Urteil des BAG vom 18.08.2020

Unternehmensmitbestimmung in der Societas Europaea

Bundesarbeitsgericht
Vorlagebeschluss (EuGH) vom 18. August 2020
Erster Senat
- 1 ABR 43/18 (A) -
ECLI:DE:BAG:2020:180820.B.1ABR43.18A.0
I. Arbeitsgericht Mannheim
- Kammern Heidelberg -
Beschluss vom 7. Dezember 2017
- 14 BV 13/16 -
II. Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
- Kammern Mannheim -
Beschluss vom 9. Oktober 2018
- 19 TaBV 1/18 -
Entscheidungsstichwort:
Unternehmensmitbestimmung in der Societas Europaea
Leitsatz:
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um
die Beantwortung der folgenden Frage ersucht:
Ist § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer
Europäischen Gesellschaft, aus dem sich für den Fall der Gründung einer
in Deutschland ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen
bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer ein geson-
dertes Auswahlverfahren für von Gewerkschaften Vorgeschlagene zu ge-
währleisten ist, mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom
8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft
hinsichtlich der Beteiligung der Arbeitnehmer vereinbar?
ECLI:DE:BAG:2020:180820.B.1ABR43.18A.0
- 2 -
BUNDESARBEITSGERICHT
1 ABR 43/18 (A)
19 TaBV 1/18
Landesarbeitsgericht
Baden-Württemberg
Verkündet am
18. August 2020
BESCHLUSS
Metze, Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
In dem Beschlussverfahren mit den Beteiligten
1.
Antragstellerin, Beschwerdeführerin und Rechtsbeschwerdeführerin,
2.
Antragstellerin, Beschwerdeführerin und Rechtsbeschwerdeführerin,
3.
4.
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1 ABR 43/18 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:180820.B.1ABR43.18A.0
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5.
6.
7.
8.
hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Anhörung vom
18. August 2020 durch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Schmidt, die
Richterinnen am Bundesarbeitsgericht K. Schmidt und Dr. Ahrendt sowie die
ehrenamtlichen Richter Hayen und Fritz beschlossen:
I. Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß
Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden
Frage ersucht:
Ist § 21 Abs. 6 des Gesetzes über die Beteiligung der
Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft, aus
dem sich für den Fall der Gründung einer in Deutschland
ansässigen SE durch Umwandlung ergibt, dass für einen
bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeit-
nehmer ein gesondertes Auswahlverfahren für von
Gewerkschaften Vorgeschlagene zu gewährleisten ist,
mit Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates
vom 8. Oktober 2001 zur Ergänzung des Statuts der
Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteiligung
der Arbeitnehmer vereinbar?
II. Das Rechtsbeschwerdeverfahren wird bis zur Entschei-
dung des Gerichtshofs der Europäischen Union über das
Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
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1 ABR 43/18 (A)
ECLI:DE:BAG:2020:180820.B.1ABR43.18A.0
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Gründe
A.
Gegenstand des Ausgangsverfahrens
Die Beteiligten streiten - soweit für das Vorabentscheidungsverfahren
von Bedeutung - über die Wirksamkeit von Regelungen in einer von der Arbeit-
geberin und dem besonderen Verhandlungsgremium geschlossenen Vereinba-
rung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Societas Europaea (Beteili-
gungsvereinbarung) im Sinne von § 21 des Gesetzes über die Beteiligung der
Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft (SEBG).
Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 3.) ist eine SE mit dualistischem System.
Bei ihr sind ein SE-Betriebsrat (Beteiligter zu 4.) und ein Konzernbetriebsrat (Be-
teiligter zu 5.) gebildet. Antragstellerinnen sind zwei im Unternehmen der Arbeit-
geberin vertretene Gewerkschaften. Am Verfahren sind zudem weitere bei der
Arbeitgeberin bzw. in deren Konzern vertretene Gewerkschaften beteiligt (Betei-
ligte zu 6. bis 8.).
Die Arbeitgeberin hatte ursprünglich die Rechtsform einer Aktiengesell-
schaft deutschen Rechts. Bei ihr bestand nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des
Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz -
MitbestG) ein Aufsichtsrat, der sich aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der
Anteilseigner und der Arbeitnehmer zusammensetzte. Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2
MitbestG befanden sich unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer
sechs Arbeitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften.
Bei den beiden Vertretern der Gewerkschaften handelte es sich um Personen,
die nach § 16 Abs. 2 MitbestG von im Konzern der Arbeitgeberin repräsentierten
Gewerkschaften vorgeschlagen und in einem von den Wahlen der übrigen sechs
Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer getrennten Wahlgang gewählt wurden.
Im Jahr 2014 wurde die Arbeitgeberin in eine SE umgewandelt. Seitdem
verfügt sie über einen aus 18 Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat. Gemäß der
von der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium am 10. März
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2014 geschlossenen Beteiligungsvereinbarung sind hiervon neun Aufsichtsrats-
mitglieder Arbeitnehmervertreter. Die Beteiligungsvereinbarung regelt nähere
Vorgaben für deren Bestimmung. Nach Teil II Nr. 3.1 der Beteiligungsvereinba-
rung können zum Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat nur S-Arbeitnehmer oder
Vertreter der im S-Konzern repräsentierten Gewerkschaften vorgeschlagen und
bestellt werden. Dabei steht den Gewerkschaften nach Teil II Nr. 3.3 der Beteili-
gungsvereinbarung für einen bestimmten Teil der auf Deutschland entfallenden
Arbeitnehmervertreter ein ausschließliches Vorschlagsrecht zu; die Wahl der von
ihnen vorgeschlagenen Personen durch die Arbeitnehmer erfolgt in einem ge-
trennten Wahlgang.
Die Beteiligungsvereinbarung enthält in ihrem Teil II Nr. 3.4 zudem Re-
gelungen für die Bildung eines auf zwölf Mitglieder verkleinerten Aufsichtsrats. In
diesem Fall müssen dem Aufsichtsrat sechs Arbeitnehmervertreter angehören.
Die von den ersten vier Sitzen auf Deutschland entfallenden Arbeitnehmervertre-
ter werden von den in Deutschland beschäftigten Arbeitnehmern gewählt. Dabei
können die im Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften Wahlvor-
schläge für einen Teil der auf Deutschland entfallenden Sitze machen; ein ge-
trennter Wahlgang für die von ihnen vorgeschlagenen Personen findet aber nicht
statt.
Die Antragstellerinnen haben in dem von ihnen eingeleiteten Beschluss-
verfahren geltend gemacht, die Regelungen in der Beteiligungsvereinbarung
über die Bestimmung der Arbeitnehmervertreter in einem zwölfköpfigen Auf-
sichtsrat seien unwirksam. Sie sind der Ansicht, diese verstießen gegen § 21
Abs. 6 SEBG, da den Gewerkschaften kein ausschließliches - also durch einen
getrennten Wahlgang abgesichertes - Vorschlagsrecht für die Arbeitnehmerver-
treter im Aufsichtsrat gewährt werde.
Die Arbeitgeberin ist der Auffassung, das in § 7 Abs. 2 iVm. § 16 Abs. 2
MitbestG vorgesehene ausschließliche Vorschlagsrecht der Gewerkschaften
werde durch § 21 Abs. 6 SEBG nicht geschützt.
Die Vorinstanzen haben die Anträge der Antragstellerinnen abgewiesen.
Mit der Rechtsbeschwerde verfolgen die Antragstellerinnen ihr Begehren weiter.
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B.
Das einschlägige nationale Recht
I.
Das Gesetz über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestim-
mungsgesetz - MitbestG) vom 4. Mai 1976
lautet auszugsweise:
㤠7
Zusammensetzung des Aufsichtsrats
(1) Der Aufsichtsrat eines Unternehmens
1.
mit in der Regel nicht mehr als 10 000 Arbeitnehmern
setzt sich zusammen aus je sechs Aufsichtsratsmit-
gliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer;
2.
mit in der Regel mehr als 10 000, jedoch nicht mehr
als 20 000 Arbeitnehmern setzt sich zusammen aus je
acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und
der Arbeitnehmer;
3.
mit in der Regel mehr als 20 000 Arbeitnehmern setzt
sich zusammen aus je zehn Aufsichtsratsmitgliedern
der Anteilseigner und der Arbeitnehmer.
(2) Unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer
müssen sich befinden
1.
in einem Aufsichtsrat, dem sechs Aufsichtsratsmitglie-
der der Arbeitnehmer angehören, vier Arbeitnehmer
des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerk-
schaften;
2.
in einem Aufsichtsrat, dem acht Aufsichtsratsmitglie-
der der Arbeitnehmer angehören, sechs Arbeitnehmer
des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerk-
schaften;
3.
in einem Aufsichtsrat, dem zehn Aufsichtsratsmitglie-
der der Arbeitnehmer angehören, sieben Arbeitneh-
mer des Unternehmens und drei Vertreter von Ge-
werkschaften.
(5) Die in Absatz 2 bezeichneten Gewerkschaften müssen
in dem Unternehmen selbst oder in einem anderen Unter-
nehmen vertreten sein, dessen Arbeitnehmer nach diesem
Gesetz an der Wahl von Aufsichtsratsmitgliedern des Un-
ternehmens teilnehmen.
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§ 16
Wahl der Vertreter von Gewerkschaften in den
Aufsichtsrat
(2) Die Wahl erfolgt auf Grund von Wahlvorschlägen der
Gewerkschaften, die in dem Unternehmen selbst oder in ei-
nem anderen Unternehmen vertreten sind, dessen Arbeit-
nehmer nach diesem Gesetz an der Wahl von Aufsichts-
ratsmitgliedern des Unternehmens teilnehmen
. …“
II.
Das Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen
Gesellschaft (SE-Beteiligungsgesetz - SEBG) vom 22. Dezember 2004
lautet in der
seit dem 1. März 2020 geltenden Fassung auszugsweise:
㤠2
Begriffsbestimmungen
(8) Beteiligung der Arbeitnehmer bezeichnet jedes Verfah-
ren - einschließlich der Unterrichtung, Anhörung und Mitbe-
stimmung -, durch das die Vertreter der Arbeitnehmer auf
die Beschlussfassung in der Gesellschaft Einfluss nehmen
können.
(12) Mitbestimmung bedeutet die Einflussnahme der Arbeit-
nehmer auf die Angelegenheiten einer Gesellschaft durch
1.
die Wahrnehmung des Rechts, einen Teil der Mitglie-
der des Aufsichts- oder Verwaltungsorgans der Ge-
sellschaft zu wählen oder zu bestellen, oder
2.
die Wahrnehmung des Rechts, die Bestellung eines
Teils oder aller Mitglieder des Aufsichts- oder Verwal-
tungsorgans der Gesellschaft zu empfehlen oder ab-
zulehnen.
§ 21
Inhalt der Vereinbarung
(1) In der schriftlichen Vereinbarung zwischen den Leitun-
gen und dem besonderen Verhandlungsgremium wird, un-
beschadet der Autonomie der Parteien im Übrigen und vor-
behaltlich des Absatzes 6, festgelegt:
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(3) Für den Fall, dass die Parteien eine Vereinbarung über
die Mitbestimmung treffen, ist deren Inhalt festzulegen. Ins-
besondere soll Folgendes vereinbart werden:
1.
die Zahl der Mitglieder des Aufsichts- oder Verwal-
tungsorgans der SE, welche die Arbeitnehmer wählen
oder bestellen können oder deren Bestellung sie emp-
fehlen oder ablehnen können;
2.
das Verfahren, nach dem die Arbeitnehmer diese Mit-
glieder wählen oder bestellen oder deren Bestellung
empfehlen oder ablehnen können und
3.
die Rechte dieser Mitglieder.
(6) Unbeschadet des Verhältnisses dieses Gesetzes zu an-
deren Regelungen der Mitbestimmung der Arbeitnehmer im
Unternehmen muss in der Vereinbarung im Fall einer durch
Umwandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponen-
ten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche
Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft be-
steht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Dies gilt
auch bei einem Wechsel der Gesellschaft von einer dualis-
tischen zu einer monistischen Organisationsstruktur und
umgekehrt.“
C.
Einschlägige Vorschriften des Unionsrechts
Artikel 4 der Richtlinie 2001/86/EG des Rates vom 8. Oktober 2001 zur
Ergänzung des Statuts der Europäischen Gesellschaft hinsichtlich der Beteili-
gung der Arbeitnehmer
lautet
auszugsweise:
Inhalt der Vereinbarung
(1) Das jeweils zuständige Organ der beteiligten Gesell-
schaften und das besondere Verhandlungsgremium ver-
handeln mit dem Willen zur Verständigung, um zu einer
Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer inner-
halb der SE zu gelangen.
(2) Unbeschadet der Autonomie der Parteien und vorbe-
haltlich des Absatzes 4 wird in der schriftlichen Vereinba-
rung nach Absatz 1 zwischen dem jeweils zuständigen Or-
gan der beteiligten Gesellschaften und dem besonderen
Verhandlungsgremium Folgendes festgelegt:
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(4) Unbeschadet des Artikels 13 Absatz 3 Buchstabe a
muss in der Vereinbarung im Falle einer durch Umwand-
lung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der
Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das gleiche Ausmaß
gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die
in eine SE umgewandelt werden soll.
D.
Entscheidungserheblichkeit und Erläuterung der Vorlagefrage
Die Entscheidung des Rechtsstreits hängt davon ab, ob die sich aus § 21
Abs. 6 SEBG ergebenden Anforderungen zur Ausgestaltung einer Beteiligungs-
vereinbarung über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei der Gründung einer
SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft deutschen Rechts mit Art. 4
Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vereinbar sind.
I.
Der Antrag der Antragstellerinnen, mit dem diese - soweit vorliegend von
Interesse - die Feststellung der Unwirksamkeit der in der Beteiligungsvereinba-
rung vom 10. März 2014 vorgesehenen Regelungen zur Bestimmung der Arbeit-
nehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat begehren, hätte unter Zu-
grundelegung ausschließlich nationalen Rechts Erfolg.
1.
Der Antrag ist zulässig.
Das Begehren der Antragstellerinnen beschränkt sich auf die Feststel-
lung, dass die Regelungen zum zwölfköpfigen Aufsichtsrat in Teil II Nr. 3.4 der
für die Arbeitgeberin geltenden Beteiligungsvereinbarung wegen des Fehlens ei-
nes durch einen getrennten Wahlgang abgesicherten Vorschlagsrechts der im
Konzern der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften unwirksam sind. Damit
zielt der Antrag auf die Feststellung eines gegenwärtigen Rechtsverhältnisses
ab. Die zwischen der Arbeitgeberin und dem besonderen Verhandlungsgremium
geschlossene Beteiligungsvereinbarung ist eine Kollektivvereinbarung sui gene-
ris, der trotz fehlender ausdrücklicher Anordnung im SEBG von Gesetzes wegen
eine normative Wirkung zukommt. Der Antrag der Antragstellerinnen richtet sich
auch auf die Feststellung des Nichtbestehens eines abgrenzbaren Teils dieses
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Rechtsverhältnisses, da er nur die Regelungen über die Bestimmung der Arbeit-
nehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat betrifft. Zudem verfügen die
Antragstellerinnen über das erforderliche rechtliche Interesse an der begehrten
Feststellung. Sie machen eigene Rechte geltend und können nicht darauf
verwiesen werden, eine Verkleinerung des Aufsichtsrats der Arbeitgeberin auf
zwölf Mitglieder abzuwarten. Ein anderweitiges - gegebenenfalls effektiveres -
gerichtliches Verfahren zur Durchsetzung ihrer geltend gemachten Rechte steht
den Antragstellerinnen nicht zur Verfügung. Ein Statusverfahren
scheidet
schon deshalb aus, weil die Zivilgerichte in einem solchen Verfahren nicht die
Wirksamkeit einer für die Unternehmensmitbestimmung maßgebenden Beteili-
gungsvereinbarung nach dem SEBG prüfen können. Diese Prüfung hat der Ge-
setzgeber mit § 2a Abs. 1 Nr. 3e ArbGG ausschließlich den Gerichten für Arbeits-
sachen zugewiesen.
2.
Der Antrag wäre auch begründet. Die Regelungen in der Beteiligungs-
vereinbarung der Arbeitgeberin vom 10. März 2014 zur Bestimmung der Arbeit-
nehmervertreter in einem zwölfköpfigen Aufsichtsrat wären unwirksam. Sie ver-
stießen gegen § 21 Abs. 6 SEBG.
a)
Grundsätzlich können die Parteien einer Beteiligungsvereinbarung nach
§ 21 Abs. 1 SEBG Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 8
SEBG autonom ausgestalten. Dies ermöglicht es ihnen, speziell auf die Bedürf-
nisse der geplanten SE zugeschnittene Regelungen zu treffen und neben der
Nutzung bewährter Beteiligungssysteme auch Mischformen oder neue Konzepte
oder Verfahren zu entwickeln. Damit soll ein sinnvoller Ausgleich der in den ein-
zelnen Mitgliedstaaten bestehenden Rechtslagen gewährleistet und zugleich
eine sachgerechte Anpassung an die Bedürfnisse und Strukturen der zu grün-
denden SE sichergestellt werden
.
b)
Die den Parteien einer Beteiligungsvereinbarung eingeräumte Autono-
mie steht nach § 21 Abs. 1 SEBG allerdings unter dem ausdrücklichen Vorbehalt
der in Abs. 6 der Norm vorgesehenen Gewährleistung. Danach muss bei der
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Gründung einer SE durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft in der Vereinba-
rung in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbeteiligung zumindest das
gleiche Ausmaß gewährleistet werden, das in der Gesellschaft besteht, die in
eine SE umgewandelt werden soll
. Damit schränkt
das Gesetz die Verhandlungsautonomie der Parteien bei der Gründung einer SE
durch Umwandlung einer Aktiengesellschaft zugunsten eines strengeren Be-
standsschutzes ein
.
c)
Nach den für das nationale Recht maßgebenden Auslegungsmethoden
gebietet § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG zur Überzeugung des Senats, dass die Par-
teien der Beteiligungsvereinbarung bei der Gründung einer SE durch Umwand-
lung in dieser sicherstellen müssen, dass die die Einflussnahme der Arbeitneh-
mer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft prägenden Elemente eines Ver-
fahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSd. § 2 Abs. 8 SEBG in gleichwertigem
Umfang auch in der zu gründenden SE erhalten bleiben. Diese Elemente sind
zunächst - jeweils bezogen auf die in der umzuwandelnden Aktiengesellschaft
schon vorhandenen Verfahren zur Beteiligung der Arbeitnehmer iSv. § 2 Abs. 8
SEBG - auf der Grundlage des hierfür maßgebenden nationalen Rechts festzu-
stellen. Die hiernach für die Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschluss-
fassung der Gesellschaft prägenden Elemente sind in gleichem Ausmaß auch in
der SE sicherzustellen. Dabei ist zu beachten, dass § 21 Abs. 6 Satz 1 SEBG
keine vollständige Aufrechterhaltung der in der umzuwandelnden Gesellschaft
vorhandenen Verfahren und des dort bestehenden Rechtszustands anordnet.
Die Verfahrenselemente, die die Einflussnahme der Arbeitnehmervertreter in der
umzuwandelnden Gesellschaft maßgebend kennzeichnen, müssen daher in der
für die SE geltenden Beteiligungsvereinbarung in qualitativ gleichwertigem Maß
gewährleistet sein.
d)
Ausgehend hiervon wären die Regelungen zur Bestimmung der Arbeit-
nehmervertreter in einem aus zwölf Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat in der
Beteiligungsvereinbarung der Arbeitgeberin nicht mit den Vorgaben des § 21
Abs. 6 SEBG vereinbar.
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aa)
Zu den die Einflussnahme der Arbeitnehmer prägenden Verfahrensele-
menten der Unternehmensmitbestimmung bei einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG mitbestimmten Aktiengesellschaft deutschen Rechts
gehört das nach § 16 MitbestG gesonderte Wahlverfahren für von Gewerkschaf-
ten vorgeschlagene Vertreter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat.
(1)
Nach § 7 Abs. 2 Nr. 2 MitbestG müssen sich bei einem Aufsichtsrat, der
sich aus je acht Aufsichtsratsmitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer
zusammensetzt, unter den Aufsichtsratsmitgliedern der Arbeitnehmer sechs Ar-
beitnehmer des Unternehmens und zwei Vertreter von Gewerkschaften befinden.
Die Wahl der Gewerkschaftsvertreter erfolgt in einem von der Wahl der übrigen
Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer getrennten Wahlgang aufgrund von
Wahlvorschlägen der Gewerkschaften, die im Unternehmen oder in einem ande-
ren Unternehmen, dessen Arbeitnehmer an der Wahl teilnehmen, vertreten sind
. Während die anderen Aufsichtsratsmitglieder der
Arbeitnehmer im Unternehmen oder in einem zu dessen Konzern gehörenden
Unternehmen beschäftigt sein müssen, sind die Gewerkschaften berechtigt, ex-
terne Personen für die Wahl vorzuschlagen; diese müssen weder Mitglied der
vorschlagenden Gewerkschaft noch bei dieser beschäftigt sein.
(2)
Das im Mitbestimmungsgesetz vorgesehene - durch ein gesondertes
Wahlverfahren abgesicherte - Recht der Gewerkschaften, für einen bestimmten
Teil der Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer Personen vorzuschlagen, be-
ruht auf der Erkenntnis des deutschen Gesetzgebers, dass die Beteiligung von
durch Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertretern ein gerade we-
gen deren Unabhängigkeit wichtiges Element der Meinungsbildung im Aufsichts-
rat darstellt
. Das Gesetz geht seit seinem Inkrafttreten
am 1. Juli 1976 unverändert davon aus, dass zu einer gleichberechtigten und vor
allem auch gleichgewichtigen Beteiligung der Anteilseigner und der Arbeitnehmer
in den Aufsichtsräten der Unternehmen auf der Arbeitnehmerseite zwingend die
Teilnahme von Vertretern der überbetrieblich organisierten Arbeitnehmerschaft,
also der im Unternehmen oder Konzern repräsentierten Gewerkschaften gehört
. Eine ausschließliche Beschränkung der möglichen
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Arbeitnehmervertreter auf Personen, die Mitglieder des Unternehmensverbands
sind, liegt danach nicht im Interesse der Arbeitnehmer selbst
. Nach den ge-
setzlichen Wertungen haben die von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Ver-
treter der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat - deren Repräsentanz durch die Wahl der
Arbeitnehmer legitimiert ist - eine die Mitbestimmung der Arbeitnehmer stärkende
Funktion. Damit soll sichergestellt werden, dass der Arbeitnehmerbank im
Aufsichtsrat Personen angehören, die über ein hohes Maß an Vertrautheit mit
den Gegebenheiten und Bedürfnissen des Unternehmens verfügen, und gleich-
zeitig externer Sachverstand vorhanden ist
.
bb)
Damit stellt das durch einen getrennten Wahlgang abgesicherte Recht
der Gewerkschaften, Vorschläge für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmit-
glieder der Arbeitnehmer zu unterbreiten, für das Verfahren der Mitbestimmung
der Arbeitnehmer in einer nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 iVm. Abs. 2 Nr. 2 MitbestG
mitbestimmten Aktiengesellschaft ein prägendes Element dar, das bei einer Um-
wandlung in eine SE in der Beteiligungsvereinbarung nach § 21 Abs. 6 SEBG in
qualitativ gleichwertigem Umfang gewährleistet werden muss
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.
(1)
In der Beteiligungsvereinbarung sicherzustellen wäre danach das Recht
von Gewerkschaften, für einen bestimmten Teil der Aufsichtsratsmitglieder der
Arbeitnehmer Personen vorzuschlagen. Zudem bedürfte es insoweit eines - vom
Bestimmungsvorgang der übrigen Arbeitnehmervertreter - gesonderten Aus-
wahlverfahrens für diese Personen durch die Arbeitnehmer oder ihre Vertreter.
Nur bei einem derart abgesicherten Nominierungsrecht ist die nach den Vorstel-
lungen des deutschen Gesetzgebers durch § 7 Abs. 2 Nr. 2 iVm. § 16 Abs. 2
MitbestG bezweckte gleichberechtigte und gleichgewichtige Beteiligung der Ar-
beitnehmer im Aufsichtsrat und damit die vor der Umwandlung bestehende Ein-
flussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Gesellschaft iSd. § 2
Abs. 8 SEBG bei der Mitbestimmung iSv. § 2 Abs. 12 SEBG auch in der SE in
gleichem Ausmaß weiterhin gegeben.
(2)
Die Gewährleistung des § 21 Abs. 6 SEBG wirkte sich auch bei der An-
zahl der von Gewerkschaften vorgeschlagenen Arbeitnehmervertreter aus, die
durch ein gesondertes Bestimmungsverfahren auszuwählen wären. Nach § 7
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Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 MitbestG sind bei einem zwölf- und sechzehnköpfigen Auf-
sichtsrat einer deutschen Aktiengesellschaft von den sechs bzw. acht Aufsichts-
ratsmitgliedern der Arbeitnehmer zwei Vertreter von Gewerkschaften. Bei einem
aus zwanzig Mitgliedern bestehenden Aufsichtsrat sind von den zehn Aufsichts-
ratsmitgliedern der Arbeitnehmer drei Vertreter von Gewerkschaften
. Diese vom deutschen Gesetzgeber vor-
genommene Gewichtung bestimmt das Ausmaß der durch § 21 Abs. 6 SEBG
gesicherten Einflussnahme der Arbeitnehmer auf die Beschlussfassung der Ge-
sellschaft. Daher muss sie - soweit rechnerisch möglich - im Aufsichtsrat der SE
anteilig bezogen auf die durch die Größe des Aufsichtsrats bedingte Anzahl der
Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer weiter gewährleistet sein. Bei einer Ver-
kleinerung des Aufsichtsrats - wie im Ausgangsverfahren möglich - von ehemals
16 Mitgliedern in der Aktiengesellschaft auf zwölf in der SE wären die Parteien
der Beteiligungsvereinbarung daher gehalten, den Gewerkschaften zumindest
für ein Aufsichtsratsmitglied der Arbeitnehmer ein ausschließliches Vorschlags-
recht zuzubilligen.
(3)
Das in der Beteiligungsvereinbarung sicherzustellende ausschließliche
Vorschlagsrecht der Gewerkschaften für einen bestimmten Teil der Aufsichtsrats-
mitglieder der Arbeitnehmer müsste sich dabei nicht auf die im Unternehmen
oder Konzern vertretenen deutschen Gewerkschaften beschränken. Mit der Ver-
handlungslösung wird den Parteien der Beteiligungsvereinbarung - unter Berück-
sichtigung der Vorgaben des § 21 Abs. 6 SEBG - die Möglichkeit eröffnet, spezi-
ell auf die Bedürfnisse der geplanten SE zugeschnittene Regelungen zu treffen,
um eine sachgerechte Anpassung an deren Strukturen zu ermöglichen. Zu den
Eigenheiten einer SE gehört die unionsweite Beteiligung der Arbeitnehmer und
die dadurch bedingte Internationalisierung der Arbeitnehmervertreter im Auf-
sichtsrat. Dem widerspräche es, würde nur auf deutsche Gewerkschaften abge-
stellt.
e)
Diesen sich aus § 21 Abs. 6 SEBG ergebenden Anforderungen genügen
die Regelungen über den zwölfköpfigen Aufsichtsrat in der Beteiligungsvereinba-
rung der Arbeitgeberin vom 10. März 2014 nicht. Zwar können die im Konzern
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der Arbeitgeberin vertretenen Gewerkschaften Wahlvorschläge für die Wahl der
Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer unterbreiten. Da für diese jedoch kein
gesondertes Auswahlverfahren vorgesehen ist, stellen die Regelungen in Teil II
Nr. 3.4 der Beteiligungsvereinbarung nicht ausreichend sicher, dass sich unter
den Vertretern der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat auch tatsächlich eine von Ge-
werkschaften vorgeschlagene Person befindet.
II.
Für den Senat stellt sich allerdings die Frage, ob diese - von ihm vorzu-
nehmende - Auslegung des § 21 Abs. 6 SEBG mit den Vorgaben des Art. 4
Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG vereinbar ist.
Die unionsrechtliche Regelung sieht vor, dass unbeschadet des Art. 13
Abs. 3 Buchst. a dieser Richtlinie in der Vereinbarung im Falle einer durch Um-
wandlung gegründeten SE in Bezug auf alle Komponenten der Arbeitnehmerbe-
teiligung zumindest das gleiche Ausmaß gewährleistet werden muss, das in der
Gesellschaft besteht, die in eine SE umgewandelt werden soll. Sollte der Norm
ein - gegebenenfalls von allen Mitgliedstaaten in gleichem Maß sicherzustellen-
des - anderes Verständnis mit einem unionsweit einheitlichen, geringeren
Schutzniveau zugrunde liegen, wäre der Senat gehalten, § 21 Abs. 6 SEBG dem-
entsprechend unionsrechtskonform auszulegen.
Welche - von den Mitgliedstaaten umzusetzenden - Anforderungen sich
aus Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2001/86/EG für das in der Beteiligungsvereinba-
rung zugunsten der Arbeitnehmer zu gewährleistende Schutzniveau ergeben,
lässt sich nicht mit der für ein letztinstanzliches Gericht gebotenen Sicherheit be-
urteilen. Die Regelung war bislang nicht Gegenstand einer Auslegung durch den
Gerichtshof der Europäischen Union. Die richtige Anwendung des Unionsrechts
ist auch nicht offenkundig. Die damit erforderliche Auslegung von Art. 4 Abs. 4
der Richtlinie 2001/86/EG obliegt dem Gerichtshof der Europäischen Union.
Schmidt
K. Schmidt
Ahrendt
Hayen
Fritz
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