbegründung nicht mit der Begrün-
dung des Landesarbeitsgerichts auseinandergesetzt, aus welchen Gründen ein
Anspruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB materiell nicht bestehe.
Sie hat lediglich gerügt, dass die Berufung der Beklagten gegen das der Klage
stattgebende Urteil des Arbeitsgerichts im Hinblick auf die Pauschalen nach
§ 288 Abs. 5 Satz 1 BGB nicht hinreichend begründet und deshalb insoweit un-
zulässig gewesen sei. Das genügt, um die Revision auch in Bezug auf die Pau-
schalen hinreichend nach § 72 Abs. 5 ArbGG iVm. § 551 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO
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zu begründen. Ob die Berufung in diesem Punkt tatsächlich unzulässig war, ist
eine Frage der Begründetheit der Revision.
aa)
Die Zulässigkeit der Berufung ist eine von Amts wegen zu prüfende Pro-
zessfortsetzungsvoraussetzung
. Sofern das
Berufungsgericht übersieht, dass die Berufung bereits unzulässig ist, handelt es
sich um einen von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel
.
bb)
Aus dem Wortlaut von § 551 Abs. 1 und Abs. 3 ZPO ergeben sich keine
Anhaltspunkte dafür, dass die Rüge eines von Amts wegen zu berücksichtigen-
den Verfahrensmangels nicht genügen sollte, um die Revision ausreichend zu
begründen.
cc)
Der Sinn und Zweck von § 551 ZPO verdeutlicht, dass es ausreicht,
wenn der Revisionsführer rügt, die Berufung des Gegners sei bezüglich eines
Streitgegenstands unzulässig gewesen, um die Revision hinreichend zu begrün-
den. Zweck der gesetzlichen Regelungen des § 551 ZPO ist es, formale und nicht
auf den konkreten Streitfall bezogene Revisionsbegründungen auszuschließen,
um dadurch auf eine Zusammenfassung und Beschleunigung des Verfahrens in
der Revisionsinstanz hinzuwirken. Gericht und Gegner sollen allein aus der Re-
visionsbegründung erkennen können, welche Gesichtspunkte der Revisionsklä-
ger seiner Rechtsverfolgung oder -verteidigung zugrunde legen, insbesondere
welche tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen des angegriffenen Urteils er
bekämpfen und auf welche Gründe er sich hierfür stützen will
. Diesem Zweck genügt die Rüge im Revisionsverfahren, die Berufung sei
hinsichtlich eines Streitgegenstands mangels ausreichender Begründung unzu-
lässig gewesen.
dd)
Es kann dahinstehen, ob die Rüge der unzulässigen Berufung die gestei-
gerten Anforderungen an eine Verfahrensrüge iSv. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2
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Buchst. b ZPO erfüllen muss, wenn keine anderen Rechtsmittelrügen erhoben
werden. Im zu entscheidenden Fall erfüllt die Revisionsbegründung die Anforde-
rungen an eine Verfahrensrüge iSv. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b ZPO.
Danach müssen Verfahrensrügen die Bezeichnung der Tatsachen enthalten, die
den Mangel ergeben, auf den sich die Revision stützen will. Auch die Kausalität
zwischen Verfahrensmangel und Ergebnis des Berufungsurteils muss dargelegt
werden
. Die Revisionsbegründung der Klägerin be-
zeichnet die Tatsachen konkret, aus denen sich der Mangel ergeben soll. In ihr
ist ausgeführt, dass sich die Berufungsbegründung der Beklagten mit dem An-
spruch auf Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB nicht auseinandergesetzt
habe. Die Kausalität zwischen dem angenommenen Verfahrensmangel und dem
Ergebnis des Berufungsurteils wird ebenfalls aufgezeigt. Die Klägerin nimmt an,
dass die Berufung bei zutreffender Rechtsanwendung als unzulässig zu verwer-
fen gewesen wäre.
B.
Die Revisionen der Klägerin und der Beklagten sind unbegründet.
I.
Die als Prozessfortsetzungsvoraussetzung erforderliche Zulässigkeit der
Berufung der Beklagten ist gegeben
. Die Beklagte hat sich in ihrer Berufungsbegründung hinrei-
chend iSv. § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO mit
den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils auseinandergesetzt
. Im Hinblick auf die
Verurteilung zu der Zahlung von Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB iHv.
520,00 Euro gilt nichts anderes. Zwar finden sich dazu keine Ausführungen in der
Berufungsbegründung. Eine eigenständige Begründung der Berufung ist jedoch
entbehrlich, wenn mit der Begründung der Berufung über den einen Streitgegen-
stand zugleich dargelegt ist, dass die Entscheidung über den anderen unrichtig
ist
. Das ist der Fall, wenn die Begrün-
detheit des einen Anspruchs denknotwendig von der des anderen abhängt
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. Es genügt daher, dass sich die Be-
klagte in der Berufungsbegründung ausreichend mit den Ausführungen des Ar-
beitsgerichts zu dem Anspruch der Klägerin auf höhere Nachtarbeitszuschläge
auseinandergesetzt hat. Die Berufung ist damit auch in Bezug auf die von den
Nachtarbeitszuschlägen abhängigen Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB
zulässig.
II.
Die Beklagte hat zulässigerweise gegen das ihr am 6. Februar 2018 zu-
gestellte Versäumnisurteil vom 24. Januar 2018 Einspruch eingelegt. Die Zuläs-
sigkeit des Einspruchs ist eine von Amts wegen zu prüfende Prozessvorausset-
zung, von der das gesamte weitere Verfahren nach Einlegung des Einspruchs
abhängt. Sie ist in allen Instanzen von Amts wegen zu prüfen, weil das rechts-
kräftige Versäumnisurteil dem weiteren Verfahren entgegensteht
. Die Beklagte hat mit ihrer am 12. Februar
2018 beim Arbeitsgericht eingegangenen Einspruchsschrift die nach § 59 Satz 1
ArbGG geltende Wochenfrist gewahrt.
III.
Die Klage ist zulässig. Sie ist auch hinsichtlich der Pauschalen nach
§ 288 Abs. 5 Satz 1 BGB hinreichend bestimmt iSv. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Al-
lerdings erstrebt die Klägerin höhere Nachtarbeitszuschläge für insgesamt
14 Monate vom 1. Mai 2016 bis 15. Juni 2017, jedoch nur Pauschalen iHv.
520,00 Euro. Das entspricht 13 Pauschalen von jeweils 40,00 Euro. Die Klägerin
hat den Zeitraum, für den diese 13 Pauschalen verlangt werden, ursprünglich
nicht eingegrenzt. Damit war die Klage zunächst nicht hinreichend bestimmt iSv.
§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. In der Revisionsverhandlung hat die Klägerin jedoch
klargestellt, dass sie Pauschalen für den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 31. Mai
2017, also für 13 Monate, geltend macht. Eine solche Klarstellung ist auch noch
in der Revisionsinstanz möglich
.
IV.
Die Klage ist teilweise begründet.
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1.
Die Klägerin hat Anspruch auf weitere Nachtarbeitszuschläge nach § 6
Abs. 5 ArbZG iHv. 593,88 Euro brutto. Das Landesarbeitsgericht hat in revisions-
rechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass die Klägerin insge-
samt Anspruch auf Nachtarbeitszuschläge iHv. 20 % ihres Bruttostundenentgelts
hat.
a)
Nach § 6 Abs. 5 ArbZG ist der Arbeitgeber, soweit eine tarifvertragliche
Ausgleichsregelung nicht besteht, verpflichtet, dem Nachtarbeitnehmer
für die während der Nachtzeit
geleisteten Ar-
beitsstunden eine angemessene Zahl bezahlter freier Tage oder einen angemes-
senen Zuschlag auf das ihm hierfür zustehende Bruttoarbeitsentgelt zu gewäh-
ren. Der Arbeitgeber kann wählen, ob er den Ausgleichsanspruch durch Zahlung
von Geld, durch bezahlte Freistellung oder durch eine Kombination von beidem
erfüllt. Die gesetzlich begründete Wahlschuld
konkretisiert sich auf
eine der geschuldeten Leistungen erst dann, wenn der Schuldner das ihm zu-
stehende Wahlrecht nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ausübt
.
aa)
Nach gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen ist Nachtar-
beit grundsätzlich für jeden Menschen schädlich und hat negative gesundheitli-
che Auswirkungen
.
Es ist anerkannt, dass Nachtarbeit umso schädlicher ist, in je größerem Umfang
sie geleistet wird
.
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bb)
Die Regelungen in § 6 ArbZG sollen in erster Linie dem Schutz des Ar-
beitnehmers vor den schädlichen Folgen der Nacht- und Schichtarbeit dienen
. § 6 Abs. 5 ArbZG soll für Nachtarbeitnehmer ei-
nen angemessenen Ausgleich für die mit der Nachtarbeit verbundenen Beein-
trächtigungen gewähren, ohne dass der Gesetzgeber Vorgaben zum Umfang
des Ausgleichs macht
. Soweit § 6 Abs. 5 ArbZG einen
Anspruch auf bezahlten Freizeitausgleich begründet, tritt eine gesundheitsschüt-
zende Wirkung jedenfalls in den Fällen ein, in denen sich die Dauer der zu er-
bringenden Arbeitszeit für den Arbeitnehmer durch den bezahlten Freizeitaus-
gleich insgesamt verringert und er zeitnah gewährt wird. Soweit ein Nachtarbeits-
zuschlag vorgesehen ist, wirkt er sich auf die Gesundheit des betroffenen Arbeit-
nehmers nicht aus. Die individuelle gesundheitliche Beeinträchtigung wird viel-
mehr kommerzialisiert
. Die Arbeits-
leistung des Arbeitnehmers wird verteuert, um auf diesem Weg allgemein Nacht-
arbeit einzudämmen. Nachtarbeit soll für den Arbeitgeber weniger attraktiv sein.
Außerdem soll der Nachtarbeitszuschlag den Arbeitnehmer in einem gewissen
Umfang für die erschwerte Teilhabe am sozialen Leben entschädigen
.
cc)
Zwischen den Alternativen des Belastungsausgleichs besteht nach der
gesetzlichen Regelung kein Rangverhältnis, vor allem kein Vorrang des Freizeit-
ausgleichs
. Die Angemessenheit iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG ist für beide Alternativen nach
einem einheitlichen Maßstab zu beurteilen. Der Umfang der Ausgleichsverpflich-
tung hängt nicht davon ab, für welche Art des Ausgleichs sich der Arbeitgeber
entscheidet. Vielmehr müssen sich die jeweiligen Leistungen nach ihrem Wert
grundsätzlich entsprechen
.
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dd)
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stellt
ein Zuschlag iHv. 25 % auf das jeweilige Bruttostundenentgelt bzw. die Gewäh-
rung einer entsprechenden Zahl von bezahlten freien Tagen regelmäßig einen
angemessenen Ausgleich für geleistete Nachtarbeit iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG dar
.
(1)
Eine Erhöhung oder Verminderung des Regelwerts kommt in Betracht,
wenn die Umstände, unter denen die Arbeitsleistung zu erbringen ist, den regel-
mäßig angemessenen Wert von 25 % wegen der im Vergleich zum Üblichen hö-
heren oder niedrigeren Belastung als zu gering oder zu hoch erscheinen lassen.
Die Höhe des angemessenen Nachtarbeitszuschlags richtet sich nach der Ge-
genleistung, für die sie bestimmt ist
.
(2)
Der Zuschlag auf das Bruttoentgelt oder die Zahl bezahlter freier Tage
kann sich erhöhen, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit unter qualitativen
(Art der Tätigkeit) oder quantitativen (Umfang der Nachtarbeit) Gesichtspunkten
die gewöhnlich mit der Nachtarbeit verbundene Belastung übersteigt. Das ist re-
gelmäßig der Fall, wenn ein Arbeitnehmer nach seinem Arbeitsvertrag oder nach
Ausübung des Direktionsrechts durch den Arbeitgeber dauerhaft in Nachtarbeit
tätig wird („Dauernachtarbeit“). Bei einer Arbeitsleistung in Dauernachtarbeit er-
höht sich der Anspruch in der Regel auf 30 %
.
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(3)
Ein geringerer als der regelmäßige Zuschlag von 25 % auf das dem Ar-
beitnehmer zustehende Bruttoarbeitsentgelt kann nach § 6 Abs. 5 ArbZG genü-
gen, wenn die Belastung durch die Nachtarbeit im Vergleich zu der üblichen Si-
tuation geringer ist. Der nächtliche Bereitschaftsdienst zB ist auch in seinen in-
aktiven Teilen arbeitszeitrechtlich Arbeitszeit und keine Ruhezeit
. Bereitschaftsdienste sind nach § 6 Abs. 5 ArbZG aus-
gleichspflichtig
. Ein geringerer Zuschlag als 25 %
des Bruttoarbeitsentgelts kann wegen des Charakters des Zuschlags als Entgelt-
bestandteil und finanzieller Ausgleich jedoch angemessen sein. Während des
nächtlichen Bereitschaftsdienstes ist typischerweise davon auszugehen, dass es
zu inaktiven Zeiten der Entspannung und einer geringeren Arbeitsbelastung
kommt
. Das Unionsrecht steht dem nicht entgegen. Die
Mitgliedstaaten sind nicht verpflichtet, Entgeltansprüche entsprechend den Defi-
nitionen der Begriffe der Arbeitszeit und der Ruhezeit in Art. 2 der Richtlinie
2003/88/EG zu begründen
.
(4)
Nach der Art der Arbeitsleistung ist auch zu beurteilen, ob der vom Ge-
setzgeber mit dem Entgeltzuschlag verfolgte Zweck, im Interesse der Gesundheit
des Arbeitnehmers Nachtarbeit zu verteuern und auf diesem Weg einzuschrän-
ken, zum Tragen kommen oder nur die mit der Nachtarbeit verbundene Er-
schwernis ausgeglichen werden kann
. Eine
Verringerung des Zuschlags mit der Begründung, dass Nachtarbeit unvermeid-
bar ist, kommt nur in Fällen in Betracht, in denen die Nachtarbeit aus zwingenden
technischen Gründen oder aus zwingend mit der Art der Tätigkeit verbundenen
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Gründen bei wertender Betrachtung vor dem Hintergrund des Schutzzwecks des
§ 6 Abs. 5 ArbZG unvermeidbar ist
. Zuletzt ist in der Rechtspre-
chung des Bundesarbeitsgerichts einschränkend angenommen worden, dass ein
„Abweichen nach unten“ nur dann in Betracht kommt, wenn - wie etwa im Ret-
tungswesen - überragende Gründe des Gemeinwohls die Nachtarbeit zwingend
erfordern
.
b)
Die Bewertung eines Nachtarbeitszuschlags iHv. 20 % als angemessen
iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG durch das Landesarbeitsgericht hält der revisionsrechtli-
chen Überprüfung stand.
aa)
Bei dem Merkmal „angemessen“ handelt es sich um einen unbestimmten
Rechtsbegriff, bei dessen Anwendung dem Tatsachengericht ein Beurteilungs-
spielraum zukommt. Er ist vom Revisionsgericht nur darauf zu überprüfen, ob
das Berufungsgericht den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Unter-
ordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnorm Denkgesetze oder allgemeine
Erfahrungssätze verletzt hat, ob es alle wesentlichen Umstände berücksichtigt
hat und ob das Urteil in sich widerspruchsfrei ist
. Aufgrund des Beurteilungsspielraums ist es möglich, dass ver-
schiedene Landesarbeitsgerichte oder verschiedene Kammern eines Landesar-
beitsgerichts bei vergleichbaren Sachverhalten in revisionsrechtlich nicht zu be-
anstandender Weise unterschiedliche Zuschlagshöhen als angemessen iSv. § 6
Abs. 5 ArbZG ansehen. Feste höchstrichterliche Werte über Richtwerte hinaus
lässt der tatrichterliche Beurteilungsspielraum nicht zu.
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bb)
Das Landesarbeitsgericht geht von dem richtigen Begriff der Angemes-
senheit iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG aus. Es legt seiner Entscheidung die Rechtspre-
chung des Bundesarbeitsgerichts zugrunde, nach der ein Nachtarbeitszuschlag
iHv. 25 % regelmäßig angemessen ist. Anschließend modifiziert es die Höhe des
als angemessen anzusehenden Zuschlags und berücksichtigt dabei in seiner wi-
derspruchsfreien Begründung sämtliche wesentlichen Umstände des Falls.
(1)
Das Landesarbeitsgericht würdigt zutreffend den Umstand, dass die Klä-
gerin in Dauernachtarbeit eingesetzt wird. Es erhöht den regelmäßig als ange-
messen iSv. § 6 Abs. 5 ArbZG anzusehenden Zuschlag von 25 % aus diesem
Grund um fünf Prozentpunkte. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundes-
arbeitsgerichts
.
(2)
Andererseits nimmt das Landesarbeitsgericht einen Abzug von dem
Nachtarbeitszuschlag iHv. zehn Prozentpunkten aufgrund des Umstands vor,
dass Nachtarbeit in der von der Beklagten betriebenen Seniorenresidenz unver-
meidbar ist. Ein gegenüber dem Regelwert reduzierter Zuschlag kann jedenfalls
dann ausreichend sein, wenn überragende Gründe des Gemeinwohls die Nacht-
arbeit zwingend erfordern
. Auch ein deutlicher Abschlag iHv. zehn Prozentpunkten hält
sich noch im Rahmen des dem Landesarbeitsgericht zukommenden Beurtei-
lungsspielraums.
(a)
Der mit dem Nachtarbeitszuschlag verfolgte Lenkungszweck, Nachtar-
beit zu verteuern, um sie auf diese Weise möglichst einzuschränken, kann im zu
entscheidenden Fall nicht erreicht werden. Die Beklagte betreibt eine stationäre
Einrichtung iSv. § 3 WTPG. Nach § 10 Abs. 3 Nr. 4 Satz 1 Halbs. 3 WTPG, §§ 1,
10 Abs. 1 LPersVO müssen in stationären Einrichtungen nach § 3 WTPG im
Nachtdienst ständig mindestens eine Pflegefachkraft und mindestens pro 45 Be-
wohnerinnen und Bewohner je eine Beschäftigte oder ein Beschäftigter einge-
setzt werden. Der Träger einer stationären Einrichtung hat nach § 2 Abs. 1
LPersVO ua. durch seine Beschäftigten sicherzustellen, dass der Zweck des
WTPG gewahrt wird. Der Zweck des WTPG liegt ua. darin, die Würde, die
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Privatheit, die Interessen und Bedürfnisse volljähriger Menschen mit Pflege- und
Unterstützungsbedarf oder volljähriger Menschen mit Behinderungen als Bewoh-
ner stationärer Einrichtungen vor Beeinträchtigungen zu schützen
. Neben weiteren von diesem Gesetz verfolgten Zwecken ist eine
dem allgemein anerkannten Stand der fachlichen Erkenntnisse entsprechende
Qualität der Pflege und Betreuung zu sichern und eine angemessene Lebensge-
staltung zu ermöglichen
. Die Besetzungsregeln des
§ 10 Abs. 1 LPersVO für Zeiten der Nachtdienste dienen dazu, diese Gesetzes-
zwecke zu erreichen. Sie sollen vor allem die Würde der dort wohnenden Men-
schen wahren und die Qualität der Pflege sichern. Die nächtliche Mindestbeset-
zung ist daher, wie das Landesarbeitsgericht zutreffend aufgezeigt hat, aus über-
ragenden Gründen des Gemeinwohls erforderlich. Der Ausgangspunkt des Lan-
desarbeitsgerichts, dass die Klägerin in Dauernachtschicht eingesetzt worden ist,
um die Mindestbesetzung im Nachtdienst zu gewährleisten, wird von der Klägerin
nicht mit Revisionsrügen angegriffen.
(b)
Die Klägerin kann nicht mit Erfolg geltend machen, ein Abschlag von
zehn Prozentpunkten wegen der Unvermeidbarkeit der Nachtarbeit sei mit der
Schutzpflicht des Staats für das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG nicht zu vereinbaren.
(aa)
Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber in seiner Grund-
satzentscheidung zu der Unvereinbarkeit des Nachtarbeitsverbots für Arbeiterin-
nen mit Art. 3 Abs.1 und Abs. 3 GG aufgegeben, den Schutz der Arbeitnehmer
vor den schädlichen Folgen der Nachtarbeit neu zu regeln. Eine solche Regelung
war notwendig, um die Schutzpflicht des Staats für das Recht auf körperliche
Unversehrtheit zu erfüllen
. Gleichzeitig dienen die Regelungen des
§ 6 ArbZG dazu, die Richtlinie 2003/88/EG umzusetzen
.
(bb)
Die Schutzpflicht des Staats für das Grundrecht auf körperliche Unver-
sehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG steht nicht der Annahme entgegen, dass
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die Unvermeidbarkeit der Nachtarbeit mit einem Abschlag von zehn Prozent-
punkten berücksichtigt werden kann. Nach dem gesetzgeberischen Schutzkon-
zept für Nachtarbeitnehmer dienen das Erfordernis, die Arbeitszeit nach den ge-
sicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über die menschengerechte
Gestaltung der Arbeit festzulegen, die Begrenzung der werktäglichen Arbeitszeit,
der Anspruch auf kostenlose arbeitsmedizinische Untersuchungen und der An-
spruch auf Versetzung auf einen Tagesarbeitsplatz dem Gesundheitsschutz
. Dagegen wirkt sich ein Zuschlag nach § 6 Abs. 5
ArbZG unabhängig von seiner Höhe nicht auf die Gesundheit des betroffenen
Arbeitnehmers aus
.
(c)
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Lenkungszweck bei ei-
nem Ausgleich nach § 6 Abs. 5 ArbZG in Geld nicht
der „überbordende und wich-
tigste“ Zweckanteil. Bei unvermeidbarer Nachtarbeit muss der Abschlag daher
nicht, wie die Beklagte meint, mindestens 15 Prozentpunkte betragen. Zwar dient
ein Zuschlag auf das Bruttoarbeitsentgelt nicht der Gesundheit der betroffenen
Arbeitnehmer. Dennoch bezweckt er nicht ausschließlich eine Verteuerung der
Nachtarbeit, um diese möglichst weitgehend zu vermeiden. Vielmehr sollen die-
jenigen Arbeitnehmer, die Nachtarbeit leisten, zumindest einen angemessenen
finanziellen Ausgleich für die mit der Nachtarbeit verbundenen Beeinträchtigun-
gen erhalten und in einem gewissen Umfang für die erschwerte Teilhabe am so-
zialen Leben entschädigt werden
. Diese Zwecke lassen sich auch bei unvermeidbarer Nachtarbeit
erreichen.
(d)
Das Landesarbeitsgericht berücksichtigt, dass zumindest die individuelle
Dauernachtarbeit der Klägerin - etwa durch Einführung eines Wechselschichtmo-
dells - vermeidbar wäre. Allerdings erhöht das Landesarbeitsgericht den als an-
gemessen anzusehenden Zuschlag aufgrund dieses Umstands nicht. Es stellt
darauf ab, dass die Beklagte hinsichtlich der Höhe des Nachtarbeitszuschlags
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nicht so zu behandeln sei wie ein Arbeitgeber, der vermeidbare Nachtarbeit an-
ordne und sie dann in Dauernachtarbeit ausführen lasse. Das Landesarbeitsge-
richt gesteht der Beklagten damit zu, sich auch dann auf die Unvermeidbarkeit
der Nachtarbeit zu berufen, wenn die individuelle Dauernachtarbeit vermeidbar
wäre
. Diese Würdigung hält sich im Rahmen des tatrichterlichen Beurtei-
lungsspielraums.
cc)
Der vom Landesarbeitsgericht als angemessen betrachtete Zuschlag
von 20 % greift nicht unverhältnismäßig in das Recht der beklagten Arbeitgeberin
aus Art. 12 Abs. 1 GG ein.
(1)
Die gesetzliche Verpflichtung, an Nachtarbeitnehmer bestimmte Nacht-
arbeitszuschläge zu zahlen oder eine bestimmte Zahl freier Tage zu gewähren,
lässt das Recht der Beklagten, Nachtarbeit anzuordnen und entsprechende Leis-
tungen am Markt anzubieten, unberührt. Damit handelt es sich (nur) um eine Be-
rufsausübungsregelung
. Um einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit recht-
fertigen zu können, genügt es, wenn die vom Gesetzgeber verfolgten Gemein-
wohlziele auf vernünftigen Erwägungen beruhen. Der Grundsatz der Verhältnis-
mäßigkeit ist zu beachten
.
(2)
Grundsätzlich dient der Ausgleich nach § 6 Abs. 5 ArbZG dem Gesund-
heitsschutz der Arbeitnehmer bei Nachtarbeit und damit einem legitimen,
verfassungsrechtlich gebotenen Ziel
. Die gesetzliche Regelung
ist grundsätzlich geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn, um
das Ziel des Gesundheitsschutzes zu erreichen
.
(3)
Der gesetzliche Ausgleich nach § 6 Abs. 5 ArbZG greift in der hier gege-
benen Fallgestaltung eines finanziellen Ausgleichs für unvermeidbare Nachtar-
beit nicht unverhältnismäßig in die Berufsausübungsfreiheit der Beklagten ein.
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Allerdings dient ein Zuschlag - anders als zeitnaher Freizeitausgleich - nicht der
Gesundheit der betroffenen Arbeitnehmer. Bei nicht vermeidbarer Nachtarbeit ist
ein Zuschlag auch nicht geeignet, den Gesundheitsschutz mittelbar zu fördern,
indem er Arbeitgeber von der Anordnung von Nachtarbeit aus Kostengründen
möglichst abhält. Gleichwohl stellt ein Zuschlag von 20 % hier keinen unverhält-
nismäßigen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Beklagten dar. Der Nacht-
arbeitszuschlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG soll die mit der Nachtarbeit verbundenen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen und die erschwerte Teilhabe am sozialen
Leben ausgleichen. Darin liegen - neben dem Gesundheitsschutz - weitere
Zwecke des § 6 Abs. 5 ArbZG
. Der Ausgleich für besondere Belastungen durch Nachtarbeit entspricht
einem Gemeinwohlziel, das auf vernünftigen Erwägungen beruht. Ein Zuschlag
iHv. 20 % ist auch geeignet, erforderlich und verhältnismäßig im engeren Sinn,
diese Zwecke zu erreichen.
dd)
Ein Anspruch auf einen höheren als den vom Landesarbeitsgericht als
angemessen betrachteten Nachtarbeitszuschlag von 20 % ergibt sich entgegen
der Auffassung der Klägerin nicht aus unionsrechtlichen Erwägungen.
(1)
Unionsrechtliche Regelungen zum Schutz von Nachtarbeitern finden sich
insbesondere in Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG.
(2)
Entgegen der Auffassung der Klägerin steht Art. 12 Buchst. a der Richt-
linie 2003/88/EG einem Nachtarbeitszuschlag iHv. 20 % nicht entgegen. Nach
dieser Regelung treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, damit
Nacht- und Schichtarbeitern hinsichtlich Sicherheit und Gesundheit in einem Maß
Schutz zuteilwird, das der Art ihrer Arbeit Rechnung trägt. Die Richtlinie
2003/88/EG benennt damit zwar die Gesundheitsgefährdung durch Nachtarbeit,
verpflichtet die Mitgliedstaaten aber - anders als etwa Art. 7 Abs. 1 zweiter Spie-
gelstrich der Richtlinie 2002/15/EG im Hinblick auf Nachtarbeit bei Fahrperso-
nal - nicht ausdrücklich dazu, einen finanziellen Ausgleich vorzunehmen
. Abweichend
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von der aus Gründen der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 2003/88/EG er-
forderlichen Pflicht, die Arbeitszeit zu erfassen, enthalten weder Art. 12 Buchst. a
noch die weiteren Regelungen in Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG Vorga-
ben zu der Höhe eines Zuschlags für Nachtarbeit
. Anhaltspunkte dafür, dass das Schutzkonzept des
§ 6 ArbZG den Anforderungen der Art. 8 bis 12 der Richtlinie 2003/88/EG nicht
gerecht wird, sind nicht ersichtlich.
(3)
Nach dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG ist hin-
sichtlich der Arbeitszeitgestaltung den Grundsätzen der Internationalen Arbeits-
organisation Rechnung zu tragen. Das betrifft auch die für Nachtarbeit geltenden
Grundsätze. Die Bundesrepublik Deutschland hat das Übereinkommen 171
(1990) der Internationalen Arbeitsorganisation über Nachtarbeit (IAO-Überein-
kommen 171) nicht ratifiziert
. Wegen des Verweises im
sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG ist es dennoch zu berück-
sichtigen
. Nach Art. 3 Abs. 1
IAO-Übereinkommen 171 sind ua. Maßnahmen zu treffen, um die Gesundheit
von Nachtarbeitern zu schützen und sie angemessen zu entschädigen. Art. 8
IAO-Übereinkommen 171 sieht vor, dass der Ausgleich für Nachtarbeiter in Form
von Arbeitszeit, Entgelt oder ähnlichen Vergünstigungen der Natur der Nachtar-
beit Rechnung zu tragen hat. Konkrete Vorgaben zu der Höhe einer Entschädi-
gung in Geld oder eines finanziellen Ausgleichs für Nachtarbeiter enthält auch
der sechste Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88/EG iVm. Art. 3 Abs. 1 und
Art. 8 IAO-Übereinkommen 171 nicht
.
(4)
Art. 31 GRC erwähnt die Nachtarbeit in seinem Wortlaut nicht. Er regelt
jedenfalls nicht die Höhe eines finanziellen Ausgleichs für Nachtarbeit. Für den
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Senat stellt sich deshalb nicht die Frage, ob das in Art. 31 Abs. 2 GRC begrün-
dete Recht auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit das Recht auf gesunde, si-
chere und würdige Arbeitsbedingungen aus Art. 31 Abs. 1 GRC mit Blick auf
Art. 8 Satz 1 Buchst. a, Art. 16 Buchst. b Satz 1 der Richtlinie 2003/88/EG kon-
kretisiert
.
(5)
Ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 Abs. 3 AEUV ist nicht
geboten. Unionsrechtliche Regelungen oder Vorgaben zu der Höhe von Nacht-
arbeitszuschlägen bestehen weder im Primärrecht des Art. 31 GRC noch im Se-
kundärrecht der Richtlinie 2003/88/EG. Die Höhe des finanziellen Ausgleichs aus
§ 6 Abs. 5 ArbZG ist nicht unionsrechtlich überformt. Art. 31 GRC und die Richt-
linie 2003/88/EG regeln keine Fragen des Arbeitsentgelts, weil die Europäische
Union hierfür nach Art. 153 Abs. 5 AEUV nicht zuständig ist
. Der Senat muss den
Gerichtshof der Europäischen Union deshalb nicht anrufen, um das Unionsrecht
auszulegen.
c)
Die weiteren Voraussetzungen eines Anspruchs auf Nachtarbeitszu-
schlag nach § 6 Abs. 5 ArbZG sind erfüllt. Tarifvertragliche Ausgleichsregelun-
gen bestehen nicht. Die Klägerin ist Nachtarbeitnehmerin iSv. § 2 Abs. 5 Nr. 2
ArbZG. Mit der Leistung von Nachtarbeitszuschlägen hat die Beklagte von ihrem
Wahlrecht nach § 262 BGB Gebrauch gemacht.
d)
Der Höhe nach hat die Klägerin für den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis
15. Juni 2017 Anspruch auf rechnerisch unstreitige Nachtarbeitszuschläge von
593,88 Euro brutto (12,37 Euro x 959,4 Stunden x 20 % abzüglich gezahlter
1.779,68 Euro).
2.
Der Zinsanspruch beruht auf §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
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3.
Auf die Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB iHv. insgesamt
520,00 Euro hat die Klägerin keinen Anspruch
.
C.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 Satz 1, § 344 ZPO. Pau-
schalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB sind Nebenforderungen, wenn sie neben
der Hauptschuld geltend gemacht werden. Sie sind nach § 4 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO
in die Wertberechnung nicht einzubeziehen
. Gleichwohl sind sie im Rahmen der Kosten-
entscheidung zu berücksichtigen
.
Das Unter-
liegen der Klägerin mit den Pauschalen nach § 288 Abs. 5 Satz 1 BGB wirkt sich
daher bei der Kostenquote zu ihren Lasten aus. Der Senat kann die Kostenent-
scheidungen der Vorinstanzen nach § 308 Abs. 2 ZPO ohne entsprechende An-
träge der Parteien ändern
.
Gallner
Pessinger
Pulz
Schurkus
Scheck
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