Urteil des BAG vom 28.07.2020

Betriebsvereinbarung - unmittelbare und zwingende Geltung

Bundesarbeitsgericht
Beschluss vom 28. Juli 2020
Erster Senat
- 1 ABR 4/19 -
ECLI:DE:BAG:2020:280720.B.1ABR4.19.0
I. Arbeitsgericht München
Beschluss vom 15. November 2017
- 37 BV 49/17 -
II. Landesarbeitsgericht München
Beschluss vom 15. Juni 2018
- 3 TaBV 6/18 -
Entscheidungsstichworte:
Betriebsvereinbarung - unmittelbare und zwingende Geltung
Leitsatz:
Die Betriebsparteien können die normative Geltung einer von ihnen ge-
schlossenen Betriebsvereinbarung nicht an ein Zustimmungsquorum der
Normunterworfenen binden.
ECLI:DE:BAG:2020:280720.B.1ABR4.19.0
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BUNDESARBEITSGERICHT
1 ABR 4/19
3 TaBV 6/18
Landesarbeitsgericht
München
Im Namen des Volkes!
Verkündet am
28. Juli 2020
BESCHLUSS
Metze, Urkundsbeamter
der Geschäftsstelle
In dem Beschlussverfahren mit den Beteiligten
1.
Antragsteller, Beschwerdeführer und Rechtsbeschwerdeführer,
2.
hat der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgrund der Beratung vom
28. Juli 2020 durch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts Schmidt,
die Richterinnen am Bundesarbeitsgericht K. Schmidt und Dr. Ahrendt sowie
die ehrenamtliche Richterin Schwitzer und den ehrenamtlichen Richter
Prof. Dr. Rose für Recht erkannt:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats wird der Be-
schluss des Landesarbeitsgerichts München vom 15. Juni
2018 - 3 TaBV 6/18 - teilweise aufgehoben.
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1 ABR 4/19
ECLI:DE:BAG:2020:280720.B.1ABR4.19.0
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Auf die Beschwerde des Betriebsrats wird der Beschluss
des Arbeitsgerichts München vom 15. November 2017
- 37 BV 49/17 - teilweise abgeändert und zur Klarstellung
wie folgt gefasst:
Unter Antragsabweisung im Übrigen wird fest-
gestellt, dass die
„Betriebsvereinbarung über
variable Vergütung im Lager
“ vom 22. Februar
2007 unwirksam ist.
Von Rechts wegen!
Gründe
A.
Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsvereinbarung.
Die Arbeitgeberin erbringt logistische Dienstleistungen. Zu diesem
Zweck unterhält sie in ihrem Betrieb, in dem der antragstellende Betriebsrat ge-
wählt ist, ein Lager. Hinsichtlich der dort beschäftigten Arbeitnehmer schlossen
die Betriebsparteien im Februar 2007 die - vom Betriebsrat mittlerweile gekün-
digte -
„Betriebsvereinbarung über variable Vergütung im Lager“ (BV Verg). Nach
deren § 2 Nr. 3 setzt sich ein im einzelnen bestimmter Vergütungsbestandteil aus
einer nach Maßgabe des § 3 BV Verg geregelten anwesenheitsbezogenen und
einer durch § 4 BV Verg ausgestalteten leistungsbezogenen Komponente zu-
sammen. Die BV Verg lautet im Übrigen auszugsweise:
㤠1
Geltungsbereich
1.
Diese Betriebsvereinbarung gilt für alle Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter (nachfolgend zusammenfassend
Mitarbeiter) des Lagers des Betriebs in P unter Be-
rücksichtigung von § 12.
§ 2
Gegenstand der vorliegenden Betriebsvereinbarung
1.
Die bei Unterzeichnung dieser Betriebsvereinbarung
(Stichtag) beschäftigten Mitarbeiter erhalten derzeit
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1 ABR 4/19
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zum
Teil eine ‚Flexible Leistungs- und Anwesenheits-
prämie‘ bzw. eine Zulage in Form einer Erfolgsbeteili-
gung oder sonstigen monatlichen Zulage (
‚variable
Vergütung‘). Die variable Vergütung wird vollumfäng-
lich zum Gegenstand der vorliegenden Betriebsver-
einbarung gemacht und richtet sich zukünftig nach
den zwischen den Betriebsparteien gemäß den in der
vorliegenden Betriebsvereinbarung geregelten Vo-
raussetzungen.
§ 12
Schlussbestimmungen
1.
Diese Betriebsvereinbarung tritt für alle Mitarbeiter mit
Wirkung ab dem 01.07.2007 unter der Bedingung in
Kraft, dass 80% der abgegebenen Stimmen bis zum
Ablauf der vom Unternehmen jeweils gesetzten Frist
der Betriebsvereinbarung einzelvertraglich schriftlich
zugestimmt haben. Hierzu erhalten die Mitarbeiter ein
schriftliches Angebot des Unternehmens.
Wird diese Zustimmungsquote von 80% unterschrit-
ten, kann das Unternehmen dies dennoch für ausrei-
chend erklären; in diesem Fall gilt die Betriebsverein-
barung im Geschäftsjahr 2008 (01.07.2007 bis
30.06.2008) nur für diejenigen Mitarbeiter, die der
Geltung einzelvertraglich schriftlich zugestimmt ha-
ben. Beträgt die Zustimmungsquote mindestens 60%,
aber weniger als 80% und hat das Unternehmen dies
für ausreichend erklärt und beträgt der Ziel-
erreichungsgrad im Geschäftsjahr 2008 mindestens
85% im Jahresdurchschnitt, gilt die Betriebsvereinba-
rung ab dem 01.07.2008 für alle Mitarbeiter, ansons-
ten gilt sie für alle Mitarbeiter, sobald in einem Ge-
schäftsjahr der Zielerreichungsgrad von 85% über-
schritten wurde.
Für ab dem Stichtag neu eingestellte Mitarbeiter gilt
die Betriebsvereinbarung ab In-Kraft-Treten.
5.
Die Betriebsvereinbarung kann mit einer Frist von
12
Monaten schriftlich gekündigt werden. …
6.
Nach Ablauf der Kündigungsfrist wirkt diese Betriebs-
vereinbarung nach, bis sie durch eine andere Abma-
chung ersetzt wird. ...
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Der Betriebsrat hat mit seinem im Februar 2017 eingeleiteten Verfahren
die Nichtigkeit, hilfsweise die Unwirksamkeit der BV Verg - äußerst hilfsweise
einzelner ihrer Regelungen - geltend gemacht. Die BV Verg sei keine Betriebs-
vereinbarung. Jedenfalls verstoße sie gegen die Regelungssperre des § 77
Abs. 3 Satz 1 BetrVG und das EFZG sowie - wegen der Absenkung arbeitsver-
traglicher Entgelte - gegen das Günstigkeitsprinzip.
Der Betriebsrat hat - soweit für die Rechtsbeschwerde von Bedeutung -
beantragt
festzustellen, dass die „Betriebsvereinbarung über variable
Vergütung im Lager“ vom 22. Februar 2007 unwirksam ist;
hilfsweise festzustellen, dass §§ 2, 3, 4 und 12
der „Be-
triebsvereinbarung über variable Vergütung im Lager“ vom
22. Februar 2007 unwirksam sind.
Die Arbeitgeberin hat Antragsabweisung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat die - dort hauptsächlich auf Nichtigkeit der
BV Verg infolge einer erklärten Anfechtung gerichteten - Anträge des Betriebs-
rats abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen gerichtete Be-
schwerde des Betriebsrats zurückgewiesen. Mit Beschluss vom 15. Januar 2019
hat der Senat die Rechtsbeschwerde hinsichtlich der Abweisung der in den Vor-
instanzen hilfsweise angebrachten Feststellungsanträge für den Betriebsrat zu-
gelassen. Diese verfolgt der Betriebsrat mit seiner Rechtsbeschwerde weiter.
B.
Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die
Beschwerde des Betriebsrats gegen die - dessen Hilfsanträge abweisende - Ent-
scheidung des Arbeitsgerichts zu Unrecht zurückgewiesen. Der auf die Feststel-
lung der Unwirksamkeit der BV Verg gerichtete Hauptantrag ist zulässig und be-
gründet.
I.
Der Feststellungsantrag begegnet keinen Zulässigkeitsbedenken. Die
Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind erfüllt.
1.
Die Geltung einer Betriebsvereinbarung kann als Rechtsverhältnis zum
Gegenstand eines Feststellungsantrags in einem arbeitsgerichtlichen Beschluss-
verfahren erhoben werden
.
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Soweit der Betriebsrat (auch) die Ansicht vertreten hat, die BV Verg sei keine
Betriebsvereinbarung, bewirkt das nicht die Unzulässigkeit seines auf die Fest-
stellung ihrer Unwirksamkeit gerichteten Rechtsschutzziels. Die BV Verg ist ein
von den Betriebsparteien vereinbartes betriebliches Regelungswerk, dem jeden-
falls die Arbeitgeberin die Wirkungen einer Betriebsvereinbarung beimisst.
2.
Für den Antrag besteht das nach § 256 Abs. 1 ZPO notwendige Feststel-
lungsinteresse. Dieses ist aufgrund der Kündigung der BV Verg nicht entfallen.
Die Betriebsparteien haben mit § 12 Nr. 6 BV Verg die Nachwirkung ihrer Rege-
lungen vereinbart
.
3.
Die Mitwirkung des Betriebsrats am Abschluss der BV Verg steht der
Geltendmachung ihrer Unwirksamkeit nicht entgegen. Die Arbeitgeberin qualifi-
ziert die BV Verg als objektives betriebliches Recht. Sowohl im eigenen als auch
im Interesse der von ihrem Geltungsbereich erfassten Arbeitnehmer muss der
Betriebsrat deshalb die Möglichkeit haben, die Wirksamkeit der BV Verg zur ge-
richtlichen Überprüfung zu stellen
.
II.
Der Antrag ist begründet. Die BV Verg ist eine Betriebsvereinbarung. Ihre
Schlussbestimmungen in § 12 Nr. 1 sind unwirksam. Mit ihnen haben die Be-
triebsparteien ihre Regelungskompetenz überschritten. Das bewirkt die Unwirk-
samkeit der gesamten BV Verg.
1.
Mit der BV Verg haben Arbeitgeberin und Betriebsrat eine Betriebsver-
einbarung geschlossen.
a)
Die Maßgaben einer Betriebsvereinbarung sind gesetzlich nicht definiert.
§ 77 BetrVG sieht sie als Fall der in Abs.
1 genannten „Vereinbarungen zwischen
Betriebsrat und Arbeitgeber“ und enthält in Abs. 2 bis Abs. 6 Regelungen zu ih-
rem Zustandekommen, ihrer Wirkung und ihrer Beendigung. Danach ist sie eine
schriftformgebundene
Vereinbarung zwi-
schen Betriebsrat und Arbeitgeber mit unmittelbarer und zwingender Geltung
. Mit ihr ist objektives betriebliches Recht geschaffen,
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das automatisch auf jedes im Geltungsbereich der jeweiligen Betriebsvereinba-
rung bestehende Arbeitsverhältnis einwirkt. Dieser Charakter der Betriebsverein-
barung als privatrechtlich kollektiver und objektives Recht setzender Normenver-
trag der Betriebsparteien
grenzt sie von der Regelungsabrede ab. Letztere wirkt
nicht normativ. Sollen mit ihr Rechte und Pflichten für Arbeitnehmer begründet
werden, bedarf sie der individuellen Umsetzung. Auch hängt ihre Wirksamkeit
nicht von der Einhaltung der Schriftform ab.
b)
Danach handelt es sich bei der BV Verg um eine Betriebsvereinbarung.
(1)
Darauf deutet bereits neben ihrer Bezeichnung die in einer Vielzahl ihrer
Bestimmungen - so etwa in § 2 Nr. 1 BV Verg - verwandte Terminologie
„diese
Betriebsvereinba
rung“ hin. Auch ist die BV Verg schriftlich niedergelegt und von
beiden Seiten unterzeichnet iSd. § 77 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 Halbs. 1 BetrVG.
(2)
Zudem zeigen die Regelungsinhalte der BV Verg, dass Arbeitgeberin
und Betriebsrat mit der BV Verg keine Regelungsabrede getroffen haben, bei der
sie sich ihrer normativen Gestaltungsmöglichkeit begeben hätten. Vor allem § 2
Nr. 1 BV Verg verdeutlicht unmissverständlich, dass die variable Vergütung mit
unmittelbar anspruchsbegründender Wirkung für die in den Geltungsbereich der
BV Verg fallenden Arbeitnehmer geregelt ist. Nichts anderes folgt - entgegen der
Annahme des Betriebsrats - aus § 12 Nr. 1 BV Verg. Auch danach sollen die in-
haltlichen Bestimmungen zu einer variablen Vergütung keiner Umsetzung auf
vertraglicher Ebene bedürfen, sondern die BV Verg - nach Satz 1 der Regelung -
„für alle“ Mitarbeiter mit Wirkung ab dem 1. Juli 2007 in Kraft treten, wenn ein
näher festgelegtes
Mindestquorum („80% der abgegebenen Stimmen“) erreicht
ist (mit der Folge, dass die BV Verg dann für alle geltungsbereichsrelevanten Ar-
beitnehmer gilt), oder ihr Geltungsbereich unter bestimmten Hilfsbedingun-
gen - nach Satz 2 und 3 der Regelung - anders festgelegt ist (mit der Folge, dass
die BV Verg dann für einen Teil der Arbeitnehmer gilt). Ebenso zeigt die abschlie-
ßende Regelung in § 12 Nr. 1 BV Verg
, wonach „[f]ür ab dem Stichtag neu ein-
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gestellte Mitarbeiter
… die Betriebsvereinbarung ab In-Kraft-Treten“ gilt, nach-
drücklich den auf eine Normwirkung zielenden Abschluss einer Betriebsverein-
barung.
2.
§ 12 Nr. 1 BV Verg ist unwirksam. Die Vorschrift bestimmt für das Inkraft-
treten der BV Verg neben einem zeitlichen Moment einen situativen Aspekt. Letz-
terer ist im Wesentlichen als Quorum
„einzelvertraglich schriftlicher Zustimmun-
gen“ der Mitarbeiter - was diejenigen meint, die unter den Geltungsbereich der
BV Verg fallen - festgelegt. Damit haben Arbeitgeberin und Betriebsrat für die
Wirkung der BV Verg eine (Suspensiv-)Bedingung geregelt. Hierzu vermittelt das
Betriebsverfassungsgesetz keine Regelungsbefugnis.
a)
Zwar ist der Abschluss einer Betriebsvereinbarung nicht per se bedin-
gungsfeindlich. So kann ihre Wirksamkeit etwa an die Bedingung des Inkrafttre-
tens eines Firmentarifvertrags geknüpft sein
oder - im Bereich der betrieblichen Altersversor-
gung - von einer im Beschlussverfahren herbeizuführenden gerichtlichen Ent-
scheidung über die Wirksamkeit der Ablösung einer Versorgungsordnung abhän-
gig gemacht werden
. Insoweit bestehen gegen den Abschluss einer Betriebsverein-
barung unter einer aufschiebenden Bedingung jedenfalls dann keine rechtlichen
Bedenken, wenn der Eintritt der vereinbarten Bedingung für alle Beteiligten, auch
für die Arbeitnehmer als Normunterworfene, ohne Weiteres feststellbar ist
.
b)
Mit ihrem § 12 Nr. 1 ist die Wirkung der BV Verg aber an die Bedingung
des Erreichens einer vertraglichen Zustimmungsquote der (potentiell) Normun-
terworfenen geknüpft. Eine solche Gestaltung ist den Betriebsparteien verwehrt.
Sie verstößt gegen die normative Geltungsanordnung für Betriebsvereinbarun-
gen und widerspricht dem betriebsverfassungsrechtlichen Strukturprinzip der Re-
präsentation der Belegschaft durch den Betriebsrat.
aa)
Soweit dem Betriebsrat Mitbestimmungs-, Mitwirkungs-, Beteiligungs-
und Unterrichtungsrechte zukommen, ist er bei der Ausübung dieser Rechte in
der Wahl seiner Mittel - in den Grenzen der allgemeinen Bestimmungen - frei
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. Hingegen stehen die Rechtswirkungen
gewählter Mittel nicht zu seiner Disposition. Entsprechend können die Betriebs-
parteien nicht, wie hier mit § 12 Nr. 1 BV Verg bewirkt, den Normwirkungsbefehl
des § 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG außer Kraft setzen.
(1)
Zur Wirkungsweise einer Betriebsvereinbarung enthält das BetrVG in
seinem § 77 Abs. 4 Satz 1 - anders noch als das BetrVG 1952 - die ausdrückli-
che Anordnung einer unmittelbaren und zwingenden Geltung. Mit der 1972 erst-
mals kodifizierten Regelung wurde die schon zum BetrVG 1952 vertretene Auf-
fassung zur Rechtswirkung einer Betriebsvereinbarung
gesetzlich bestätigt.
(a)
Die unmittelbare Geltung einer Betriebsvereinbarung besagt, dass diese
ebenso wie Gesetze von außen und unabhängig von der Kenntnis und dem Wil-
len der Arbeitsvertragsparteien auf das Arbeitsverhältnis einwirken und nicht In-
halt des Arbeitsvertrags werden. Arbeitnehmer werden hierdurch heteronomen
Regelungen unterworfen, die Arbeitgeber und der von den Arbeitnehmern ge-
wählte Betriebsrat vereinbart haben. Das ist mit dem Grundgesetz vereinbar
.
(b)
Die zwingende Geltung von Betriebsvereinbarungen liegt darin, dass ab-
weichende arbeitsvertragliche Regelungen über den gleichen Regelungsgegen-
stand - soweit sie nicht für die Arbeitnehmer günstiger sind - ausgeschlossen sind
.
(2)
§ 77 Abs. 4 Satz 1 BetrVG ist nicht abdingbar. Allenfalls können die Be-
triebsparteien die zwingende Geltung einer Betriebsvereinbarung für konkrete ar-
beitsvertragliche Abweichungen ähnlich wie Tarifvertragsparteien öffnen
. Ein Zustimmungsvorbehalt oder Vetorecht
(eines Teils) der Normunterworfenen im Zusammenhang mit der betrieblichen
Rechtsetzung durch Betriebsvereinbarungen läuft jedoch deren von Gesetzes
wegen angeordneten unmittelbaren und zwingenden Geltung zuwider. Eine Be-
triebsvereinbarung gestaltet unabhängig vom Willen oder der Kenntnis der Par-
teien eines Arbeitsvertrags das Arbeitsverhältnis und erfasst auch später eintre-
tende Arbeitnehmer. Das schließt es aus, ihre normative Geltung - wie hier mit
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§ 12 Nr. 1 BV Verg geschehen - an das Erreichen eines Zustimmungsquorums
verbunden mit dem Abschluss einer einzelvertraglichen Vereinbarung mit dem
Arbeitgeber zu knüpfen.
bb)
Auch widerspricht § 12 Nr. 1 BV Verg dem betriebsverfassungsrechtli-
chen Strukturprinzip der Repräsentation der Arbeitnehmer durch den Betriebsrat.
(1)
Die Betriebsverfassung beteiligt Arbeitnehmer über abgestufte Beteili-
gungsrechte an Willensbildung und Entscheidungen des Arbeitgebers im Betrieb.
Die Beteiligungsrechte werden nicht von der Belegschaft, sondern von den Kol-
lektivvertretungen - insbesondere Betriebsrat, Gesamtbetriebsrat und Konzern-
betriebsrat - wahrgenommen. Diese sind als Organe der Betriebsverfassung im
eigenen Namen kraft Amts tätig; das gilt auch für ihre Stellung gegenüber der
Belegschaft und einzelnen Betriebsangehörigen. Als Repräsentant der Beleg-
schaft ist der Betriebsrat von Weisungen oder vom Willen der Arbeitnehmer un-
abhängig. Er hat seine gesetzlichen Pflichten selbst zu erfüllen
. Ihm kommt weder ein imperatives Mandat zu noch wäre ein Misstrau-
ensvotum der Belegschaft rechtlich von Bedeutung
.
(2)
Die auf einer regelmäßigen demokratischen Wahl beruhende Repräsen-
tanz der Belegschaft durch den Betriebsrat vermittelt dessen Legitimation zur be-
trieblichen Rechtsetzung durch die Betriebsparteien
. Sie ist zudem durch den im
Grundsatz der Verhältniswahl verankerten Minderheitenschutz bei der Wahl des
Betriebsrats sowie seiner Arbeit, Organisation und Geschäftsführung flankiert.
Demgegenüber sind die
Möglichkeiten der „Beeinflussung“ des gewählten Be-
triebsrats im Hinblick auf die Art und Weise der Ausübung der ihm obliegenden
Aufgaben durch die Arbeitnehmer gesetzlich limitiert
. Das schließt eine inhaltliche Gremienarbeit des Betriebs-
rats unter Berücksichtigung verlautbarter oder eruierter Belegschaftsinteressen
nicht aus. Eine unmittelbare Bindung der Normwirkung einer Betriebsvereinba-
rung an diese Interessen - wie hier mit § 12 Nr. 1 BV Verg bewirkt - ist jedoch mit
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der Stellung des Betriebsrats unvereinbar. Plebiszitäre Elemente bei der Norm-
setzung durch die Betriebsparteien sind der Betriebsverfassung fremd.
3.
Die Unwirksamkeit ihrer Geltungsanordnung bedingt die Gesamtunwirk-
samkeit der BV Verg. Zwar ist eine Betriebsvereinbarung regelmäßig nur teilun-
wirksam, wenn der verbleibende Teil auch ohne die unwirksame Bestimmung
noch eine sinnvolle und in sich geschlossene Regelung darstellt. Das folgt - nach
dem Rechtsgedanken des § 139 BGB - aus ihrem Normcharakter, der es gebie-
tet, im Interesse der Kontinuität eine einmal gesetzte Ordnung aufrechtzuerhal-
ten, soweit sie ihre Funktion auch ohne den unwirksamen Teil entfalten kann
. Dies betrifft
indes die Unwirksamkeit inhaltlicher Teilregelungen einer Betriebsvereinbarung.
Der Rechtsgedanke trägt nicht, wenn der Unwirksamkeitsgrund nicht den Inhalt
der normativen Vereinbarung betrifft, sondern deren Wirkung und damit die
Frage, „ob“ sie als Normenvertrag überhaupt Geltung beansprucht.
Schmidt
Ahrendt
K. Schmidt
H. Schwitzer
Rose
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