Urteil des BAG vom 28.07.2020

Sozialplan - mittelbare Benachteiligung wegen Behinderung

Bundesarbeitsgericht
Urteil vom 28. Juli 2020
Erster Senat
- 1 AZR 590/18 -
ECLI:DE:BAG:2020:280720.U.1AZR590.18.0
I. Arbeitsgericht Köln
Urteil vom 17. Januar 2018
- 9 Ca 5075/17 -
II. Landesarbeitsgericht Köln
Urteil vom 13. September 2018
- 6 Sa 150/18 -
Entscheidungsstichworte:
Sozialplan - mittelbare Benachteiligung wegen Behinderung
ECLI:DE:BAG:2020:280720.U.1AZR590.18.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
1 AZR 590/18
6 Sa 150/18
Landesarbeitsgericht
Köln
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
28. Juli 2020
URTEIL
Metze, Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
In Sachen
Beklagte, Berufungsbeklagte, Berufungsklägerin und Revisionsklägerin,
pp.
Kläger, Berufungskläger, Berufungsbeklagter und Revisionsbeklagter,
hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
28. Juli 2020 durch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Schmidt, die
Richterinnen am Bundesarbeitsgericht K. Schmidt und Dr. Ahrendt sowie
die ehrenamtliche Richterin Schwitzer und den ehrenamtlichen Richter
Prof. Dr. Rose für Recht erkannt:
- 2 -
1 AZR 590/18
ECLI:DE:BAG:2020:280720.U.1AZR590.18.0
- 3 -
1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des
Landesarbeitsgerichts Köln vom 13. September 2018
- 6 Sa 150/18 - wird mit der Maßgabe zurückgewiesen,
dass die Zinsen auf den Betrag iHv. 60.281,01 Euro
brutto seit dem 1. Juli 2017 zu zahlen sind.
2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.
Von Rechts wegen!
Tatbestand
Die Parteien streiten zuletzt noch über die Höhe einer Sozialplanabfin-
dung.
Der am 6. Juli 1957 geborene Kläger ist schwerbehinderter Mensch und
war seit dem 25. Februar 1992 bei der Beklagten in deren Betrieb in P beschäf-
tigt. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund Kündigung der Beklagten am 30. Juni
2017.
Im Hinblick auf die Schließung des Standorts P beschloss die Einigungs-
stelle am 16. September 2016 einen Sozialplan (SP), dessen Abschnitt B
- Sozialplanleistungen - unter § 2 (Bemessung der individuellen Sozialplanleis-
tungen) auszugsweise lautet:
1. Abfindungen
Abfindungen erhalten anspruchsberechtigte Arbeitneh-
mer, die
(1) aus dem Arbeitsverhältnis mit W endgültig aus-
scheiden,
weil …
(2) Arbeitnehmer, die zum Stichtag 31.03.2017 das
59. Lebensjahr vollendet haben und aufgrund
der Kündigung wegen der Betriebsänderung aus
dem Arbeitsverhältnis bei der W ausscheiden,
weil
-
sie kein Angebot gemäß … erhalten oder
-
ein solches Angebot erhalten, aber ableh-
nen.
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(3) Alle anderen Arbeitnehmer ...
…“
Die von Abschn. B § 2 Ziff. 1 (2) SP erfassten anspruchsberechtigten Ar-
beitnehmer erhalten nach Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP als Abfindung
„eine Zah-
lung
in Höhe eines fiktiven Differenzbetrages“. Zu diesem heißt es unter Ab-
schn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP:
„Für jeden Arbeitnehmer werden die Bezugsgrößen
(1) Datum des regulären Renteneintritts,
(2) Datum des frühestmöglichen Renteneintritts,
(3) 85 % des Bruttojahresgehalts (Bruttomonatsgehalt x
12),
(4) fiktiver Arbeitslosengeldanspruch (ALG Monat x Be-
zugsdauer, pauschal ermittelt),
(5) Anzahl Jahre zwischen rechtlicher Beendigung des
Arbeitsverhältnisses und regulärem Renteneintritt
(Volle Monate : 12 mit zwei Nachkommastellen),
(6) Anzahl Jahre zwischen dem frühestmöglichen Ren-
teneintritt und dem regulären Renteneintritt (Volle Mo-
nate : 12 mit zwei Nachkommastellen),
(7) Anzahl Jahre zwischen rechtlicher Beendigung des
Arbeitsverhältnisses und frühestmöglichem Renten-
eintritt (Volle Monate : 12 mit zwei Nachkommastel-
len),
[
…]
Die Berechnungsformel des fiktiven Differenzbetrages lau-
tet:
85 % des Bruttojahresgehalts x Anzahl Jahre zwischen
rechtlicher Beendigung des Arbeitsverhältnisses und frü-
hestmöglichen Renteneintritts abzügl. fiktiver Arbeitslosen-
geldanspruch ((3) x (7) - (4))
zzgl.
Anzahl Jahre zwischen dem frühestmöglichen Rentenein-
tritt und dem regulären Renteneintritt x 12 x 230 EURO
((6) x 12 x 230 EURO)
zzgl.
eines pauschalen Abfindungsbetrags für anerkannte
Schwerbehinderte (GdB mind. 50 %) und Gleichgestellte
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(GdB mind. 30 % und Gleichstellungsbescheid) in Höhe
von 1.000,00 EURO für jede im Zeitpunkt des Abschlusses
des Interessenausgleichs festgestellte und der W zu die-
sem Zeitpunkt nachgewiesene volle 10 % GdB.
Die maßgeblichen Werte und Berechnungen für die einzel-
nen Arbeitnehmer ergeben sich aus der als ANLAGE 5 bei-
gefügten Tabelle.
…“
Die nach Abschn. B § 2 Ziff.
1.6 SP in der „Höchstsumme … pro Arbeit-
nehmer“ auf einen Maximalbetrag iHv. 100.000,00 Euro begrenzten Sozialplan-
leistungen sind nach Abschn. B § 4 Abs. 1 Satz
1 SP frühestens „zum Zeitpunkt
der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses
… fällig“. Nach Abschn. B
§ 7 Satz
1 SP müssen „Ansprüche aus diesem Sozialplan … binnen einer Aus-
schlussfrist von 3 Monaten nach Fälligkeit schriftlich jeweils bei der anderen Ar-
beitsvertragspartei geltend gemacht werden“.
Die Beklagte ermittelte für den unter Abschn. B § 2 Ziff. 1 (2) SP fallen-
den Kläger unter Berücksichtigung des pauschalen Abfindungsbetrags für aner-
kannte Schwerbehinderte iHv. 5.000,00 Euro iSv. Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP
und eines frühestmöglichen Renteneintritts nach § 236a Abs. 2 Satz 2 SGB VI
bei der Altersrente für schwerbehinderte Menschen eine Abfindung iHv. insge-
samt 39.718,99 Euro. Läge der Berechnung ein frühestmöglicher Rentenbeginn
ohne Schwerbehinderung zugrunde, ergäbe sich für den Kläger unter Berück-
sichtigung von Abschn. B § 2 Ziff. 1.6 SP eine Abfindung iHv. 100.000,00 Euro.
Der Kläger hat mit seiner der Beklagten am 8. September 2017 zuge-
stellten Klage die Zahlung des Differenzbetrags nebst Zinsen geltend gemacht.
Er hat die Ansicht vertreten, die Regelung in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP bewirke
eine nicht gerechtfertigte Benachteiligung wegen seiner Schwerbehinderung. Bei
der Berechnung der Abfindung sei de
r Bezugsgröße „frühestmöglicher Renten-
eintritt“ das frühestmögliche Renteneintrittsalter für nicht schwerbehinderte Men-
schen zugrunde zu legen.
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Der Kläger hat - soweit für die Revision noch von Bedeutung - beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 60.281,01 Euro brutto
nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem Basiszins-
satz seit dem 1. April 2017 zu zahlen.
Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.
Soweit für die Revision von Bedeutung hat das Arbeitsgericht die Klage
abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht ihr statt-
gegeben. Mit ihrer Revision begehrt die Beklagte die Wiederherstellung der erst-
instanzlichen Entscheidung.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist - bis auf den titulierten Zinsanspruch -
unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat der Klage zu Recht stattgegeben. Es
hat zutreffend angenommen, dass die in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP geregelte
Ausgestaltung der Sozialplanabfindung für schwerbehinderte Menschen wie den
Kläger gegen § 75 Abs. 1 BetrVG verstößt. Das führt dazu, dass der Kläger einen
Anspruch auf Zahlung einer weiteren Abfindung in der geltend gemachten Höhe
hat. Zinsen hierauf kann er allerdings erst ab dem 1. Juli 2017 beanspruchen.
I.
Dem Kläger steht der geltend gemachte weitere Abfindungsanspruch
nach dem SP iVm. dem betriebsverfassungsrechtlichen Gleichbehandlungs-
grundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG zu.
1.
Er unterfällt dem Geltungsbereich des SP und gehört zu den nach Ab-
schn. B § 2 Ziff. 1 (2) SP anspruchsberechtigten Arbeitnehmern, deren Abfin-
dung sich nach Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP berechnet. Darüber streiten die Par-
teien nicht.
2.
Die in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP niedergelegte Berechnung der Sozi-
alplanabfindung verstößt gegen § 75 Abs. 1 BetrVG.
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a)
Sozialpläne unterliegen, wie andere Betriebsvereinbarungen, der ge-
richtlichen Rechtmäßigkeitskontrolle. Sie sind daraufhin zu überprüfen, ob sie mit
höherrangigem Recht, wie insbesondere dem betriebsverfassungsrechtlichen
Gleichbehandlungsgrundsatz nach § 75 Abs. 1 BetrVG, vereinbar sind. Bei einer
Entscheidung der Einigungsstelle über die Aufstellung eines Sozialplans gilt kein
anderer Prüfungsmaßstab. Die Einigungsstelle ist bei der Ermessensausübung
nach § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG an die Grundsätze des § 75 Abs. 1 BetrVG und
im Fall der Aufstellung eines Sozialplans zudem an die Vorgaben des § 112
Abs. 5 BetrVG gebunden
.
b)
Arbeitgeber und Betriebsrat haben nach § 75 Abs. 1 BetrVG darüber zu
wachen, dass jede Benachteiligung von Personen aus den in der Vorschrift ge-
nannten Gründen unterbleibt. § 75 Abs. 1 BetrVG enthält nicht nur ein Überwa-
chungsgebot, sondern verbietet zugleich Vereinbarungen, durch die Arbeitneh-
mer aufgrund der dort aufgeführten Merkmale benachteiligt werden. Der Gesetz-
geber hat die in § 1 AGG geregelten Benachteiligungsverbote in § 75 Abs. 1
BetrVG übernommen. Die unterschiedliche Behandlung der Betriebsangehöri-
gen aus einem in § 1 AGG genannten Grund ist daher nur unter den im AGG
normierten Voraussetzungen zulässig
.
c)
Hiervon ausgehend wird der Kläger durch die Regelungen zur Höhe der
Abfindung in Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP entgegen den Vorgaben des § 75
Abs. 1 BetrVG wegen seiner (Schwer-)Behinderung benachteiligt.
aa)
Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP, wonach bei der Berechnung des als Abfin-
dung zu zahlenden fiktiven Differenzbetrags (in einem ersten Teil)
auf den „frü-
hestmöglichen Rentenein
tritt“ als eine die Höhe der Abfindung bestimmende Be-
zugsgröße abgestellt wird, enthält eine mittelbar auf dem Kriterium der Behinde-
rung beruhende Ungleichbehandlung.
(1)
Der Senat hat bereits entschieden, dass eine in einem Sozialplan zur
Berechnung der Abfindung enthaltene Bestimmung, wonach die Abfindungshöhe
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für den Umfang der Absicherung auf den Zeitraum bis zum frühestmöglichen
Wechsel der Arbeitnehmer in die gesetzliche Rente Bezug nimmt, eine mittelbar
auf dem Kriterium der Behinderung beruhende Ungleichbehandlung darstellt
. Denn schwerbehinderte Menschen können ge-
mäß § 236a Abs. 1 Satz 2 SGB VI zu einem früheren Zeitpunkt Altersrente vor-
zeitig in Anspruch nehmen als nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer. Auch die
unter Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP niedergelegte Formel zur Berechnung der Ab-
findung legt (in ihrem ersten Teil) einen Faktor zugrunde, dessen Höhe sich nach
dem Differenzzeitraum zwischen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und
dem
„frühestmöglichen Renteneintritt“ bestimmt.
(2)
Ob mit der Regelung andere Arbeitnehmer - wie vor dem 1. Januar 1952
geborene Frauen
oder besonders langjährig Versi-
cherte
- ebenso benachteiligt sind, ist für die Frage der Benachtei-
ligung des Klägers ohne Bedeutung. Die (mittelbare) Benachteiligung weiterer
Beschäftigtengruppen lässt die mittelbare Benachteiligung einer bestimmten Be-
schäftigtengruppe - hier: schwerbehinderter Arbeitnehmer - nicht entfallen. Die
Ungleichbehandlung folgt aus dem gesetzlich unterschiedlich geregelten Le-
bensalter des frühestmöglichen Renteneintritts im Sinn einer vorzeitigen Inan-
spruchnahme von Altersrente. Sie ist damit normativ vorgegeben. Auf die An-
nahme des Landesarbeitsgerichts, es sei mangels hinreichenden Bestreitens da-
von auszugehen, die Bestimmung des Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP treffe im Be-
trieb der Beklagten nur Schwerbehinderte (und nicht auch andere Arbeitnehmer),
kommt es damit ebenso wenig an wie auf die dagegen erhobenen Verfahrensrü-
gen der Beklagten.
(3)
Der Senat hat weiter im Anschluss an die Rechtsprechung des Gerichts-
hofs der Europäischen Union
bereits entschieden, dass schwerbehinderte Arbeitnehmer und nicht
schwerbehinderte Arbeitnehmer in Bezug auf die durch die Betriebsschließung
verursachten wirtschaftlichen Nachteile in einer vergleichbaren Situation sind. Ihr
Arbeitsverhältnis mit ihrem Arbeitgeber endet aus demselben Grund und unter
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denselben Voraussetzungen
.
bb)
Die durch Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP bedingte Benachteiligung schwer-
behinderter Menschen ist nicht gerechtfertigt.
(1)
Zwar ist eine Berechnung der Abfindungshöhe wie hier im Sozialplan vor-
gesehen grundsätzlich von einem legitimen Ziel getragen. Denn damit soll ent-
sprechend dem zukunftsgerichteten Entschädigungscharakter von Abfindungen
den von der Betriebsschließung betroffenen Arbeitnehmern ein pauschalierter
Ausgleich für das bis zum frühestmöglichen Renteneintritt entfallende Arbeitsent-
gelt bei gleichzeitiger Berücksichtigung der begrenzten Sozialplanmittel gewährt
werden. Damit dient die Regelung einem legitimen Ziel, ohne dass dieses im So-
zialplan ausdrücklich benannt werden muss
. Auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union stellt die Gewährung eines Ausgleichs für die Zukunft entsprechend den
Bedürfnissen der betroffenen Arbeitnehmer, die der Notwendigkeit der für einen
Sozialplan nur begrenzt zur Verfügung stehenden Mittel Rechnung trägt, ein
rechtmäßiges Ziel dar
.
(2)
Die Regelung geht jedoch über das zur Erreichung dieses Ziels Erforder-
liche hinaus.
(a)
Durch das undifferenzierte Abstellen auf den „frühestmöglichen“ Wech-
sel in die gesetzliche Rente wird die durch dieses neutrale Kriterium bewirkte
Ungleichbehandlung zum einen nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt,
die nichts mit der Behinderung zu tun haben
. Zum anderen führt dieses Tatbestandsmerkmal zu
einer übermäßigen Beeinträchtigung der legitimen Interessen der schwerbehin-
derten Arbeitnehmer, da die Betriebsparteien damit zur Begrenzung der Höhe
der diesen Arbeitnehmern zu zahlenden Abfindung an einen sozialversiche-
rungsrechtlichen Vorteil anknüpfen, dessen Daseinsberechtigung gerade den
Schwierigkeiten und den besonderen Risiken Rechnung tragen soll, mit denen
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schwerbehinderte Arbeitnehmer konfrontiert sind
.
(b)
Dem Risiko schwerbehinderter Menschen ist nicht deshalb - zur Wah-
rung der Erforderlichkeit - Rechnung getragen, weil nach der Berechnungsformel
des Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP in die Ermittlung des als Abfindung zu zahlenden
fiktiven Differenzbetrags noch zwei weitere - jeweils mit
„zzgl.“ ausgedrückte -
Teilbeträge (ein sog. Rentenverlustausgleich sowie ein Pauschbetrag für
Schwerbehinderte) einfließen.
(aa)
Schwerbehinderte Personen haben spezifische Bedürfnisse im Zusam-
menhang sowohl mit dem Schutz, den ihr Zustand erfordert, als auch mit der
Notwendigkeit, dessen mögliche Verschlechterung zu berücksichtigen. Daher ist
dem Risiko Rechnung zu tragen, dass Schwerbehinderte unabweisbaren finan-
ziellen Aufwendungen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung ausgesetzt sind
und/oder dass sich ihre finanziellen Aufwendungen mit zunehmendem Alter er-
höhen
.
(bb)
Insoweit sind die zwei Teilbeträge nicht geeignet, den Nachteil beim Ab-
stellen auf den „frühestmöglichen Renteneintritt“ auszugleichen. Es kann daher
dahinstehen, ob die Verfahrensrüge der Beklagten, das Landesarbeitsgericht
habe in diesem Zusammenhang ihren Sachvortrag übergangen und damit ihren
Anspruch auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt, zu-
lässig und begründet wäre.
(aaa)
Das gilt für den sog. Rentenverlustausgleich - berechnet nach der Formel
„Anzahl Jahre zwischen dem frühestmöglichen Renteneintritt und dem regulären
Renteneintritt x 12 x 230 EURO
“ - bereits deshalb, weil auf ihn nicht nur schwer-
behinderte Arbeitnehmer Anspruch haben. Eine mit ihm bewirkte Kompensation
etwaiger Nachteile der Schwerbehinderten gegenüber nicht schwerbehinderten
Arbeitnehmern scheidet aus.
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(bbb)
Auch der pauschale Schwerbehindertenzuschlag ist zum Ausgleich der
mit dem Rechenansatz „frühestmöglicher Renteneintritt“ für schwerbehinderte
Arbeitnehmer bewirkten Benachteiligung ungeeignet. Abgesehen davon, dass
bei seiner Berücksichtigung eine ggf. aus anderen Gründen geregelte unmittel-
bare Bevorzugung Schwerbehinderter zur Rechtfertigung deren mittelbarer Be-
nachteiligung herangezogen würde, erweist er sich bereits der Höhe nach als zur
Kompensation untauglich. Die vorgesehene pauschale Erhöhung des Abfin-
dungsbetrags iHv. 1.000,00 Euro für je 10 GdB - mithin maximal 10.000,00 Euro
(für den Kläger iHv. 5.000,00 Euro) - vermag die Nachteile der Anknüpfung an
den frühestmöglichen Renteneintritt nicht ansatzweise zu kompensieren. Einem
maximalen Zuschlag von 10.000,00 Euro steht ein mindestens zwei Jahre eher
liegender frühestmöglicher Renteneintritt - mithin ein Betrag iHv. 1,7 (= 2 x 0,85)
Bruttojahresgehältern - gegenüber.
d)
Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP verstößt damit gegen § 75 Abs. 1 BetrVG,
weil die Regelung eine Benachteiligung schwerbehinderter Arbeitnehmer be-
wirkt. Der Einwand der Revision, die Argumentation des Senats in seiner Ent-
scheidung vom 16. Juli 2019
zu einer mittelbaren Benachteili-
gung schwerbehinderter Arbeitnehmer, wenn eine kollektivrechtlich begründete
Abfindung in der Höhe maßgebend vom „frühestmöglichen Renteneintritt“ beein-
flusst werde, betreffe (allein) einen Sozialtarifvertrag, verfängt nicht. Er vernach-
lässigt bereits, dass der Senat in einer weiteren Entscheidung vom selben Tag
für einen (den Sozialtarifvertrag in Bezug nehmenden) Sozialplan nichts anderes
angenommen hat
. Im Übrigen sind - wie
bereits ausgeführt - die Betriebsparteien gemäß § 75 Abs. 1 BetrVG an die
Grundsätze von Recht und Billigkeit sowie an den Gleichbehandlungsgrundsatz
gebunden. Das gilt ebenso für die Einigungsstelle. Insofern ist auch nicht zwi-
schen Sozialplänen aufgrund freiwilliger Einigung und solchen, die auf Spruch
der Einigungsstelle beruhen, zu differenzieren. Die Revision verkennt, dass mit
den Vorgaben von § 112 Abs. 5 BetrVG zusätzliche - die allgemeine Abwägungs-
klausel des § 76 Abs. 5 Satz 3 BetrVG konkretisierende - und keine die rechtli-
chen Maßstäbe des § 75 Abs. 1 BetrVG relativierenden Grundsätze aufgestellt
sind.
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3.
Der Verstoß der Sozialplanbestimmung gegen § 75 Abs. 1 BetrVG be-
wirkt, dass dem benachteiligten Arbeitnehmer für die Vergangenheit ein An-
spruch auf die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen ist (sog
. „Anpassung nach
oben“). Den Angehörigen der mittelbar benachteiligten Gruppe sind dieselben
Vorteile zu gewähren wie den nicht benachteiligten Arbeitnehmern. Kann der Ar-
beitgeber - wie vorliegend - den Begünstigten für die Vergangenheit die gewähr-
ten Leistungen nicht mehr entziehen, ist eine solche zur Beseitigung der Diskri-
minierung erforderliche „Anpassung nach oben“ selbst dann gerechtfertigt, wenn
sie zu erheblichen finanziellen Belastungen des Arbeitgebers führt
. Die Regelungen des
Abschn. B § 2 Ziff. 1.2.1 SP sind daher so anzuwenden, wie sie für vergleichbare
nicht schwerbehinderte Arbeitnehmer gegolten hätten
. Das begründet die Zahlung einer Abfindung, bei deren
Berechnung der frühestmögliche Renteneintritt zugrunde zu legen ist, der für den
Kläger gölte, wenn er nicht schwerbehindert wäre. Im Hinblick auf die im SP be-
grenzte Höchstsumme der Abfindung wären das - insoweit besteht kein Streit der
Parteien - 100.000,00 Euro brutto, so dass unter Berücksichtigung der gewährten
Abfindung die Klageforderung besteht.
4.
Der Anspruch ist nicht verfallen; der Kläger hat die Ausschlussfrist nach
Abschn. B § 7 SP mit der der Beklagten am 8. September 2017 zugestellten Kla-
geschrift gewahrt.
II.
Zinsen kann der Kläger im Hinblick auf die Fälligkeitsbestimmung von
Abschn. B § 4 Abs. 1 Satz 1 SP gemäß § 286 Abs. 2 Nr. 1 iVm. Abs. 1 Satz 1,
§ 288 Abs. 1 BGB erst ab dem 1. Juli 2017 verlangen.
Schmidt
Ahrendt
K. Schmidt
H. Schwitzer
Rose
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