Urteil des BAG vom 22.11.2012

Außerordentliche Kündigung - Zwei-Wochen-Frist - Betriebsratsanhörung

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 22.11.2012, 2 AZR 732/11
Außerordentliche Kündigung - Zwei-Wochen-Frist
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Hamm vom 12. April 2011 - 19 Sa 1951/10 - wird auf seine Kosten
zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Sie
streiten ferner - in Abhängigkeit vom Ausgang des Kündigungsrechtsstreits - über
Abrechnung und Zahlung von Vergütung unter dem Gesichtspunkt des Annahmeverzugs.
2 Die Beklagte stellt Transportgeräte her. Sie beschäftigt regelmäßig mehr als zehn
Arbeitnehmer. Der 1950 geborene Kläger war seit April 1977, zuletzt als Leiter
Buchhaltung/Finanzen/Personal bei ihr tätig.
3 Anfang 2003 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger über einen längeren Zeitraum
hinweg unberechtigt Firmengelder iHv. rund 280.500,00 Euro vereinnahmt hatte. Der
Kläger gestand dies zu. Im Rahmen eines notariellen Schuldanerkenntnisses trat er im
März 2003 den pfändbaren Teil seines Arbeitseinkommens an die Beklagte ab und
gewährte ihr weitere Sicherheiten. Die Beklagte beschäftigte den Kläger weiter. Sie beließ
es bei einer ihm erteilten Kontovollmacht, verschärfte allerdings ihre Kontrollen. Unter
anderem verpflichtete sie den Kläger, der Geschäftsführung für Überweisungen, die von
Firmenkonten getätigt wurden, Belege vorzulegen.
4 Im April 2007 ging der Beklagten ein zugunsten einer anderen Gläubigerin des Klägers
ausgestellter Pfändungs- und Überweisungsbeschluss zu, mit dem seine
Gehaltsansprüche wegen einer Forderung iHv. 48.900,00 Euro gepfändet wurden. Ende
April 2007 stellte sie den Kläger von der Verpflichtung zur Arbeitsleistung frei. Im selben
Zeitraum traten neue Unregelmäßigkeiten im Verhalten des Klägers zutage.
Nachforschungen bei Kreditinstituten ergaben, dass dieser - zumindest in zwei Fällen -
ohne rechtlichen Grund Firmengelder auf sein Konto überwiesen hatte. Die Vorgänge
hatte er durch Erstellung fingierter Belege verschleiert.
5 Nach Anhörung des Betriebsrats kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien
mit Schreiben vom 10. Mai 2007 außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgerecht. Der
hiergegen gerichteten Kündigungsschutzklage wurde - rechtskräftig - stattgegeben, da der
Betriebsrat nicht ordnungsgemäß angehört worden sei.
6 Im Rahmen von Ermittlungen stieß die Beklagte auf weitere unrechtmäßige
Überweisungen. Nach neuerlicher Anhörung des Betriebsrats kündigte sie das
Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 15. August 2007 abermals fristlos. Das
Landesarbeitsgericht gab der Kündigungsschutzklage statt, erneut wegen fehlerhafter
Betriebsratsanhörung. Das Urteil ist rechtskräftig.
7 Am 29. Juni 2007 erstattete die Beklagte Strafanzeige. Am 21. Mai 2008 erhob die
Staatsanwaltschaft gegen den Kläger Anklage. Sie legte ihm zur Last, sich in 74 Fällen
der Untreue zum Nachteil der Beklagten schuldig gemacht zu haben. Mit Blick darauf hörte
die Beklagte den Betriebsrat am 19. November 2008 zu einer beabsichtigten ordentlichen
Kündigung des Arbeitsverhältnisses an. Mit Beschluss vom 18. November 2008 hatte das
Amtsgericht die öffentliche Klage zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Nachdem
sie davon erfahren hatte, führte die Beklagte eine weitere Betriebsratsanhörung zu einer
auch auf diesen Gesichtspunkt gestützten fristlosen Kündigung durch. Mit Zustimmung des
Betriebsrats kündigte sie das Arbeitsverhältnis am 25. November 2008 außerordentlich
fristlos, hilfsweise fristgerecht zum 30. Juni 2009. Sie erklärte die fristlose Kündigung
sowohl als Tat- als auch als Verdachtskündigung. Das Landesarbeitsgericht gab der
dagegen gerichteten Klage - rechtskräftig - statt; die fristlose Kündigung sei nicht binnen
der Frist des § 626 Abs. 2 BGB erklärt worden, die ordentliche Kündigung sei aufgrund der
einzelvertraglich in Bezug genommenen Bestimmung des § 20 Nr. 4 MTV Metall- und
Elektroindustrie NRW ausgeschlossen.
8 Am 24. August 2009 fand vor dem Amtsgericht die Hauptverhandlung gegen den Kläger
statt. Die Staatsanwaltschaft beantragte, nachdem das Verfahren in vier Punkten
eingestellt worden war, wegen 67 angeklagter - die Jahre 2005 bis 2007 betreffender -
Taten, den Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten ohne
Bewährung zu verurteilen; in drei Anklagepunkten beantragte sie Freispruch. Die
Verteidigung des Klägers schloss sich dem mit der Maßgabe an, den Kläger zu einer
Freiheitsstrafe von zehn Monaten zu verurteilen und die Strafe zur Bewährung
auszusetzen. Das Amtsgericht verurteilte den Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von
einem Jahr und fünf Monaten ohne Bewährung. Es sah es aufgrund einer durchgeführten
Beweisaufnahme als erwiesen an, dass der Kläger in der fraglichen Zeit in 67 Fällen
Firmengelder iHv. ingesamt 44.061,54 Euro veruntreut habe. Bei der Verhandlung und
Urteilsverkündigung waren ein Geschäftsführer der Beklagten und ihr
Prozessbevollmächtigter anwesend.
9 Auf ihren noch am selben Tag gestellten Antrag wurden der Beklagten am 11. September
2009 Abschriften des Verhandlungsprotokolls und des Strafurteils zur Verfügung gestellt.
Nach Unterrichtung des Betriebsrats kündigte sie das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom
22. September 2009 erneut fristlos.
10 Dagegen hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben. Außerdem hat er Zahlungs- und
Abrechnungsansprüche für die Monate Oktober bis Dezember 2009 geltend gemacht.
11 Noch im Verlauf des ersten Rechtszuges kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit
Schreiben vom 4. Dezember 2009 ein weiteres Mal, nunmehr mit der Begründung, der
Kläger habe sich herabsetzend über ihr steuerliches Verhalten geäußert. In einem
hierüber getrennt geführten Kündigungsschutzprozess stellte das Arbeitsgericht mit Urteil
vom 23. Juni 2010 fest, dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch diese Kündigung
nicht aufgelöst worden ist. Das Urteil ist - insoweit - rechtskräftig.
12 Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Kläger die Auffassung vertreten, seiner
Kündigungsschutzklage sei angesichts des Urteils vom 23. Juni 2010 ohne Weiteres
stattzugeben. Aufgrund dieser Entscheidung stehe zwischen den Parteien bindend fest,
dass zwischen ihnen noch am 4. Dezember 2009 ein Arbeitsverhältnis bestanden habe.
Damit stehe zugleich fest, dass es nicht durch die fristlose Kündigung vom 22. September
2009 aufgelöst worden sei. Im Übrigen sei auch diese Kündigung unwirksam, weil die
Erklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht gewahrt und die Betriebsratsanhörung
fehlerhaft sei.
13 Der Kläger hat - zusammengefasst und unter Berücksichtigung einer in der
Revisionsinstanz erfolgten Klarstellung - zuletzt beantragt
1. festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis
durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom
22. September 2009 nicht aufgelöst worden ist;
2. die Beklagte zu verurteilen, für die Monate Oktober 2009 und Dezember 2009
jeweils einen Gehaltsbruttobetrag iHv. 5.749,75 Euro und für den Monat
November 2009 einen Gehaltsbruttobetrag iHv. 8.979,98 Euro abzurechnen
und die betreffenden Beträge, vermindert um auf die Bundesagentur für Arbeit
übergegangene Ansprüche iHv. 528,01 Euro und vermindert um auf die
Beklagte übergegangene Ansprüche iHv. je 1.437,05 Euro für die Monate
Oktober und Dezember 2009 sowie 3.078,85 Euro für den Monat November
2009, jeweils zuzüglich Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem
Basiszinssatz auf das volle Bruttogehalt seit dem ersten Kalendertag eines
jeden Folgemonats an ihn bzw. eine evtl. Drittgläubigerin auszuzahlen;
hilfsweise
festzustellen, dass er für die Monate Oktober und Dezember 2009 jeweils
Inhaber einer von der Beklagten nicht abgerechneten Bruttolohnforderung iHv.
5.749,75 Euro und für den Monat November 2009 Inhaber einer von der
Beklagten nicht abgerechneten Bruttolohnforderung iHv. 8.979,98 Euro ist;
hilfsweise dazu
festzustellen, dass er für die Monate Oktober, November und Dezember 2009
jeweils Inhaber einer nicht abgerechneten Bruttoforderung in der im
vorstehenden Hilfsantrag bezeichneten Höhe ist, die - bezogen auf die
Monate Oktober und Dezember 2009 - iHv. je 1.437,05 Euro netto auf die
Beklagte und iHv. je 528,01 Euro netto auf die Arbeitsgemeinschaft für Arbeit
im Kreis Herford übergegangen ist und die - bezogen auf den Monat
November 2009 - iHv. 3.078,85 Euro netto auf die Beklagte und iHv.
528,01 Euro auf die Arbeitsgemeinschaft für Arbeit im Kreis Herford
übergangen ist;
hilfsweise zu allem Vorstehenden
die Beklagte zu verurteilen, an ihn für die Monate Oktober, November und
Dezember 2009 je 1.067,65 Euro netto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten
über dem Basiszinssatz seit dem 1. Kalendertag eines jeden Folgemonats zu
zahlen
sowie
die Beklagte zu verurteilen, für die Monate Oktober und Dezember 2009
jeweils 1.604,08 Euro Lohnsteuer, 144,36 Euro Kirchensteuer und 88,22 Euro
Solidaritätszuschlag und für den Monat November 2009 2.932,08 Euro
Lohnsteuer, 263,88 Euro Kirchensteuer und 161,26 Euro Solidaritätszuschlag
an das zuständige Betriebsstättenfinanzamt, namentlich das Finanzamt
Bielefeld-Außenstadt, sowie für die Monate Oktober bis Dezember 2009
jeweils insgesamt 1.074,60 Euro an Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen
zur Rentenversicherung an die Deutsche Rentenversicherung und jeweils
insgesamt 151,20 Euro an Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträgen zur
Arbeitslosenversicherung an die Bundesagentur für Arbeit abzuführen.
14 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, die
fristlose Kündigung sei gerechtfertigt. Der Kläger habe nach Abgabe des
Schuldanerkenntnisses weitere Firmengelder veruntreut, zumindest in den im
Strafverfahren nachgewiesenen 67 Fällen. Die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB
habe sie gewahrt. Der Kläger habe im Strafverfahren die fraglichen Taten mittelbar
dadurch eingeräumt, dass er in der Verhandlung vom 24. August 2009 keinen
umfassenden Freispruch, sondern die Verhängung einer Bewährungsstrafe beantragt
habe. Dies sei als neue Tatsache zu werten. Um dem Betriebsrat insoweit etwas
„Greifbares“ bieten zu können, habe sie die Übersendung des Protokolls und der
schriftlichen Urteilsgründe abwarten dürfen. Die anschließende Anhörung des Betriebsrats
sei ordnungsgemäß erfolgt. Etwaige Fehler bei der Beschlussfassung des Gremiums
seien ihr nicht zuzurechnen. Die auf Zahlung und Abrechnung gerichteten Anträge seien
schon deshalb unbegründet, weil zwischen den Parteien seit Zugang der Kündigung vom
22. September 2009 kein Arbeitsverhältnis mehr bestanden habe. Unabhängig davon sei
sie nicht in Annahmeverzug geraten. Eine tatsächliche Beschäftigung des Klägers sei für
sie unzumutbar gewesen.
15 Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsantrag zu 1. stattgegeben, im Übrigen hat es die
Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers
zurückgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat es das Urteil des Arbeitsgerichts
abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht
zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
16 Die Revision des Klägers ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die
außerordentliche Kündigung vom 22. September 2009 zu Recht als wirksam angesehen
(I.). Die auf Abrechnung und Zahlung von Annahmeverzugslohn gerichteten Anträge
einschließlich der darauf bezogenen Hilfsanträge sind dem Senat nicht zur Entscheidung
angefallen (II.).
17 I. Das Arbeitsverhältnis der Parteien ist durch die fristlose Kündigung vom 22. September
2009 mit sofortiger Wirkung aufgelöst worden. Dies hat das Landesarbeitsgericht
zutreffend erkannt.
18 1. Einem klageabweisenden Urteil im vorliegenden Rechtsstreit steht nicht das
rechtskräftige Urteil vom 23. Juni 2010 entgegen, soweit das Arbeitsgericht festgestellt hat,
dass das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die Kündigung vom 4. Dezember 2009 nicht
aufgelöst worden ist. Der Beklagten ist es trotz dieser Feststellungen nicht verwehrt, sich
auf die Wirksamkeit der fristlosen Kündigung vom 22. September 2009 zu berufen.
19 a) Der Umfang der Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung im
Kündigungsschutzprozess bestimmt sich nach dem Streitgegenstand. Streitgegenstand
einer Kündigungsschutzklage mit einem Antrag nach § 4 Satz 1 KSchG ist, ob das
Arbeitsverhältnis der Parteien aus Anlass einer bestimmten Kündigung zu dem in ihr
vorgesehenen Termin aufgelöst worden ist. Die begehrte Feststellung erfordert nach dem
Wortlaut der gesetzlichen Bestimmung eine Entscheidung über das Bestehen eines
Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt der Kündigung. Mit der Rechtskraft des der Klage
stattgebenden Urteils steht deshalb fest, dass jedenfalls im Zeitpunkt des Zugangs der
Kündigung zwischen den streitenden Parteien ein Arbeitsverhältnis bestanden hat (BAG
27. Januar 2011 - 2 AZR 826/09 - Rn. 13, AP KSchG 1969 § 4 Nr. 73; 26. März 2009 -
2 AZR 633/07 - Rn. 16, BAGE 130, 166). Auch enthält ein rechtskräftiges Urteil, wonach
das Arbeitsverhältnis der Parteien durch eine bestimmte Kündigung zu dem vorgesehenen
Termin nicht aufgelöst worden ist, grundsätzlich die konkludente Feststellung, dass dieses
Arbeitsverhältnis nicht zuvor durch andere Ereignisse aufgelöst worden ist (BAG 25. März
2004 - 2 AZR 399/03 - zu B II 1 der Gründe, AP BMT-G II § 54 Nr. 5 = EzA BGB 2002
§ 626 Unkündbarkeit Nr. 4; 5. Oktober 1995 - 2 AZR 909/94 - zu II 1 der Gründe, BAGE 81,
111). Die Rechtskraft schließt gemäß § 322 ZPO im Verhältnis der Parteien zueinander
eine hiervon abweichende gerichtliche Feststellung in einem späteren Verfahren aus
(BAG 27. Januar 2011 - 2 AZR 826/09 - Rn. 13, aaO; 10. November 2005 - 2 AZR 623/04 -
zu B I 1 b aa der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 196 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 11).
20 b) Zu berücksichtigen ist aber, dass der Streitgegenstand der (späteren)
Kündigungsschutzklage und damit der Umfang der Rechtskraft eines ihr stattgebenden
Urteils auf die (streitige) Auflösung des Arbeitsverhältnisses durch die konkret
angegriffene Kündigung beschränkt werden kann (BAG 26. März 2009 - 2 AZR 633/07 -
Rn. 16, BAGE 130, 166; 25. März 2004 - 2 AZR 399/03 - zu B II 2 der Gründe, AP BMT-G II
§ 54 Nr. 5 = EzA BGB 2002 § 626 Unkündbarkeit Nr. 4; 20. Mai 1999 - 2 AZR 278/98 - zu I
der Gründe, ZinsO 2000, 351; 17. Mai 1984 - 2 AZR 109/83 - zu A II der Gründe, BAGE 46,
191). Eine solche Einschränkung des Umfangs der Rechtskraft bedarf deutlicher
Anhaltspunkte, die sich aus der Entscheidung selbst ergeben müssen (für die
Einschränkung der Rechtskraft eines die Leistungsklage abweisenden Urteils vgl. BAG
11. Oktober 2011 - 3 AZR 795/09 - Rn. 18 mwN, EzA ZPO 2002 § 322 Nr. 2). Das schließt
es nicht aus, für die Bestimmung des Umfangs der Rechtskraft im Einzelfall Umstände
heranzuziehen, die schon mit der Entscheidungsfindung zusammenhängen. So kann für
die „Ausklammerung“ der Rechtsfolgen einer eigenständigen, zeitlich früher wirkenden
Kündigung aus dem Streitgegenstand der Klage, die sich gegen eine später zugegangene
Kündigung richtet, der Umstand sprechen, dass dieselbe Kammer des Arbeitsgerichts am
selben Tag über beide Kündigungen entschieden hat. In einem solchen Fall ist
regelmäßig sowohl für die Parteien als auch für das Gericht klar, dass die Wirkungen der
früheren Kündigung nicht zugleich Gegenstand des Rechtsstreits über die später wirkende
Kündigung sein sollten (vgl. BAG 20. Mai 1999 - 2 AZR 278/98 - zu I der Gründe, aaO).
21 c) Danach führt die Rechtskraft des der Klage gegen die Kündigung vom 4. Dezember
2009 stattgebenden Urteils vom 23. Juni 2010 nicht dazu, dass im vorliegenden
Rechtsstreit die Beendigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund der fristlosen Kündigung
vom 22. September 2009 nicht mehr geprüft werden könnte. Die Auslegung des
Landesarbeitsgerichts, das Arbeitsgericht habe mit seinem Urteil vom 23. Juni 2010 nicht
über die Wirksamkeit der ihm bekannten, zeitlich vorhergehenden Kündigung entscheiden
wollen und entschieden, ist rechtsfehlerfrei. Die Parteien haben ihren Streit über die
Wirksamkeit der betreffenden Kündigungen in getrennten Prozessen ausgetragen. Im
Tatbestand des Urteils vom 23. Juni 2010 wird ausdrücklich auf die fristlose Kündigung
vom 22. September 2009 hingewiesen. Es ist das erstinstanzliche Aktenzeichen des
vorliegenden Rechtsstreits aufgeführt und dargestellt worden, dass das Arbeitsgericht der
Klage stattgegeben hat. Das Urteil vom 23. Juni 2010 stammt von derselben Kammer, die
am 9. April 2010 das erstinstanzliche Urteil in der vorliegenden Sache verkündet hat.
Hinzu kommt, dass bei Verkündung des Urteils vom 23. Juni 2010 die Frist für die
Einlegung einer Berufung gegen das am 9. April 2010 ergangene Urteil noch nicht
abgelaufen war. Dafür, dass sich das Arbeitsgericht dieser Tatsache bei Verkündung des
Urteils vom 23. Juni 2010 bewusst war, spricht der in den dortigen Tatbestand
aufgenommene Hinweis, es handele sich bei der vorausgegangenen Entscheidung über
die Wirksamkeit der Kündigung vom 22. September 2009 um ein erstinstanzliches Urteil.
Schon diese Umstände zeigen, dass aus Sicht des Arbeitsgerichts die Kündigung vom
22. September 2009 nicht zugleich Gegenstand des Rechtsstreits betreffend die
Kündigung vom 4. Dezember 2009 sein sollte. Überdies befassen sich die
Entscheidungsgründe des Urteils vom 23. Juni 2010 an keiner Stelle mit der Frage, ob das
Arbeitsverhältnis im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung vom 4. Dezember 2009 noch
bestanden hat. Dies kann in Anbetracht des bekanntermaßen noch nicht rechtskräftig
beendeten Streits über die Wirksamkeit der vorangegangenen Kündigung, zu deren
Rechtfertigung sich die Beklagte überdies auf völlig andere Gründe berufen hatte, nur so
verstanden werden, dass das Arbeitsgericht bei seiner Entscheidung vom 23. Juni 2010
die rechtliche Bewertung der Kündigung vom 22. September 2009 dem Ausgang des
vorliegenden Rechtsstreits überlassen wollte.
22 2. Die Kündigung vom 22. September 2009 beruht auf einem wichtigen Grund iSd. § 626
Abs. 1 BGB.
23 a) Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, dass sich der Kläger in 67 Fällen der
Untreue zum Nachteil der Beklagten schuldig gemacht hat und der Beklagten damit die
Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar war. Diese Würdigung lässt keinen
Rechtsfehler erkennen. Ungeachtet der knappen Ausführungen liegt kein
Verfahrensmangel iSd. § 547 Nr. 6 ZPO vor. Aus der Begründung des Gerichts wird
hinreichend deutlich, dass es - auch ohne vorausgehende Abmahnung - von der
Unzumutbarkeit einer Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses selbst für die Dauer einer
(fiktiven) Kündigungsfrist ausgegangen ist. Das ist angesichts der Schwere der dem
Kläger anzulastenden Pflichtverletzungen nicht zu beanstanden. Dessen Lebensalter und
die Dauer seiner Betriebszugehörigkeit vermögen kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen.
Das sieht die Revision ersichtlich nicht anders.
24 b) Mit dem zur Rechtfertigung der Kündigung vorgebrachten Grund ist die Beklagte nicht
präkludiert. Dies gilt selbst dann, wenn die in Rede stehenden 67 Untreuehandlungen -
entweder im Sinne eines Verdachts oder im Sinne eines Tatvorwurfs - bereits
Gegenstand der rechtskräftig für unwirksam erklärten Kündigungen vom 10. Mai 2007,
15. August 2007 und 25. November 2008 gewesen sein sollten. Das angefochtene Urteil
enthält dazu keine eindeutigen Feststellungen.
25 aa) Eine Kündigung kann nicht erfolgreich auf Gründe gestützt werden, die der
Arbeitgeber schon zur Begründung einer vorhergehenden Kündigung vorgebracht hat und
die in einem rechtskräftig abgeschlossenen Kündigungsschutzprozess mit dem Ergebnis
materiell geprüft worden sind, dass sie die Kündigung nicht tragen. Mit einer Wiederholung
dieser Gründe zur Stützung einer späteren Kündigung ist der Arbeitgeber ausgeschlossen
(BAG 6. September 2012 - 2 AZR 372/11 - Rn. 13, BB 2012, 2367; 8. November 2007 -
2 AZR 528/06 - Rn. 20 ff. mwN, EzA BGB 2002 § 626 Nr. 19). Eine solche
Präklusionswirkung entfaltet die Entscheidung über die frühere Kündigung allerdings nur
bei identischem Kündigungssachverhalt. Hat sich dieser wesentlich geändert, darf der
Arbeitgeber erneut kündigen (BAG 6. September 2012 - 2 AZR 372/11 - Rn. 13, aaO;
26. November 2009 - 2 AZR 272/08 - Rn. 19, BAGE 132, 299).
26 bb) Die außerordentliche Kündigung vom 22. September 2009 stellt sich danach nicht als
bloße Wiederholung einer der früheren Kündigungen dar.
27 (1) Die Klagen gegen die Kündigungen vom 10. Mai und 15. August 2007 waren deshalb
erfolgreich, weil das Landesarbeitsgericht für beide zu dem Ergebnis gelangt war, sie
seien wegen fehlerhafter Betriebsratsanhörung und damit aus einem formellen Grund
unwirksam. Eine materielle gerichtliche Überprüfung der Kündigungsgründe erfolgte nicht.
28 (2) Die fristlose - sowohl auf einen bloßen Tatverdacht als auch den Tatvorwurf - gestützte
Kündigung vom 25. November 2008 hatte deshalb keinen Bestand, weil das
Landesarbeitsgericht angenommen hat, die Beklagte habe die Frist des § 626 Abs. 2 BGB
versäumt. Das Gericht war der Auffassung, die Eröffnung des Hauptverfahrens, auf deren
Grundlage die Beklagte gekündigt habe, stelle gegenüber der - bereits länger als zwei
Wochen zurückliegenden - Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft und den in
diesem Zusammenhang bekannt gewordenen Tatsachen keinen Umstand dar, der die
Ausschlussfrist erneut in Gang setze. Auch insoweit hat deshalb eine materielle Prüfung
der Kündigungsgründe als solche nicht stattgefunden. Unabhängig davon stützt die
Beklagte die Kündigung vom 22. September 2009 nicht auf einen vollständig identischen
Sachverhalt. Sie beruft sich zusätzlich auf die strafgerichtliche Verurteilung des Klägers
und die in der Hauptverhandlung von seiner Seite abgegebenen Erklärungen. Ob dies
ausreicht, die Frist des § 626 Abs. 2 BGB erneut in Gang zu setzen, erfordert eine neue
rechtliche Bewertung; die Entscheidung über die Kündigung vom 25. November 2008
erfasst diesen Aspekt nicht und vermag insoweit keine Präklusionswirkung zu entfalten
(vgl. BAG 27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 - Rn. 19, BAGE 137, 54).
29 3. Die Beklagte hat die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB gewahrt.
30 a) Nach § 626 Abs. 2 BGB kann die außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei
Wochen erfolgen. Die Frist beginnt in dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte
von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Dies ist der Fall,
sobald der Kündigungsberechtigte eine zuverlässige und möglichst vollständige positive
Kenntnis der einschlägigen Tatsachen hat, die ihm die Entscheidung darüber ermöglicht,
ob er das Arbeitsverhältnis fortsetzen soll oder nicht. Auch grob fahrlässige Unkenntnis
setzt die Frist nicht in Gang. Zu den maßgebenden Tatsachen gehören sowohl die für als
auch die gegen die Kündigung sprechenden Umstände (BAG 27. Januar 2011 - 2 AZR
825/09 - Rn. 15, BAGE 137, 54; 5. Juni 2008 - 2 AZR 234/07 - Rn. 18, AP BGB § 626
Verdacht strafbarer Handlung Nr. 44 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung
Nr. 7).
31 b) Geht es um ein strafbares Verhalten des Arbeitnehmers, darf der Arbeitgeber den Fort-
und Ausgang des Ermittlungs- und Strafverfahrens abwarten und abhängig davon in
dessen Verlauf zu einem nicht willkürlich gewählten Zeitpunkt kündigen. Für die Wahl des
Zeitpunkts bedarf es eines sachlichen Grundes. Wenn der Kündigungsberechtigte neue
Tatsachen erfahren oder neue Beweismittel erlangt hat und nunmehr ausreichend
Erkenntnisse für eine Kündigung zu haben glaubt, kann er dies zum Anlass für den
Ausspruch einer neuerlichen Kündigung nehmen (BAG 27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 -
Rn. 16 mwN, BAGE 137, 54; 5. Juni 2008 - 2 AZR 234/07 - Rn. 20 mwN, AP BGB § 626
Verdacht strafbarer Handlung Nr. 44 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung
Nr. 7).
32 c) Der Fortgang des Ermittlungs- und Strafverfahrens - beispielsweise die Erhebung der
öffentlichen Klage und die spätere Verurteilung - kann einen gegen den Arbeitnehmer
bestehenden Verdacht, er habe seine Vertragspflichten verletzt, verstärken (BAG
27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 - Rn. 17, 18 mwN, BAGE 137, 54). Auch wenn derartige
Umstände für sich genommen - dh. ohne konkreten, den Kündigungsgrund stützenden
Tatsachenvortrag - nicht ausreichen, eine Verdachts- oder Tatkündigung zu begründen
(vgl. BAG 25. Oktober 2012 - 2 AZR 700/11 - Rn. 16, DB 2013, 641; 24. Mai 2012 - 2 AZR
206/11 - Rn. 26, EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 11), stellen sie
doch einen Einschnitt dar, der in der Lage ist, den Verdacht oder die Überzeugung des
Arbeitgebers zu verstärken, und der für den Beginn der Zwei-Wochen-Frist des § 626
Abs. 2 BGB von Bedeutung sein kann (BAG 25. Oktober 2012 - 2 AZR 700/11 - Rn. 16,
aaO; 27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 - Rn. 17 ff., aaO). Das gilt auch, wenn der
Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis am Anfang der Ermittlungen schon einmal gekündigt hat
(BAG 27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 - Rn. 19, aaO).
33 d) Für eine Kündigung, die wegen des Verdachts einer strafbaren Handlung
ausgesprochen wird, gelten mit Blick auf § 626 Abs. 2 BGB grundsätzlich dieselben
Erwägungen wie für eine Kündigung wegen einer als erwiesen angesehenen Straftat
(BAG 29. Juli 1993 - 2 AZR 90/93 - zu II 1 c der Gründe, AP BGB § 626 Ausschlussfrist
Nr. 31 = EzA BGB § 626 Ausschlussfrist Nr. 4). Die Möglichkeit, die Kündigung an neue
Erkenntnisse im Strafverfahren zu knüpfen, trägt den mit der Aufklärung strafbarer
Handlungen des Arbeitnehmers für den Arbeitgeber verbundenen Schwierigkeiten und
dessen eingeschränkten Ermittlungsmöglichkeiten Rechnung. Hat der Arbeitgeber eine
Kündigung bereits ausgesprochen, weil er der Auffassung war, die bisher angestellten
Ermittlungen böten ihm eine hinreichende Grundlage für einen dringenden Tatverdacht
oder den Nachweis einer schwerwiegenden Pflichtverletzung, schließt dies eine
neuerliche Kündigung bei Hinzutreten veränderter, die Überzeugung verstärkender
Umstände nicht aus. Zwar stellen in der Regel weder der Verdacht strafbarer Handlungen
noch eine begangene Straftat einen Dauertatbestand dar (BAG 29. Juli 1993 - 2 AZR
90/93 - zu II 1 c dd der Gründe, aaO). Das hindert den Arbeitgeber aber nicht daran, eine
erneute Kündigung auf eine veränderte, weil erweiterte Tatsachengrundlage zu stützen.
Durch eine einmal erklärte Kündigung verzichtet er auf dieses Recht nicht, mögen auch
die Kündigungsart und die in Rede stehende Pflichtverletzung die nämliche sein (vgl. BAG
27. Januar 2011 - 2 AZR 825/09 - Rn. 19, BAGE 137, 54; aA Walker Anm. zu AP BGB
§ 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 49, unter 2).
34 e) In Anwendung dieser Grundsätze ist das Landesarbeitsgericht zu Recht davon
ausgegangen, die Frist des § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB habe am 11. September 2009 als
dem Tag - neu - begonnen, an welchem die Beklagte eine Abschrift des Protokolls der
Hauptverhandlung und des Strafurteils vom 24. August 2009 erhalten hat.
35 aa) Die strafrechtliche Verurteilung des Klägers konnte die Beklagte in der Gewissheit
bestätigen, dass dieser die ihm zur Last gelegten Taten tatsächlich begangen hat (vgl.
BAG 18. November 1999 - 2 AZR 852/98 - zu II 2 a der Gründe, BAGE 93, 12). Das
Landesarbeitsgericht hat für den Senat bindend angenommen, vor Erstattung der
Strafanzeige seien nicht alle Vorfälle hinreichend aufgeklärt gewesen. Den Gründen des
Strafurteils, auf die das Landesarbeitsgericht Bezug genommen hat, ist zu entnehmen,
dass sich der Kläger weder zur Sache eingelassen, noch Angaben zu seinen
persönlichen Verhältnissen und den Taten gemacht hatte. Zumindest in einem solchen
Fall bedeutet es einen relevanten Erkenntnisfortschritt, dass das mit den Möglichkeiten der
Amtsermittlung ausgestattete Strafgericht nach Beweisaufnahme den Tatnachweis als
geführt ansieht und zu einer Verurteilung des Arbeitnehmers gelangt (vgl. BAG
14. Februar 1996 - 2 AZR 274/95 - zu II 3 der Gründe, AP BGB § 626 Verdacht strafbarer
Handlung Nr. 26 = EzA BGB § 626 nF Nr. 160). Im Streitfall kommt hinzu, dass der
Verteidiger des Klägers keinen Freispruch, sondern die Verhängung einer
Bewährungsstrafe beantragt und der Kläger von der ihm eingeräumten Möglichkeit, etwas
zu seiner Verteidigung vorzubringen, keinen Gebrauch gemacht hat. Auch dadurch hat
sich die Tatsachengrundlage erweitert, belegt das Verhalten des Klägers doch zumindest,
dass er den Vorwürfen nicht mehr aktiv entgegen treten will.
36 bb) Es hält sich im tatrichterlichen Beurteilungsspielraum, wenn das Landesarbeitsgericht
für den Beginn der Frist nicht auf den 24. August 2009 als das Datum der
Urteilsverkündung abgestellt hat, sondern auf die Zuleitung des Protokolls und der
schriftlichen Urteilsgründe am 11. September 2009. Erst durch die Möglichkeit der
Kenntnisnahme von den schriftlichen Gründen hat die Beklagte - angesichts der
Komplexität des Verfahrens und der Vielzahl der in Rede stehenden Tathandlungen -
hinreichende Gewissheit über den konkreten Gegenstand und den Umfang der
Verurteilung gewonnen. Für diese Sichtweise spricht zudem das in § 406e der
Strafprozessordnung verbürgte Recht des Verletzten auf Akteneinsicht durch einen
Rechtsanwalt, das die Prüfung ermöglichen soll, ob und in welchem Umfang
zivilrechtliche Ansprüche mit Erfolgsaussicht geltend gemacht werden können (vgl.
Hanseatisches OLG Hamburg 21. März 2012 - 2 Ws 11/12 ua. - Rn. 22, wistra 2012, 397;
zur Einsicht in strafrechtliche Ermittlungsakten vgl. BVerfG 5. Dezember 2006 - 2 BvR
2388/06 - NJW 2007, 1052). Die Teilnahme an der öffentlichen Verhandlung ist hierfür
kein ausreichendes Äquivalent. Ob die Beklagte - wie das Landesarbeitsgericht
angenommen hat - die Übermittlung der Schriftstücke auch wegen ihrer
Unterrichtungspflichten aus § 102 Abs. 1 BetrVG abwarten durfte, bedarf keiner
Entscheidung.
37 f) Die Kündigungserklärung erfolgte binnen zweier Wochen nach dem 11. September
2009. Die Beklagte hat unwidersprochen vorgetragen, die fristlose Kündigung vom
22. September 2009 sei dem Kläger am 24. September 2009 zugegangen.
38 4. Die Kündigung ist nicht nach § 102 Abs. 1 Satz 3 BetrVG unwirksam. Der Betriebsrat ist
ordnungsgemäß zur Kündigung vom 22. September 2009 angehört worden.
39 a) Die Beklagte ist gemäß dem Grundsatz der „subjektiven Determinierung“ (vgl. dazu
BAG 19. Juli 2012 - 2 AZR 352/11 - Rn. 41 mwN, NZA 2013, 86; 9. Juni 2011 - 2 AZR
323/10 - Rn. 45 mwN, AP BGB § 626 Nr. 236 = EzA BGB 2002 § 626 Nr. 36) ihrer
Mitteilungspflicht aus § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG inhaltlich ausreichend nachgekommen.
40 b) Entgegen der Auffassung des Klägers kann dahinstehen, ob die Beklagte das
Anhörungsverfahren durch Übergabe des Unterrichtungsschreibens an ein anderes
Mitglied des Betriebsrats als dessen Vorsitzenden am 18. September 2009 wirksam
eingeleitet hatte und deshalb die Frist des § 102 Abs. 2 Satz 3 BetrVG bei Zugang des
Kündigungsschreibens am 24. September 2009 tatsächlich abgelaufen war. Auf die
Empfangszuständigkeit des betreffenden Mitglieds kommt es nicht an. Das
Anhörungsverfahren war aufgrund der Stellungnahme des Betriebsrats in jedem Fall am
21. September 2009 abgeschlossen (vgl. BAG 24. Juni 2004 - 2 AZR 461/03 - zu B II 2 b
der Gründe, AP BGB § 620 Kündigungserklärung Nr. 22 = EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 9).
41 aa) Der Kläger wendet sich nicht gegen die Feststellung des Landesarbeitsgerichts, der
Anhörungsbogen mit der seitens des Betriebsrats abgegebenen Erklärung, gegen die
fristlose Kündigung bestünden keine Bedenken, habe der Beklagten am 21. September
2009 und damit zu einem Zeitpunkt vorgelegen, zu dem das Kündigungsschreiben ihren
Machtbereich noch nicht verlassen hatte. Es handelte sich dabei erkennbar um eine das
Anhörungsverfahren abschließende Äußerung.
42 bb) Die Rüge des Klägers, das Landesarbeitsgericht habe nicht hinreichend
berücksichtigt, dass der Stellungnahme keine ordnungsgemäße Beschlussfassung des
Betriebsrats zugrunde gelegen habe, greift nicht durch.
43 (1) Mängel bei der Beschlussfassung des Betriebsrats haben grundsätzlich selbst dann
keine Auswirkungen auf die Ordnungsgemäßheit seiner Anhörung, wenn der Arbeitgeber
im Kündigungszeitpunkt weiß oder erkennen kann, dass der Betriebsrat die Angelegenheit
nicht fehlerfrei behandelt hat. Solche Fehler - etwa die Abgabe der Stellungnahme durch
ein dafür unzuständiges Mitglied des Betriebsrats - gehen schon deshalb nicht zu Lasten
des Arbeitgebers, weil dieser keine rechtliche Möglichkeit eines Einflusses auf die
Beschlussfassung des Betriebsrats hat (BAG 6. Oktober 2005 - 2 AZR 316/04 - Rn. 21
mwN, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 150 = EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 16; 24. Juni 2004 -
2 AZR 461/03 - zu B II 2 b aa der Gründe mwN, AP BGB § 620 Kündigungserklärung
Nr. 22 = EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 9).
44 (2) Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn erkennbar keine
Stellungnahme des Gremiums „Betriebsrat”, sondern etwa nur eine persönliche Äußerung
des Betriebsratsvorsitzenden vorliegt oder der Arbeitgeber den Fehler des Betriebsrats
durch unsachgemäßes Verhalten selbst veranlasst hat (BAG 6. Oktober 2005 - 2 AZR
316/04 - Rn. 22, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 150 = EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 16;
16. Januar 2003 - 2 AZR 707/01 - zu B I 2 c der Gründe, AP BetrVG 1972 § 102 Nr. 129 =
EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 2).
45 (3) Für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls fehlt es auf der Grundlage des
festgestellten Sachverhalts an hinreichenden Anhaltspunkten. Einen beachtlichen
Verfahrensfehler des Landesarbeitsgerichts zeigt der Kläger nicht auf. Er bezieht sich auf
sein Vorbringen, entweder habe das betreffende Betriebsratsmitglied am 21. September
2009 nur eine persönliche Äußerung abgegeben oder die Beklagte habe den Betriebsrat
zu einer eiligen Beschlussfassung im Umlaufverfahren gedrängt. Er verbindet damit den
Einwand, das Landesarbeitsgericht habe zu Unrecht gemeint, dies laufe auf eine
unzulässige Ausforschung hinaus. Soweit er damit geltend machen will, das
Landesarbeitsgericht habe eine gebotene Beweisaufnahme unterlassen, ist die Rüge
unzulässig. Er legt nicht dar, welches Ergebnis die Erhebung des angebotenen Beweises
voraussichtlich erbracht hätte (zu dieser Anforderung BAG 6. Januar 2004 - 9 AZR
680/02 - zu II 3 d aa der Gründe, BAGE 109, 145). Unabhängig davon ist die Würdigung
des Landesarbeitsgerichts mit den Vorgaben des Prozessrechts vereinbar. Zwar kann es
einer Prozesspartei, die keinen Einblick in bestimmte Geschehensabläufe hat und der
deshalb die Beweisführung erschwert ist, gestattet sein, auch solche Tatsachen unter
Beweis zu stellen, die sie nicht sicher kennt, die sie aber aufgrund ihr bekannter Umstände
vermuten kann. Zulässig ist ein solcher Beweisantritt aber nur, wenn zumindest greifbare
Anhaltspunkte für das Vorliegen der fraglichen Tatsache aufgezeigt werden (vgl. BAG
18. September 2008 - 2 AZR 1039/06 - Rn. 33, DB 2009, 964; BGH 15. Mai 2003 - III ZR
7/02 - zu II 2 a der Gründe, BGHReport 2003, 891). Dieser Anforderung genügt das
Vorbringen des Klägers nicht. Allein die verhältnismäßig kurze Zeit, die zwischen
Übergabe des Anhörungsbogens und der Stellungnahme vom 21. September 2009 liegt
und der zusätzliche Umstand, dass zwei Tage dieser Zeitspanne arbeitsfrei gewesen sein
mögen, sind keine greifbare Indizien dafür, dass das handelnde Betriebsratsmitglied der
Beklagten lediglich eine persönliche Stellungnahme übermittelt hat. Zum einen ist es nicht
ausgeschlossen, dass der Betriebsrat außerhalb der regulären Arbeitszeit zu Sitzungen
zusammentritt. Zum anderen deutet der Inhalt der Stellungnahme („… haben wir keine
Bedenken“) explizit auf eine Einbeziehung weiterer Betriebsratsmitglieder hin. Ebenso
wenig bietet der zeitliche Ablauf einen Anhaltspunkt für die Annahme, der Betriebsrat
habe, falls er einen Beschluss im Umlaufverfahren gefasst haben sollte, dies auf Drängen
der Beklagten getan.
46 II. Die Klageanträge zu 2. fallen dem Senat nicht zur Entscheidung an. Der Kläger hat in
der Revisionsbegründung ausdrücklich darauf hingewiesen, dass deren Erfolg vom
Ausgang des Kündigungsrechtsstreits abhängt. Dies kann bei sachgerechter Würdigung,
insbesondere vor dem Hintergrund des angebrachten Prozesskostenhilfegesuchs, nur so
verstanden werden, dass er sie insgesamt als uneigentliche Hilfsanträge zum
Kündigungsschutzantrag stellen will. Selbst wenn über sie zu befinden wäre, bliebe seiner
Revision im Übrigen der Erfolg versagt. Infolge der Wirksamkeit der Kündigung vom
22. September 2009 hat in den Monaten Oktober, November und Dezember 2009
zwischen den Parteien kein Arbeitsverhältnis mehr bestanden.
47 III. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu
tragen.
Kreft
Rinck
Berger
Krichel
Nielebock