Urteil des BAG vom 17.04.2013

Günstigkeitsvergleich von Zuschlägen zum Stundenlohn

BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 17.4.2013, 4 AZR 592/11
Günstigkeitsvergleich von Zuschlägen zum Stundenlohn
Leitsätze
Sind für die Erbringung der Arbeitsleistung zu bestimmten Zeiten sowohl nach den
arbeitsvertraglichen als auch nach tarifvertraglichen Bestimmungen Zuschläge in einem
bestimmten vH-Satz des jeweiligen Stundenlohns zu zahlen, kann ein sog.
Günstigkeitsvergleich nach § 4 Abs. 3 TVG nicht lediglich zwischen den unterschiedlichen
Zuschlagssätzen erfolgen. In den Vergleich einzubeziehen sind auch die den jeweiligen
Zuschlagssätzen nach dem Arbeitsvertrag und dem Tarifvertrag zugeordneten Stundenlöhne.
Tenor
1. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts
Berlin-Brandenburg vom 17. Juni 2011 - 6 Sa 443/11 - wird
zurückgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die Höhe von Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschlägen.
2 Der Kläger ist seit dem 7. Juni 2006 bei der Beklagten als Wach- und Werkschutzkraft
beschäftigt und wird zur Bewachung von Objekten in Berlin eingesetzt. In dem am 6. Juni
2006 geschlossenen Arbeitsvertrag heißt es ua.:
3. Stundenlohn
EURO
4,74
Grundlohn/Brutto
EURO
Hundeführerzulage
_____________________________
EURO
4,74
Gesamtbrutto
19. Besondere Vereinbarungen
Zuschläge:
Nachtzuschlag:
7 %
Sonntagszuschlag
Feiertagszuschlag
3 Nach § 3 Nr. 2.1 des am 2. Dezember 2009 (BAnz. Nr. 195 vom 24. Dezember 2009) für
allgemeinverbindlich erklärten Entgelttarifvertrags für das Wach- und Sicherheitsgewerbe
Berlin und Brandenburg (vom 9. Oktober 2009 - ETV) gilt für die Zeit ab dem 1. Januar 2010
für Sicherheitsmitarbeiter im Objektschutz in Berlin ein Stundenlohn iHv. 6,25 Euro brutto.
Weiterhin bestimmt der ETV:
„§ 6 Zuschläge
Neben dem Stundenlohn sind folgende Feiertags-, Sonntags- und Nachtzuschläge
auf die tariflichen Stundenlöhne nach § 3 zu zahlen.
ab 1.11.2009
ab 1.1.2010
Nachtzuschlag:
12 %
5 %
Sonntagszuschlag:
40 %
25 %
Feiertagszuschlag:
75 %
50 %“
4 Die Beklagte berechnete die Vergütung des Klägers in Anwendung der Stundenlohnsätze
und der Zuschläge des ETV.
5 Nach erfolgloser Geltendmachung hat der Kläger mit seiner Klage die höheren
vertraglichen Zuschläge für die Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit für die Monate März und
April 2010 verlangt. Er ist der Auffassung, die Zuschläge seien auf Basis des im ETV
vorgesehenen Stundenlohns und der im Arbeitsvertrag vereinbarten, für ihn günstigeren
Zuschlagssätze zu berechnen. Der übliche sog. Sachgruppenvergleich sei von den
Tarifvertragsparteien nach § 2 Abs. 2 ETV ausgeschlossen worden.
6 Der Kläger hat zuletzt beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, an ihn 103,96 Euro brutto nebst Zinsen iHv.
fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem
21. September 2010 zu zahlen.
7 Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Ansicht vertreten, der Kläger
habe nur Anspruch auf die im ETV geregelten Zuschläge.
8 Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das
Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht
zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Zurückweisung der Berufung.
Entscheidungsgründe
9 Die zulässige Revision ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht
abgewiesen. Der Kläger kann auf den tariflichen Stundenlohn keine Zuschläge für die
Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit in den Monaten März und April 2010 in Höhe
derjenigen vH-Sätze verlangen, die unter Nr. 19 des Arbeitsvertrags vereinbart sind.
10 I. Ein Anspruch des Klägers folgt nicht unmittelbar aus dem Arbeitsvertrag. Zwar kann der
Kläger nach dessen Nr. 19 für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit Zuschläge in Höhe der
dort vereinbarten Sätze verlangen. Diese Zuschläge beziehen sich aber nicht auf den dem
Kläger tatsächlich gezahlten Stundenlohn nach § 3 Nr. 2.1 ETV, sondern lediglich auf den
in Nr. 3 des Arbeitsvertrags vereinbarten. Das ergibt die Auslegung des zwischen den
Parteien geschlossenen Formulararbeitsvertrags, die vom Revisionsgericht ohne
Einschränkung überprüft werden kann (st. Rspr., vgl. nur BAG 22. April 2009 - 4 AZR
100/08 - Rn. 36 mwN, BAGE 130, 237).
11 1. Die Regelung in Nr. 19 des Arbeitsvertrags nennt für die dort aufgeführten Arbeitszeiten
lediglich „Zuschläge“ mit bestimmten vH-Sätzen, ohne unmittelbar eine bestimmte
Bezugsgröße anzugeben. Aus dem arbeitsvertraglichen Sachzusammenhang ergibt sich
aber, dass sich die Zuschläge auf den unter Nr. 3 des Arbeitsvertrags vereinbarten
Stundenlohn beziehen. Anderenfalls blieben die Zuschlagsregelungen ohne
Anwendungsbereich, weil es an einer Bezugsgröße fehlen würde.
12 2. Dem Arbeitsvertrag lassen sich keine Anhaltspunkte entnehmen, die vereinbarten
Zuschlagssätze sollten darüber hinaus auch jeweils auf denjenigen Stundenlohn geleistet
werden, den der Kläger - aus welchem Rechtsgrund auch immer - tatsächlich und
abweichend von dem vertraglich vereinbarten beanspruchen kann. Die vertraglichen
Abreden enthalten insbesondere keine, auch nur teilweise Inbezugnahme tariflicher
Regelungen.
13 II. Der Kläger kann auch nicht auf Grundlage der tariflichen Regelungen, die nach § 5
Abs. 4 TVG unmittelbar und zwingend für die Parteien im Anspruchszeitraum galten, die
Anwendung der in Nr. 19 des Arbeitsvertrags vereinbarten, höheren Zuschlagssätze
verlangen. Diese beziehen sich auch in Anwendung des Günstigkeitsprinzips nach § 4
Abs. 3 TVG nicht auf den Stundenlohn des § 3 Nr. 2.1 ETV. Das folgt aus dem
erforderlichen Sachgruppenvergleich.
14 1. Für das Verhältnis von tarifvertraglichen und arbeitsvertraglichen Regelungen gilt die
Kollisionsregel des § 4 Abs. 3 TVG (s. nur BAG 24. Februar 2010 - 4 AZR 691/08 -
Rn. 43). Hiernach treten unmittelbar und zwingend geltende Tarifbestimmungen hinter
einzelvertraglichen Vereinbarungen mit für Arbeitnehmer günstigeren Bedingungen
zurück. Ob ein Arbeitsvertrag abweichende günstigere Regelungen gegenüber dem
Tarifvertrag enthält, ergibt ein Vergleich zwischen der tarifvertraglichen und der
arbeitsvertraglichen Regelung. Zu vergleichen sind dabei die in einem inneren, sachlichen
Zusammenhang stehenden Teilkomplexe der unterschiedlichen Regelungen (sog.
Sachgruppenvergleich, s. nur BAG 21. April 2010 - 4 AZR 768/08 - Rn. 39, BAGE 134,
130; 30. März 2004 - 1 AZR 85/03 - zu II 4 b bb der Gründe sowie 23. Mai 1984 - 4 AZR
129/82 - BAGE 46, 50; jew. mwN). Dies gilt unabhängig davon, ob die Parteien des
Arbeitsvertrags die vertraglichen Regelungen vor oder nach Inkrafttreten des Tarifvertrags
vereinbart haben (BAG 25. Juli 2001 - 10 AZR 391/00 - zu II 2 a bb (2) der Gründe).
15 2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze erweist sich die arbeitsvertragliche Regelung bereits
für jeden einzelnen der drei im Streit stehenden Zuschlagssätze nicht als günstiger.
16 a) Der Günstigkeitsvergleich ist zwischen dem Stundenlohn nach Nr. 3 einschließlich der
Zuschläge nach Nr. 19 des Arbeitsvertrags einerseits und den tariflichen Bestimmungen
über den Stundenlohn nach § 3 Nr. 2.1 ETV einschließlich der Zuschläge nach § 6 ETV
andererseits vorzunehmen, da die Zuschläge in beiden Fällen in einem unmittelbaren
inneren, sachlichen Zusammenhang mit dem Anspruch auf den (jeweiligen) Stundenlohn
stehen.
17 Die unter Nr. 19 des Arbeitsvertrags vereinbarten Zuschläge stellen sich als akzessorische
Leistung zu dem Stundenlohn nach Nr. 3 des Arbeitsvertrags dar. Sie sind von der
Erbringung der Arbeitsleistung abhängig, für die ein Stundenentgelt von 4,74 Euro zu
leisten ist (zum Kriterium der Akzessorietät BAG 12. Oktober 2010 - 9 AZR 522/09 -
Rn. 23 f. mwN; vgl. auch 5. August 2008 - 10 AZR 634/08 - Rn. 27 mwN). Gleiches gilt für
den Stundenlohn nach § 3 Nr. 2.1 ETV und die ausdrücklich darauf bezogenen Zuschläge
nach § 6 ETV (vgl. BAG 23. Mai 1984 - 4 AZR 129/82 - BAGE 46, 50: „tariflicher Grundlohn
und tarifliche Lohnzuschläge“). Dieser innere Zusammenhang der jeweiligen Regelungen
bliebe unbeachtet, wenn ein Günstigkeitsvergleich lediglich zwischen den
arbeitsvertraglichen und tariflichen Zuschlagssätzen erfolgen und der den
Zuschlagsregelungen jeweils zugrunde liegende - ebenfalls unterschiedliche -
Stundenlohn außer Betracht gelassen würde.
18 b) Entgegen der Auffassung der Revision ergibt sich aus § 2 Abs. 2 ETV kein anderer
Vergleichsmaßstab. Diese Vorschrift hebt den aus § 4 Abs. 3 TVG folgenden
Sachzusammenhang für einen Günstigkeitsvergleich nicht auf und ordnet auch keinen
„Einzelvergleich“ an (noch offengelassen in BAG 6. Dezember 2006 - 4 AZR 711/05 -
Rn. 22). Es kann deshalb vorliegend dahinstehen, ob und in welchem Umfang die
Tarifvertragsparteien überhaupt von einem Sachgruppenvergleich abweichende
Vergleichsmaßstäbe für einen Günstigkeitsvergleich iSd. § 4 Abs. 3 TVG tarifvertraglich
festlegen können (dazu Däubler/Deinert TVG 3. Aufl. § 4 Rn. 658 ff.; Löwisch/Rieble TVG
3. Aufl. § 4 Rn. 540 ff.; jew. mwN zu den verschiedenen Auffassungen).
19 aa) § 2 ETV lautet:
㤠2 Tarifvorrang
1. Aufgrund dieser tariflichen Regelung enden die nachwirkenden Ansprüche
der Arbeitnehmer aus allen bisherigen Tarifverträgen, soweit nicht im
nachfolgenden Tarifvertrag ausdrücklich eine andere Regelung zuerkannt
wird. Von dieser Regelung nicht erfasst sind Betriebsvereinbarungen, die
nicht in den Regelungsbereich des § 77 Abs. 3 Betriebsverfassungsgesetz
fallen.
2. Für alle Ansprüche der Arbeitnehmer, die diesen aufgrund schriftlicher
Individualarbeitsvertragsregelung - in Form eines einheitlichen
Arbeitsvertrages oder einer schriftlichen Ergänzung hinsichtlich eines
konkreten Geldbetrages, Urlaubsgewährung oder sonstiger günstigerer
Arbeitsbedingungen gewährt wurden, gilt zu Gunsten der Arbeitnehmer das
Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3 TVG.“
20 bb) Eine Auslegung der tarifvertraglichen Bestimmung (zu den Maßstäben etwa BAG
28. Januar 2009 - 4 ABR 92/07 - Rn. 26 mwN, BAGE 129, 238) ergibt, dass § 2 Abs. 2
ETV auf das „zu Gunsten der Arbeitnehmer“ geltende „Günstigkeitsprinzip des § 4 Abs. 3
TVG“ verweist. Ein solcher deklaratorischer Verweis war schon in den vorangegangenen
Entgelttarifverträgen für das Wach- und Sicherheitsgewerbe des Landes Berlin derselben
Tarifvertragsparteien enthalten (etwa Entgelttarifvertrag für das Wach- und
Sicherheitsgewerbe Berlin vom 26. Juli 2006 sowie vom 7. Juli 2003).
21 (1) Der Wortlaut der Vorschrift verweist auf die Geltung des Günstigkeitsprinzips des § 4
Abs. 3 TVG und damit auf einen Günstigkeitsvergleich anhand von Sachgruppen (Nachw.
oben unter II 1). Nach ständiger Rechtsprechung des Senats ist davon auszugehen, dass
Tarifvertragsparteien, wenn sie einen feststehenden Fachbegriff verwenden, diesen auch
in seiner allgemeinen Bedeutung angewendet wissen wollen (etwa BAG 10. Juni 2009 -
4 AZR 77/08 - Rn. 29 mwN; 13. Mai 1998 - 4 AZR 107/97 - zu I 5.1.1 der Gründe, BAGE
89, 6). Anhaltspunkte für einen von der Rechtsprechung zu § 4 Abs. 3 TVG abweichenden
Regelungswillen der Tarifvertragsparteien ergeben sich aus dem Wortlaut der
Tarifregelung nicht. Hätten sie einen „Einzelvergleich“ regeln wollen, wäre es erforderlich
gewesen, eine solche Abweichung von der Rechtsprechung zum Günstigkeitsvergleich
als Sachgruppenvergleich deutlich zu machen.
22 (2) Gegen die Annahme eines tariflich angeordneten „Einzelvergleichs“ spricht weiterhin
die Tarifsystematik. In § 2 ETV, der den „Tarifvorrang“ bestimmt, wird in Abs. 1 festgelegt,
dass nachwirkende Tarifregelungen „aus allen bisherigen Tarifverträgen“ durch den ETV
(vorbehaltlich der Besitzstandsregelungen unter § 11 ETV, die auf die Bestimmungen der
Vorgängertarifverträge Bezug nehmen) „enden“. Einer solchen Regelung hätte es für den
ETV ebenfalls nicht bedurft; der spätere Tarifvertrag löst als neue Abmachung iSd. § 4
Abs. 5 TVG nachwirkende Tarifregelungen innerhalb seines Regelungsbereichs ohnehin
ab (vgl. dazu BAG 22. Oktober 2008 - 4 AZR 789/07 - Rn. 29 ff. mwN, BAGE 128, 175).
Auch die weitere, in Satz 2 genannte Rechtsfolge für die betriebsverfassungsrechtlichen
Regelungen ergibt sich bereits aus dem Gesetz, so dass insgesamt von einer Wiedergabe
der gesetzlich begründeten Rechtslage auszugehen ist.
23 c) Da der Kläger nach dem ETV für jede Arbeitsstunde an Sonntagen 7,81 Euro brutto
(nach dem Arbeitsvertrag 6,40 Euro brutto), an Feiertagen 9,38 Euro brutto (statt 8,30 Euro
brutto) und für Arbeitszeiten in der Nacht 6,56 Euro (anstelle von 5,07 Euro brutto)
beanspruchen kann, ist die arbeitsvertragliche Entgeltregelung für die Arbeitsleistung des
Klägers in der Nacht sowie an Sonn- und Feiertagen nicht günstiger als die tarifliche.
24 III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Eylert
Creutzfeldt
Treber
Kiefer
Fritz