Urteil des BAG vom 14.03.2017

BAG (ZPO, Verschulden, Zulassung, Wiedereinsetzung in den Vorigen Stand, Klagefrist, Einleitung des Verfahrens, Partei, Arbeitnehmer, Im Bewusstsein, Frist)

Siehe auch:
BUNDESARBEITSGERICHT Urteil vom 11.12.2008, 2 AZR 472/08
Nachträgliche Klagezulassung - Verschulden des Prozessbevollmächtigten
Leitsätze
Das Verschulden eines (Prozess-)Bevollmächtigten an der Versäumung der gesetzlichen Klagefrist (§ 4
Satz 1 KSchG) bei einer Kündigungsschutzklage ist dem klagenden Arbeitnehmer nach § 85 Abs. 2 ZPO
zuzurechnen.
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-
Württemberg - Kammern Mannheim - vom 7. Mai 2008 - 12 Sa 62/08 - wird auf
Kosten der Klägerin zurückgewiesen.
Tatbestand
1 Die Parteien streiten über die nachträgliche Zulassung einer Kündigungsschutzklage.
2 Die Klägerin war seit dem 19. April 2006 bei der Beklagten beschäftigt. Mit Schreiben vom
25. September 2007, zugegangen am 26. September 2007, kündigte die Beklagte das
Arbeitsverhältnis zum 31. Oktober 2007.
3 Am 28. September 2007 beauftragte die Klägerin einen Rechtsanwalt mit der Erhebung einer
Kündigungsschutzklage. Die Klägerin erkundigte sich am 2. November 2007 bei ihrem
Rechtsanwalt telefonisch nach dem Sachstand. Der Rechtsanwalt erklärte, es sei „etwas
angebrannt“ und vereinbarte mit ihr einen Besprechungstermin für den 6. November 2007, in dem
er der Klägerin offenbarte, er habe die fristgerechte Klageerhebung versäumt.
4 Der daraufhin von der Klägerin am 19. November 2007 mandatierte jetzige Prozessbevollmächtigte
erhob am 20. November 2007 Kündigungsschutzklage und beantragte die „Wiedereinsetzung in den
vorigen Stand“.
5 Die Klägerin ist der Auffassung, ihre Kündigungsschutzklage sei nachträglich zuzulassen. Ihr sei
das Verschulden des zunächst mandatierten Rechtsanwalts nicht zuzurechnen.
6 Die Klägerin hat zuletzt beantragt,
die verspätet erhobene Kündigungsschutzklage betreffend die Kündigung vom
25. September 2007 nachträglich zuzulassen.
7 Die Beklagte hat die Zurückweisung dieses Antrags unter Hinweis auf eine verschuldete
Versäumung der Klagefrist begehrt.
8 Das Arbeitsgericht hat den Antrag mit Beschluss vom 30. Januar 2008 abgewiesen. Die dagegen
gerichtete sofortige Beschwerde vom 11. März 2008, der das Arbeitsgericht nicht abgeholfen und
sie im April 2008 dem Landesarbeitsgericht vorgelegt hat, hat das Landesarbeitsgericht infolge der
zum 1. April 2008 in Kraft getretenen Änderung des § 5 Abs. 4 KSchG als Berufung angesehen und
durch Urteil vom 7. Mai 2008 zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen
Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf nachträgliche Klagezulassung weiter.
Entscheidungsgründe
9 Die Revision der Klägerin hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht eine
nachträgliche Zulassung der verspätet erhobenen Kündigungsschutzklage abgelehnt.
10 A. Das Landesarbeitsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Die
sofortige Beschwerde der Klägerin sei mit Wirkung ab 1. April 2008 als Berufung zu behandeln.
Dies folge aus der zum 1. April 2008 ohne Übergangsvorschrift in Kraft getretenen Änderung von
§ 5 Abs. 4 KSchG. Nach den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts sei durch Urteil
aufgrund mündlicher Verhandlung der Kammer zu entscheiden. In der Sache sei die Berufung
zurückzuweisen. Das Verschulden ihres Bevollmächtigten sei der Klägerin nach § 85 Abs. 2 ZPO
zuzurechnen. Diese Regelung sei auch auf die dreiwöchige Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG
anzuwenden.
11 B. Dem folgt der Senat zwar im Ergebnis, jedoch nur teilweise in der Begründung. Die Revision ist
zulässig, aber nicht begründet, da sich die Klägerin das Verschulden ihres ehemaligen
Bevollmächtigten im Rahmen der nachträglichen Zulassung ihrer Kündigungsschutzklage
zurechnen lassen muss.
12 I. Die statthafte Revision ist zulässig. Das Landesarbeitsgericht hat über die sofortige Beschwerde
der Klägerin gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts zu Recht durch Urteil entschieden (§ 5
Abs. 4 KSchG nF) .
13 Aufgrund der ab 1. April 2008 in Kraft getretenen Neufassung des § 5 Abs. 4 KSchG musste das
Landesarbeitsgericht durch Urteil entscheiden und durfte nicht wie nach altem Recht im Verfahren
der nachträglichen Zulassung einer Kündigungsschutzklage durch Beschluss die sofortige
Beschwerde zurückweisen (Francken/Natter/Rieker NZA 2008, 377, 382; aA LAG Rheinland-Pfalz
23. Mai 2008 - 10 Ta 64/08 -; 23. Mai 2008 - 9 Ta 85/08 -; 5. Juni 2008 - 3 Ta 77/08 -; LAG
Schleswig-Holstein 29. Mai 2008 - 4 Ta 71/08 -; 13. Mai 2008 - 3 Ta 56/08 - NZA-RR 2009, 132;
Bader NZA 2008, 620, 621) . Dies folgt aus den Grundsätzen des intertemporalen Prozessrechts.
14 1. Bis zum 31. März 2008 sah die gesetzliche Regelung in § 5 KSchG aF für das Verfahren der
nachträglichen Zulassung einer Kündigungsschutzklage den Beschluss als Form der
Entscheidung vor und eröffnete dagegen die sofortige Beschwerde. Nunmehr sieht die
Neufassung des § 5 Abs. 4 KSchG ab dem 1. April 2008 ein mit der Berufung anfechtbares
(Zwischen-)Urteil vor. Handelt es sich bei dem Verfahren nach § 5 KSchG um ein
vorgeschaltetes, eigenständiges Verfahren „sui generis“, das mit der zivilprozessualen
Beschwerde nicht vergleichbar ist (vgl. Senat 20. August 2002 - 2 AZB 16/02 - BAGE 102, 213;
BAG 15. September 2005 - 3 AZB 48/05 - NZA-RR 2006, 211), und sieht das
Kündigungsschutzrecht nach altem und nach neuem Recht eine eigenständige
Rechtsmittelregelung einschließlich der Art und Form der Entscheidung durch das
Rechtsmittelgericht vor, verbietet sich deshalb für die Behandlung von Übergangsfällen ein
Rückgriff auf allgemeine Rechtsmittelregelungen außerhalb des § 5 KSchG. Ein Übergangsfall
kann nur nach § 5 KSchG aF oder § 5 KSchG nF gelöst werden, nicht aber über einen Verweis in
§ 78 Satz 1 ArbGG.
15 2. Nach dem intertemporalen Prozessrecht richtet sich die Anwendbarkeit neuer Prozessgesetze
auf anhängige Rechtsstreitigkeiten in erster Linie nach den vom Gesetzgeber - regelmäßig in
Gestalt von Überleitungsvorschriften - getroffenen positiven Regelungen. Fehlen aber
Übergangsregelungen - wie hier -, dann erfasst ein geändertes Prozessrecht im Allgemeinen auch
ein schwebendes Verfahren. Mit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes gilt grundsätzlich das
neue Prozessrecht. Etwas anderes gilt nur, wenn unter der Geltung des alten Rechts
abgeschlossene Prozesshandlungen und Prozesslagen vorliegen oder sich aus dem Sinn und
Zweck der betreffenden Vorschrift oder anderen prozessrechtlichen Grundsätzen Abweichendes
ergibt (st. Rspr. des BGH, bspw. 28. Februar 1991 - III ZR 53/90 - mwN, BGHZ 114, 1;
13. Dezember 2006 - VIII ZR 64/06 - NJW 2007, 519; 23. April 2007 - II ZB 29/05 - BGHZ 172,
136; vgl. auch Zöller/Vollkommer ZPO 26. Aufl. Einl. Rn. 104; MünchKommZPO/Gruber 3. Aufl.
Vorbem. zu §§ 1 ff. EGZPO Rn. 1 f.; Stein/Jonas/Schlosser ZPO 22. Aufl. § 1 EGZPO Rn. 2 ff.;
W. Lüke in Verfahrensrecht am Ausgang des 20. Jahrhunderts FS G. Lüke S. 391 ff.).
16 3. Bei einer Änderung des Rechtsmittelrechts ist allerdings der Grundsatz der
Rechtsmittelsicherheit zu berücksichtigen (vgl. dazu BVerfG 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631/90, 2 BvR
1728/90 - BVerfGE 87, 48; 17. März 2005 - 1 BvR 308/05 - NJW 2005, 1485; BGH 12. März 1980
- IV ZR 102/78 - BGHZ 76, 305; 7. Juli 1994 - BLw 60/94 - LM LwAnpG § 65 Nr. 27 (1/1995); BSG
11. Dezember 2002 - B 5 RJ 42/01 R - NZS 2003, 662; BVerwG 12. März 1998 - 4 CN 12/97 -
BVerwGE 106, 237) . Eine prozessrechtliche Einschränkung der Statthaftigkeit von Rechtsmitteln
oder die Verschärfung ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen lässt ein Rechtsmittel nicht unzulässig
werden, wenn es noch nach altem Rechtszustand zulässig eingelegt worden ist (vgl. BVerfG
7. Juli 1992 - 2 BvR 1631/90, 2 BvR 1728/90 - aaO; BGH 7. Juli 1994 - BLw 60/94 - aaO) . Der
allgemeine Grundsatz des intertemporalen Prozessrechts, wonach eine Änderung von
Verfahrensrecht grundsätzlich auch anhängige Rechtsstreitigkeiten erfasst, erfährt insoweit eine
einschränkende Konkretisierung. Fehlt es an einer gesetzlichen Übergangsregelung, kann eine
nachträgliche Beschränkung von Rechtsmitteln nicht zum Fortfall der Statthaftigkeit eines bereits
eingelegten Rechtsmittels führen (vgl. BVerfG 7. Juli 1992 - 2 BvR 1631/90, 2 BvR 1728/90 - aaO;
17. März 2005 - 1 BvR 308/05 - aaO) .
17 Allerdings fordert der Grundsatz der Rechtsmittelsicherheit es nicht, das Rechtsmittelverfahren
insgesamt nach dem alten Recht abzuwickeln sind (so auch LAG Baden-Württemberg 7. Mai
2008 - 10 Sa 26/08 - SAE 2008, 343) . Vielmehr verbleibt es bei dem allgemeinen Grundsatz, dass
die neuen prozessualen Vorschriften in der Regel für das nach ihrem Inkrafttreten abzuwickelnde
Verfahren gelten und sich insbesondere die gerichtlichen Entscheidungen nach Art und Form nach
den zum Zeitpunkt ihres Erlasses geltenden Vorschriften richten (vgl. MünchKommZPO/Gruber
3. Aufl. Vorbem. zu §§ 1 ff. EGZPO Rn. 1; Stein/Jonas/Schlosser ZPO 22. Aufl. § 1 EGZPO
Rn. 3) . Sollen demgegenüber die Entscheidungen nach Art und Form und nach den zur Zeit der
Einleitung des Verfahrens geltenden Regelungen erfolgen, muss diese Ausnahmegestaltung
gesetzlich besonders angeordnet sein (vgl. LAG Baden-Württemberg 7. Mai 2008 - 10 Sa 26/08 -
aaO; MünchKommZPO/Gruber 3. Aufl. Vorbem. zu §§ 1 ff. EGZPO Rn. 2; Stein/Jonas/Schlosser
ZPO 22. Aufl. § 1 EGZPO Rn. 3) .
18 4. Dementsprechend hat sich das Landesarbeitsgericht bei seiner Entscheidung vom 7. Mai 2008
über die sofortige Beschwerde der Klägerin zu Recht in der ab dem 1. April 2008 für das Verfahren
nach § 5 KSchG vorgesehenen Entscheidungsform des (Zwischen-)Urteils entschieden. Es sind
keine Gründe ersichtlich, die eine ausnahmsweise Abweichung vom Grundsatz der
Anwendbarkeit des neuen Prozessrechts auf schwebende Verfahren gebieten. Insbesondere war
es auch nicht aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes angezeigt, durch
einen nach dem alten Recht vorgesehenen Beschluss zu entscheiden. Die Klägerin als
Rechtsmittelführerin erleidet durch das aufgrund einer mündlichen Verhandlung vor der Kammer
ergehende Urteil - im Vergleich zu einer Entscheidung durch Beschluss - keine prozessualen
Nachteile (vgl. LAG Baden-Württemberg 7. Mai 2008 - 10 Sa 26/08 - SAE 2008, 343) . Im
Gegenteil, sie erhält auf der Grundlage eines durch die zwingende mündliche Verhandlung und
durch die Entscheidung eines Spruchkörpers bestimmten Verfahrens, das zudem die Revision als
Rechtsmittel vorsieht, weitere verfahrensrechtliche Gestaltungsoptionen. Dies stellt mehr als ein
adäquates Äquivalent zu einer Entscheidung durch Beschluss dar. Rechtssicherheits- und
Vertrauensschutzaspekte sind deshalb nicht tangiert. Auch der Rechtsmittelgegner kann darüber
hinaus kein schutzwürdiges Vertrauen dahin gebildet haben, das Verfahren werde durch einen
unanfechtbaren Beschluss der zweiten Instanz abgeschlossen, zumal auch für ihn bei einer
Entscheidung durch Urteil grundsätzlich die Möglichkeit einer Revisionseinlegung eröffnet wird.
19 II. Die Revision der Klägerin ist unbegründet. Der Antrag auf nachträgliche Zulassung der
Kündigungsschutzklage nach § 5 Abs. 1 KSchG ist nicht begründet.
20 Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Rechtsmittel schon deshalb erfolglos ist, weil die Klägerin
die Frist des § 5 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht eingehalten hat. Jedenfalls war die Klägerin trotz aller
ihr nach Lage der Umstände zumutbaren Sorgfalt nicht gehindert, die Klagefrist des § 4 Satz 1
KSchG einzuhalten. Das Verschulden ihres ehemaligen Bevollmächtigten an der Versäumung der
gesetzlichen Klagefrist nach § 4 Satz 1 KSchG ist ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen.
21 1. Die herrschende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur bejaht die Zurechnung des
Verschuldens des Prozessbevollmächtigten bei der Nichteinhaltung der Klagefrist des § 4 Satz 1
KSchG. Gestützt wird die Zurechnung auf § 85 Abs. 2 ZPO entweder in direkter oder analoger
Anwendung ( LAG Rheinland-Pfalz 20. September 2005 - 5 Ta 176/05 -; LAG Köln 10. März 2006 -
3 Ta 47/06 - NZA-RR 2006, 319; LAG Sachsen-Anhalt 8. März 2005 - 11 Ta 3/05 -; LAG Bremen
26. Mai 2003 - 2 Ta 4/03 - NZA 2004, 228; LAG Düsseldorf 20. Dezember 2002 - 15 Ta 447/02 -
NZA-RR 2003, 323; LAG Nürnberg 12. März 2002 - 5 Ta 177/01 - NZA-RR 2002, 490; Thüringer
LAG 30. November 2000 - 7 Ta 19/2000 -; Sächsisches LAG 9. Mai 2000 - 4 Ta 120/00 -; LAG
Baden-Württemberg 26. August 1992 - 8 Ta 80/92 - LAGE KSchG § 5 Nr. 58; HaKo/Gallner
3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 17 ff.; Stahlhacke/Vossen 9. Aufl. Rn. 1845; v. Hoyningen-Huene/Linck
KSchG 14. Aufl. § 5 Rn. 25 ff.; APS/Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 27 ff.; Holthaus
Versäumung der Dreiwochenfrist des § 4 KSchG - Nachträgliche Zulassung der
Kündigungsschutzklage trotz Anwaltsverschuldens? S. 39 ff.; Francken Das Verschulden des
Prozessbevollmächtigten S. 13 ff.; Griebeling NZA 2002, 838, 842 ff.; Tschöpe/Fleddermann BB
1998, 157) . Begründet wird die Zurechnung insbesondere damit, bei der Klagefrist handele es sich
um eine prozessuale Frist, auf die die Regelung des § 85 Abs. 2 ZPO Anwendung finde.
22 Nach der Gegenansicht ist eine Zurechnung des Verschuldens eines Bevollmächtigten bei der
Versäumung der Klagefrist des § 4 Satz 1 KSchG zu verneinen (LAG Hamburg 18. Mai 2005 -
4 Ta 27/04 - NZA-RR 2005, 489; Hessisches LAG 10. September 2002 - 15 Ta 98/02 -; LAG
Hamm 24. September 1987 - 8 Ta 95/87 - LAGE KSchG § 5 Nr. 31; LAG Niedersachsen
28. Januar 2003 - 5 Ta 507/02 - NZA-RR 2004, 17; KR/Friedrich 8. Aufl. § 5 KSchG Rn. 69 ff.;
ErfK/Kiel 8. Aufl. § 5 KSchG Rn. 7; Vollkommer in Arbeitsgesetzgebung und
Arbeitsrechtsprechung FS Stahlhacke S. 599 ff.; Wenzel in Zivilprozess und Praxis FS
E. Schneider S. 325 ff.; Wenzel DB 1970, 730; Schmid Die nachträgliche Zulassung der
Kündigungsschutzklage durch Beschluss S. 134 ff.) . Zur Begründung wird ua. darauf verwiesen,
bei der Klagefrist handele es sich nicht um eine prozessuale, sondern um eine materiell-rechtliche
Frist (Brox/Rüthers/Henssler Arbeitsrecht 17. Aufl. Rn. 523; Musielak/Weth ZPO 6. Aufl. § 85
Rn. 10). Grundsätzlich müsse auf die Sorgfaltspflichten des Arbeitnehmers selbst und nicht auf
diejenigen des Prozessbevollmächtigten abgestellt werden. Durch eine Zurechnung des
Verschuldens des Prozessbevollmächtigten werde der Zugang zum Gericht unnötig erschwert,
was mit der sozialen Zielsetzung des Kündigungsschutzes nicht vereinbar sei (Schmid Die
nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage durch Beschluss S. 108; Wenzel DB 1970,
730, 736).
23 2. Nach Auffassung des Senats muss eine Zurechnung des Verschuldens des (Prozess-
)Bevollmächtigten gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 ArbGG iVm. § 85 Abs. 2 ZPO erfolgen.
24 a) Aus dem Wortlaut des § 5 KSchG ergibt sich nicht, dass allein auf die Situation des einzelnen
Arbeitnehmers und dessen Kenntnisstand bzw. auf sein alleiniges Verschulden abzustellen ist (aA
wohl KR/Friedrich 8. Aufl. § 5 KSchG Rn. 112) . Zwar verweist § 5 Abs. 1 Satz 1 KSchG auf den
„Arbeitnehmer“ und die „ihm“ zuzumutende Sorgfalt. Daraus folgt aber keine Sperre für eine
jegliche Zurechnung von Versäumnissen des Bevollmächtigten. Eine solche Sichtweise ist mit
dem Prinzip der (unmittelbaren) Stellvertretung und der Regelungstechnik des Gesetzgebers nicht
in Einklang zu bringen. Der Arbeitnehmer kann sich im Rahmen einer Kündigungsschutzklage von
einem (Prozess-)Bevollmächtigten vertreten lassen. Ebenso wenig wie die Formulierung „auf
seinen Antrag“ iSd. § 5 Abs. 1 KSchG als „seinen höchstpersönlichen Antrag“ verstanden werden
kann, kann aus der Formulierung „ihm zuzumutenden Sorgfalt“ hergeleitet werden, es komme
ausschließlich auf ihn in Person an, und dies, obgleich eine Vertretung bei der Antragstellung
möglich ist und der Gesetzgeber hierfür „vor die Klammer gezogene“ allgemeine Vorschriften
geschaffen hat. Dies entspricht der üblichen Regelungstechnik des Gesetzgebers, ansonsten
stetig erforderliche Wiederholungen bei den einzelnen „besonderen“ Vorschriften zu vermeiden. So
stellt beispielsweise § 233 ZPO, auf den § 85 Abs. 2 ZPO unstreitig Anwendung findet, auf „ihr
Verschulden“ einer Partei ab. Aus dem auf die Person des Arbeitnehmers bezogenen Wortlaut des
§ 5 KSchG kann deshalb nicht geschlossen werden, Versäumnisse des Bevollmächtigten könnten
dem Arbeitnehmer nicht zugerechnet werden (s. auch Schmid Die nachträgliche Zulassung der
Kündigungsschutzklage durch Beschluss S. 102 f.; Holthaus Versäumung der Dreiwochenfrist
des § 4 KSchG - Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz
Anwaltsverschuldens? S. 49 f.; Francken Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten
S. 25 f.).
25 b) § 85 Abs. 2 ZPO ist im arbeitsgerichtlichen Verfahren grundsätzlich anwendbar. § 46 Abs. 2
Satz 1 ArbGG ordnet für das Urteilsverfahren im ersten Rechtszug grundsätzlich eine
entsprechende Geltung der Vorschriften der Zivilprozessordnung über das Verfahren vor den
Amtsgerichten und damit auch der allgemeinen vor den Amtsgerichten geltenden Vorschriften (§§
495 ff. iVm. §§ 1 - 252 ZPO) an.
26 c) Diese Anwendbarkeit kann nicht mit dem Argument abgelehnt werden, bei der Klagefrist des § 4
Satz 1 KSchG handele es sich um eine materiell-rechtliche und keine prozessuale Frist. Nach der
Rechtsprechung des Senats ist die Frist des § 4 Satz 1 KSchG eine prozessuale
Klageerhebungsfrist und nicht als materiell-rechtliche Frist zu qualifizieren (vgl. 26. Juni 1986 -
2 AZR 358/85 - BAGE 52, 263; 24. Juni 2004 - 2 AZR 461/03 - AP BGB § 620
Kündigungserklärung Nr. 22 = EzA BetrVG 2001 § 102 Nr. 9).
27 d) Die Anwendung des § 85 Abs. 2 ZPO ist auch nicht auf bestimmte Typen prozessualer Fristen
(bspw. Rechtsmittel-/Rechtsbehelfs-, Rechtsmittelbegründungs- oder Präklusionsfristen)
beschränkt. Die Regelung erfasst auch solche Fristen, die erstmalig - wie § 4 Satz 1 KSchG - den
Zugang zum Gericht eröffnen (APS/Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 28; Francken Das
Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 43 ff.; Stahlhacke/Vossen 9. Aufl. Rn. 1845) .
28 aa) Nach seinem Wortlaut erfasst die Regelung die gesamte Prozessführung im
Arbeitsgerichtsprozess einschließlich der Verfahrenseinleitung. Eine Differenzierung ist nicht
vorgesehen. Dabei können Konsequenzen einer versäumten Rechtsmittelfrist ebenso
einschneidend für den Arbeitnehmer sein und ein existenzielles Ausmaß annehmen wie die
Versäumung der Klagefrist (Holthaus Versäumung der Dreiwochenfrist des § 4 KSchG -
Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz Anwaltsverschuldens? S. 100) . Die
mit materiell-rechtlichen Folgen versehene Fristbindung der Kündigungsschutzklage stellt deshalb
auch keine Besonderheit des Rechtsschutzsystems dar, die es rechtfertigen würde, die sonst bei
fristgebundenen Rechtsmitteln vorgesehene Zurechnung des Vertreterverschuldens abweichend
zu behandeln (APS/Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 28) . Der Vertrauenstatbestand, den
der Gesetzgeber den Fristen des KSchG beimisst, ist dem der anderen sog. Prozessfristen
vergleichbar (Francken Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 45; Stahlhacke/Vossen
9. Aufl. Rn. 1845) . Es würde zu Wertungswidersprüchen führen, wenn ein
Organisationsverschulden des Prozessbevollmächtigten hier folgenlos bliebe, der gleiche Fehler
ihm bei der Einlegung der Berufung aber zugerechnet würde (vgl. APS/Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5
KSchG Rn. 28; Griebeling NZA 2002, 838, 843).
29 bb) Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen nicht. Die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) ,
die Gewährleistung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20
Abs. 3 GG) gebieten es nicht, von einer Zurechnung des Vertreterverschuldens bei der
Klageerhebung abzusehen (vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 19; Francken Das
Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 46 ff.; Holthaus Versäumung der Dreiwochenfrist
des § 4 KSchG - Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz
Anwaltsverschuldens? S. 99 f.; Griebeling NZA 2002, 838, 843) . Zwar folgt aus dem aus Art. 19
Abs. 4 GG herzuleitenden Gebot des effektiven Rechtsschutzes, dass dem Bürger der Zugang
zum gerichtlichen Rechtsschutz nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender
Weise erschwert werden darf (etwa BVerfG 29. November 1989 - 1 BvR 1011/88 - BVerfGE 81,
123) . Das einfache Recht und seine Anwendung darf im Einzelfall nur sachangemessene
Zugangsvoraussetzungen verlangen, um dem Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes
gerecht zu werden (etwa BVerfG 29. November 1989 - 1 BvR 1011/88 - aaO).
30 Diese Grundsätze verbieten aber eine Zurechnung des Verschuldens des
Prozessbevollmächtigten bei der Versäumung der Klagefrist nicht. Der Zugang zu Gericht und der
wirkungsvolle Rechtsschutz werden dadurch nicht unzumutbar erschwert. Auch der Grundsatz
des fairen Verfahrens wird nicht verletzt. Der Arbeitnehmer trägt lediglich das mit der Einschaltung
eines Dritten im Rechtsverkehr verbundene Risiko (vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 19;
APS/Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 28; v. Hoyningen-Huene/Linck KSchG 14. Aufl. § 5
Rn. 26; Stahlhacke/Vossen 9. Aufl. Rn. 1845) . Durch die Einschaltung eines Dritten wird sich für
den Betroffenen regelmäßig der Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz verbessern. Diesem
Vorteil steht der Nachteil gegenüber, die durch den Dritten verursachten Fehler und
Versäumnisse, insbesondere die Versäumung einer Klagefrist, verantworten zu müssen. Nach
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist § 85 Abs. 2 ZPO deshalb mit dem
Grundgesetz vereinbar und eine durch ein Vertreterverschulden bewirkte Verkürzung gerichtlichen
Rechtsschutzes durch das Interesse der Gewährleistung von Rechtssicherheit als wesentliches
Element der Rechtsstaatlichkeit gerechtfertigt (vgl. 20. April 1982 - 2 BvL 26/81 - BVerfGE 60, 253;
8. Mai 1973 - 2 BvL 5/72, 2 BvL 6/72, 2 BvL 7/72, 2 BvL 13/72 - BVerfGE 35, 41; vgl. Griebeling
NZA 2002, 838, 843) .
31 cc) Der Vorschrift des § 85 Abs. 2 ZPO liegt der allgemeine Rechtsgedanke zugrunde, dass eine
Partei, die ihren Prozess durch einen Vertreter führt, sich in jeder Weise so behandeln lassen
muss, als wenn sie den Prozess selbst geführt hätte. Die Heranziehung eines Vertreters soll nicht
zu einer Verschiebung des Prozessrisikos zu Lasten des Gegners führen (vgl. BAG 18. Juli 2007
- 5 AZR 848/06 - AP ZPO § 85 Nr. 22 = EzA ZPO 2002 § 85 Nr. 1; BGH 11. Juni 2008 - XII ZB
184/07 - NJW 2008, 2713, 2715; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann ZPO 65. Aufl. § 85
Rn. 2; MünchKommZPO/v. Mettenheim 3. Aufl. § 85 Rn. 9; Musielak/Weth ZPO 6. Aufl. § 85
Rn. 1; Francken Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 50; Holthaus Versäumung der
Dreiwochenfrist des § 4 KSchG - Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz
Anwaltsverschuldens? S. 92 ff.; Griebeling NZA 2002, 838, 842; Barth SAE 2008, 340, 341) . Ohne
eine Zurechnung des Vertreterverschuldens würde dieses Risiko zu Lasten des Gegners
verschoben. Die vertretene Partei könnte sich auf ihr fehlendes Eigenverschulden berufen und
zum Nachteil der anderen Partei die betreffende Prozesshandlung mit fristwahrender Wirkung
nachholen. Die andere Partei müsste stets einkalkulieren, dass die Fristversäumung durch ihren
Gegner nicht auf dessen eigenem Verschulden, sondern auf nicht zurechenbarem
Vertreterverschulden beruht. Der Umstand, dass das Verfahrensrecht der Partei gestattet, sich
eines Vertreters zu bedienen, soll aber eben nicht dazu führen, das Prozessrisiko zu Lasten des
Gegners zu vergrößern (Holthaus Versäumung der Dreiwochenfrist des § 4 KSchG -
Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz Anwaltsverschuldens? S. 93;
Musielak/Weth ZPO 6. Aufl. § 85 Rn. 8) . Der Vertreter hat nach dem Repräsentationsprinzip nicht
nur die Rechte der Partei wahrzunehmen, sondern muss in gleicher Weise auch ihre Pflichten
erfüllen (Francken Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 50) , beispielsweise
fristgemäß Kündigungsschutzklage erheben. Deshalb fallen Unterlassungen von gebotenen
Prozesshandlungen in die Risikosphäre der Partei. Wie im materiellen Recht die
Willenserklärungen des Vertreters nicht nur für, sondern auch gegen den Vertretenen wirken
(§ 164 Abs. 1 Satz 1 BGB) , gilt Entsprechendes auch im Prozessrecht für Prozesshandlungen.
Die in § 85 Abs. 2 ZPO angeordnete Verschuldenszurechnung setzt die nach § 85 Abs. 1 ZPO
stattfindende Zurechnung der Prozesshandlungen auf der Verschuldensebene fort. Der
Bevollmächtigte repräsentiert die Partei in jeder Hinsicht (Holthaus Versäumung der
Dreiwochenfrist des § 4 KSchG - Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz
Anwaltsverschuldens? S. 93 f.) . Eine Ablehnung der Verschuldenszurechnung im Rahmen der
Frist des § 4 Satz 1 KSchG und eine etwaige nachträgliche Zulassung der Klage stünden im
Übrigen im Gegensatz zu dem vom Kündigungsschutzgesetz anerkannten Interesse des
Arbeitgebers an einer möglichst baldigen Klarheit über den Fortbestand des Arbeitsverhältnisses
(vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 20; Stahlhacke/Vossen 9. Aufl. Rn. 1845;
APS/Ascheid/Hesse 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 28; Francken Das Verschulden des
Prozessbevollmächtigten S. 50) und würde zu einer Risikoverschiebung zu Lasten des Gegners
führen, die aber gerade nach dem Sinn und Zweck des § 85 Abs. 2 ZPO verhindert werden soll.
Die genannten Fristen dienen der Beendigung eines Schwebezustands und damit dem
Rechtsfrieden. Die von § 4 Satz 1 KSchG gewünschte Rechtssicherheit und -klarheit lässt § 5
KSchG im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit zurücktreten, aber - wiederum im Interesse der
Rechtssicherheit und -klarheit - nur unter den engen gesetzlichen Voraussetzungen des § 5
KSchG (vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 20).
32 dd) Auch wird der Arbeitnehmer durch eine Zurechnung des Verschuldens des Bevollmächtigten
nicht völlig schutzlos gestellt. Wenn auch oft Kausalität und Schaden nicht immer leicht zu
beweisen sein werden, verbleibt den Betroffenen ein Regressanspruch gegen den
Prozessbevollmächtigten (vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 19; Holthaus Versäumung der
Dreiwochenfrist des § 4 KSchG - Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz
Anwaltsverschuldens? S. 101) . Zwar ist dieser auf Schadensersatz in Geld gerichtete Anspruch
nicht geeignet, den Bestand des Arbeitsverhältnisses als solchen komplett zu kompensieren.
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht die Vereinbarkeit einer Zurechnung des
Anwaltsverschuldens mit dem Grundgesetz für Verfahren festgestellt, die sogar deutlich intensiver
in höchstpersönliche und damit einem Regress nicht zugängliche Rechtspositionen eingreifen als
das arbeitsgerichtliche Kündigungsschutzverfahren (zB Asylverfahren 20. April 1982 - 2 BvL
26/81 - BVerfGE 60, 253).
33 e) Schließlich ist § 85 Abs. 2 ZPO auch nicht erst nach Erhebung der Kündigungsschutzklage
anwendbar, sondern schon im Vorfeld einer Klageerhebung (so aber LAG Hamm 21. Dezember
1995 - 5 Ta 602/94 - LAGE KSchG § 5 Nr. 73; 27. Februar 1996 - 5 Ta 106/95 - LAGE KSchG § 5
Nr. 86; Berkowsky NZA 1997, 352, 355; Rieble Anm. zu LAG Hamm 27. Januar 1994 - 8 Ta
274/93 - LAGE KSchG § 5 Nr. 65; Wenzel in Zivilprozess und Praxis FS E. Schneider S. 325, 343)
. Die Anwendbarkeit des § 85 Abs. 2 ZPO verlangt noch kein bestehendes
Prozessrechtsverhältnis (so zutreffend Schmid Die nachträgliche Zulassung der
Kündigungsschutzklage durch Beschluss S. 103 f.; Francken Das Verschulden des
Prozessbevollmächtigten S. 32 ff.; Holthaus Versäumung der Dreiwochenfrist des § 4 KSchG -
Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz Anwaltsverschuldens? S. 53 ff.;
Tschöpe/Fleddermann BB 1998, 157, 159; Griebeling NZA 2002, 838, 842; Barth SAE 2008, 340,
341) oder eine Prozessvollmacht im „strengen“ Sinn (BGH 27. April 1995 - III ZR 169/93 - BGHR
ZPO § 233 Verschulden 25) . Ausreichend ist das Bestehen eines wirksamen Mandats im
Innenverhältnis (BGH 12. Dezember 2001 - XII ZB 219/01 -; 11. Juni 2008 - XII ZB 184/07 - NJW
2008, 2713, 2714; Zöller/Vollkommer ZPO 26. Aufl. § 85 Rn. 22, 24;
MünchKommZPO/v. Mettenheim 3. Aufl. § 85 Rn. 21; Stein/Jonas/Bork ZPO 22. Aufl. § 85 Rn. 12;
Musielak/Weth ZPO 6. Aufl. § 85 Rn. 15) . Weder kann nach dem Wortlaut davon ausgegangen
werden, dass ein Prozessrechtsverhältnis schon vorliegen müsse, noch aufgrund eines
ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals. In § 85 Abs. 2 KSchG ist ausschließlich vom
„Bevollmächtigten“ die Rede, nicht aber vom „Prozessbevollmächtigten“. Selbst wenn man
aufgrund der Tatsache, dass der Vierte Teil des 2. Abschnitts im 1. Buch der ZPO mit
„Prozessbevollmächtigter und Beistände“ überschrieben ist, aus systematischen Gründen davon
ausginge, mit dem Bevollmächtigten sei ausschließlich ein Prozessbevollmächtigter gemeint, ließe
sich daraus das Erfordernis eines Prozessrechtsverhältnisses nicht herleiten. Bevollmächtigter
wird der Beauftragte nämlich schon mit Erteilung einer Prozessvollmacht und einer
entsprechenden Mandatierung (vgl. Schmid Die nachträgliche Zulassung der
Kündigungsschutzklage durch Beschluss S. 104; Barth SAE 2008, 340, 341; Griebeling NZA
2008, 838, 842) .
34 Soweit § 85 Abs. 1 ZPO von „Prozesshandlungen“ spricht, ist dies ebenfalls nicht notwendig mit
der Existenz eines Prozessrechtsverhältnisses verknüpft. So ist zB die ein
Prozessrechtsverhältnis erst begründende Klageerhebung bereits eine Prozesshandlung. § 85
Abs. 2 ZPO differenziert nicht danach, ob es sich um eine Prozesshandlung innerhalb eines
bereits anhängigen Verfahrens handelt oder es um die Einleitung eben dieses Verfahrens geht
(vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 18) . Vielmehr ist die Norm auf die gesamte
Prozessführung, das heißt alle Prozesshandlungen und Unterlassungen von Prozesshandlungen,
anwendbar. Schon die - beabsichtigte - Erhebung einer Klage stellt daher eine solche
„Prozesshandlung“ iSd. § 85 ZPO dar. Die Unterlassung einer gebotenen Prozesshandlung hat
demnach den notwendigen prozessualen Bezug. Voraussetzung für die Anwendbarkeit des § 85
Abs. 2 ZPO ist lediglich, dass zur beabsichtigten Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses
eine (Prozess-)Vollmacht erteilt wird und ein rechtswirksam begründetes Auftragsverhältnis
zugrunde liegt, nicht aber, dass bereits ein Prozessrechtsverhältnis besteht (Francken Das
Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 36; Griebeling NZA 2002, 838, 842) .
35 f) Der dargestellten Anwendbarkeit des § 85 Abs. 2 ZPO steht nicht der Umstand entgegen, dass
im Rahmen einer bloßen Rechtsberatung eines gekündigten Arbeitnehmers durch einen
Rechtsanwalt, anders als bei dessen Mandatierung unter Erteilung einer Prozessvollmacht, eine
Zurechnung des Anwaltverschuldens nach § 85 Abs. 2 ZPO nicht stattfindet. Darin liegt kein
Wertungswiderspruch. Vielmehr rechtfertigt sich das Ergebnis als Konsequenz aus der
Einschaltung eines Stellvertreters (vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 19; Francken Das
Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 36 ff.; Holthaus Versäumung der Dreiwochenfrist
des § 4 KSchG - Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz
Anwaltsverschuldens? S. 103 ff.) . Die gewillkürte Stellvertretung beruht auf der vom Arbeitnehmer
erteilten Vollmacht, deren Umfang er selbst bestimmt. Vom Umfang der Vollmacht hängt
wiederum der Kreis der Prozesshandlungen ab, für die das Verschulden des
Prozessbevollmächtigten dem Verschulden der Partei gleichsteht (Francken Das Verschulden
des Prozessbevollmächtigten S. 37) . Der Arbeitnehmer, der eine Prozessvollmacht erteilt, hat
selbst seinen Wirkungskreis zur effektiven Durchsetzung seiner Rechte und der
Inanspruchnahme der Gerichte erweitert. Er hat sich der alleinigen Verantwortung für die Erfüllung
der Obliegenheit, Fristen zu wahren, begeben (vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 19) .
Ebenso wie ihm ein rechtzeitiges und korrektes Handeln seines Prozessbevollmächtigten zugute
kommt, kann ihm dessen verspätetes Tätigwerden schaden. Der Arbeitnehmer, der sich lediglich
von einem Rechtsanwalt beraten lässt, ist demgegenüber nach wie vor auf seine eigene Initiative
angewiesen, die Klage rechtzeitig zu erheben. Er behält die Verantwortung für die rechtzeitige
Klageerhebung und delegiert sie nicht.
36 g) Auch die Gesetzgebungsgeschichte (ausführlich hierzu: Schmid Die nachträgliche Zulassung
der Kündigungsschutzklage durch Beschluss S. 16 ff.) und der Sinn und Zweck der Regelungen
sprechen für eine Zurechnung des Vertreterverschuldens (so auch Francken Das Verschulden
des Prozessbevollmächtigten S. 38 ff., 51 f.; Holthaus Versäumung der Dreiwochenfrist des § 4
KSchG - Nachträgliche Zulassung der Kündigungsschutzklage trotz Anwaltsverschuldens?
S. 87 f.; Griebeling NZA 2002, 838, 842) . Aus der Begründung zu § 4 KSchG 1951 geht hervor,
dass die nachträgliche Klagezulassung der Wiedereinsetzung entsprechen sollte. So heißt es in
der Begründung des Entwurfs eines Kündigungsschutzgesetzes der Bundesregierung (BT-
Drucks. 1/2090 S. 13) : „Bei schuldloser Fristversäumung ist, wie im früheren Recht, eine
nachträgliche Zulassung der Klage vorgesehen, § 4. Die Vorschrift entspricht den in den
Ländergesetzen der amerikanischen Zone über diese Frage getroffenen Vorschriften.“ Dies spricht
für eine Zurechnung des Vertreterverschuldens nach § 232 Abs. 2 ZPO aF, der ehemals im
Zusammenhang des Wiedereinsetzungsrechts geregelten Zurechnungsnorm, an deren Stelle § 85
Abs. 2 ZPO getreten ist (vgl. Francken Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 39) .
Auch gibt es keine Anhaltspunkte, dass der Gesetzgeber die Rechtsfolgen des § 85 Abs. 2 ZPO
für die Erhebung der Kündigungsschutzklage und deren nachträgliche Zulassung nach dem
Kündigungsschutzgesetz einschränken wollte (Francken Das Verschulden des
Prozessbevollmächtigten S. 39 f.) . Die Lösung des § 85 Abs. 2 ZPO aus ihrem ehemaligen
Zusammenhang mit dem Wiedereinsetzungsrecht (§ 232 Abs. 2 ZPO aF) spricht vielmehr
zusätzlich gegen eine Beschränkung der Anwendbarkeit der Vorschrift auf bestimmte Typen
prozessualer Fristen (vgl. HaKo/Gallner 3. Aufl. § 5 KSchG Rn. 18) . Vielmehr wurde der
Charakter der Vorschrift als allgemeine über den Regelungskomplex der Wiedereinsetzung hinaus
geltende Zurechnungsnorm und allgemeiner Grundsatz für die Prozessvertretung, der ihr auch bis
dahin schon beigemessen wurde, festgeschrieben (vgl. BT-Drucks. 7/5250 S. 6; siehe auch
Francken Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten S. 40) .
37 h) Der Zurechnung eines Verschuldens des Prozessbevollmächtigten im Rahmen der Klagefrist
steht schließlich nicht entgegen, dass der Gesetzgeber diese im Zuge der Änderung des § 5
KSchG mit Wirkung ab 1. April 2008 im Bewusstsein dieser Problematik und trotz entsprechender
Bitte des Bundesrats (vgl. BT-Drucks. 16/7716 Anlage 3 S. 24, 35 und Anlage 4 S. 37, 39) nicht
zum Bestandteil dieser Norm gemacht hat. Daraus kann nicht geschlossen werden, der
Gesetzgeber lehne eine Zurechnung ab. Dieser hat nicht nur nicht geregelt, dass zuzurechnen sei,
sondern auch nicht, dass nicht zuzurechnen sei. Die Frage wurde vielmehr „offen“ gelassen mit
dem Ziel, insoweit eine höchstrichterliche Klärung herbeizuführen. So sollte nach der
Gesetzesbegründung durch die vom Gesetzgeber eröffnete Möglichkeit einer Revision eine
bundeseinheitliche Rechtsanwendung ermöglicht werden (vgl. BT-Drucks. 16/7716 Anlage 1 S. 7,
25), was gerade bei der Frage der Zurechnung des Verschuldens des Prozessbevollmächtigten
im Rahmen des § 4 Satz 1 KSchG angesichts der konträren Auffassungen der
Landesarbeitsgerichte von Bedeutung ist.
38 3. Unter Berücksichtigung dieses Rahmens muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin
im Entscheidungsfall die Klagefrist verschuldet versäumt hat. Sie hat ihren ehemaligen
bevollmächtigten Rechtsanwalt am 28. September 2007 unter Erteilung einer Prozessvollmacht
mit der Erhebung einer Kündigungsschutzklage beauftragt. Dieser hat es versäumt, in der
Folgezeit fristgerecht Klage zu erheben. Der Klägerin ist dieses Versäumnis ihres damaligen
Bevollmächtigten gemäß § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnen.
39 III. Gemäß § 97 Abs. 1 ZPO hat die Klägerin die Kosten des erfolglosen Rechtsmittels zu tragen.
Rost
Eylert
Schmitz-Scholemann
Beckerle
Pitsch