Urteil des ArbG Reutlingen vom 18.01.2007

ArbG Reutlingen (arbeitgeber, einstellung, mitbestimmungsrecht, betriebsrat, betrieb, bag, arbeitsverhältnis, aug, arbeitnehmer, antrag)

ArbG Reutlingen Beschluß vom 18.1.2007, 2 BV 5/06
Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 BetrVG bei der Einstellung erwerbsfähiger
Hilfsbedürftiger i.S.d. § 16 Abs 3 SGB 2
Leitsätze
Dem Betriebsrat steht ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG zu, wenn der Arbeitgeber in seinem Betrieb
erwerbsfähige Hilfebedürftige i.S.d. § 16 Abs.3 S.2 SGB II (sog. Ein-Euro-Jobber) beschäftigt.
Tenor
Es wird festgestellt, dass der Arbeitgeber (Beteiligte Ziff.2) verpflichtet ist, den Betriebsrat (Antragsteller) vor der
Einstellung von erwerbsfähigen Hilfebedürftigen (Ein-Euro-Jobbern) nach § 99 BetrVG zu beteiligen.
Gründe
I.
1
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Betriebsrat ein Mitwirkungsrecht bei der Einstellung von sogenannten
Ein-Euro-Jobbern zusteht.
2
Der Arbeitgeber (Beteiligte Ziff.2) ist ein gemeinnütziger Verein und hat nach seiner Satzung den Zweck,
Maßnahmen und Einrichtungen zu fördern, die eine wirksame Hilfe für Menschen mit Behinderung und alte
Menschen bedeuten. Er betreibt mit rund 1.200 Arbeitnehmern u.a. eine Körperbehindertenschule,
Schulkindergärten sowie Einrichtungen für alte Menschen. Der Antragsteller (Beteiligte Ziff.1) ist der im Betrieb
des Arbeitgebers gebildete Betriebsrat.
3
Der Arbeitgeber setzt in seinem Betrieb regelmäßig eine Vielzahl erwerbsfähiger, arbeitsloser Hilfebedürftiger
(sog. Ein-Euro-Jobber) ein, deren Auswahl nach entsprechenden schriftlichen Vermittlungsvorschlägen der
Agentur für Arbeit auf Grund der vom Arbeitgeber geführten Vorstellungsgespräche erfolgt. Eine Beteiligung
des Betriebsrats nach § 99 BetrVG vor der Tätigkeitsaufnahme erfolgt nicht.
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Der Betriebsrat ist der Auffassung, der Einsatz der Ein-Euro-Jobber stelle eine nach § 99 BetrVG
mitbestimmungspflichtige Einstellung dar. Unabhängig von konkret zu entscheidenden Einzelfällen bestehe ein
Bedürfnis zur Klärung dieser Streitfrage, weil der Arbeitgeber regelmäßig Beschäftigungen von Ein-Euro-
Jobbern vornehme und dabei der Ansicht sei, dass eine Beteiligung des Betriebsrats nicht erfolgen müsse.
5
Der Betriebsrat beantragt:
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Es wird festgestellt, dass der Beteiligte Ziff.2 verpflichtet ist, den Antragsteller vor der Einstellung von
sogenannten 1-Euro-Jobbern (Zusatzjobbern) nach § 99 BetrVG zu beteiligen.
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Der Arbeitgeber beantragt,
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den Antrag zurückzuweisen.
9
Der Arbeitgeber meint, bei der Beschäftigung von Personen in Arbeitsgelegenheiten nach § 16 Abs.3 Satz 2
SGB II handele es sich nicht um eine Einstellung i.S.v. § 99 BetrVG. Die Ein-Euro-Jobber seien nur 6-12
Monate tätig und würden gerade nicht wie Arbeitnehmer in den Betrieb eingegliedert.
Ihnen solle ein Wiedereinstieg in das Berufsleben ermöglicht werden. Sie erledigten Tätigkeiten, die über den
normalen Arbeitsbedarf hinausgingen. Bei ihrem Einsatz handele sich um eine sozialrechtliche Maßnahme, die
nicht zu einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats führe. Ausreichend sei es, wenn - wie unstreitig
geschehen - der Betriebsrat darüber informiert worden sei, dass Ein-Euro-Jobber im Unternehmen tätig seien.
Ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 BetrVG scheide auch deswegen aus, weil zwar
Vorstellungsgespräche mit den "Bewerbern" geführt würden, eine Auswahlentscheidung angesichts der
sozialrechtlichen Vorgaben aber zumindest gemindert sei.
10 Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der zwischen ihnen gewechselten
Schriftsätze und Anlagen, die Gegenstand des Anhörungstermins vor der Kammer waren, sowie auf die
Sitzungsniederschriften vom 17.10.2006 und 18.01.2007 verwiesen.
II.
11 1. Der Antrag ist zulässig.
12 a. Das erforderliche Feststellungsinteresse liegt vor. Im Beschlussverfahren kann das Bestehen, der Inhalt
oder der Umfang eines Mitbestimmungsrechts losgelöst von einem konkreten Ausgangsfall geklärt werden,
wenn die Maßnahme, für die ein Mitbestimmungsrecht in Anspruch genommen wird, häufiger im Betrieb auftritt
und sich auch zukünftig jederzeit wiederholen kann. Eine gerichtliche Entscheidung ist in der Lage, das
betreffende Rechtsverhältnis zwischen den Beteiligten umfassend zu klären und seinen Inhalt auch für die
Zukunft hinreichend konkret festzustellen (vgl. BAG AP Nr.36 zu § 95 BetrVG 1972). Da der Arbeitgeber
regelmäßig Ein-Euro-Jobber zeitlich begrenzt beschäftigt und für sie entsprechende Einsatzmöglichkeiten
eingerichtet hat, kann sich die "Einstellung" eines Ein-Euro-Jobbers jederzeit wiederholen. Der Zulässigkeit des
Antrags steht auch nicht entgegen, dass der Betriebsrat sein Ziel mit einem Leistungsantrag erreichen könnte.
Ein Antrag nach § 101 BetrVG könnte sich nur auf bereits erfolgte "Einstellungen" von Ein-Euro-Jobbern
beziehen und wäre somit nicht geeignet, ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG für die zukünftige
Beschäftigung dieses Personenkreises zu klären.
13 b. Der Betriebsrat ist antragsbefugt. Er reklamiert ein ihm nach seiner Auffassung zustehendes
Mitbestimmungsrecht nach § 99 Abs. 1 Satz 1 BetrVG .
14 2. Der Antrag ist auch begründet. Dem Betriebsrat steht ein Mitbestimmungsrecht nach § 99 BetrVG zu, wenn
der Arbeitgeber in seinem Betrieb erwerbsfähige Hilfebedürftige i.S.d. § 16 Abs.3 S.2 SGB II beschäftigt.
15 a. In dem Unternehmen des Arbeitgebers sind mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer tätig. Der Arbeitgeber
hat daher nach § 99 Abs.1 Satz 1 BetrVG vor jeder Einstellung die Zustimmung des Betriebsrats einzuholen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kommt es für den Begriff der Einstellung i.S.d.
§ 99 Abs. 1 BetrVG nicht entscheidend auf das Rechtsverhältnis an, in dem die im Betrieb tätigen Personen
zum Arbeitgeber stehen. Vielmehr löst die Eingliederung dieser Personen in den Betrieb das
Mitbestimmungsrecht aus. Der Arbeitgeber muss (zumindest) die für ein Arbeitsverhältnis typischen
Weisungen über den Arbeitseinsatz treffen. Das Arbeitsverhältnis der Personen kann auch zu einem Dritten
bestehen (vgl. BAG AP Nr. 5 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung). Die Anwendung des § 99 BetrVG kommt auch
in Betracht, wenn die fraglichen Personen überhaupt nicht in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber stehen
(für Selbständige BAG AP Nr. 35 zu § 99 BetrVG 1972; für Personen, die im Betrieb eine Ausbildung erhalten
BAG AP Nr. 73 zu § 99 BetrVG 1972) oder in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen (für
Zivildienstleistende BAG AP Nr. 35 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung).
16 b. Nach diesen Grundsätzen hat hier der Betriebsrat mitzubestimmen. Für die Anwendung des § 99 BetrVG
kommt es nicht darauf an, dass gem. § 16 Abs.3 Satz 2, 2.Hs SGB II Arbeiten eines erwerbsfähigen
Hilfebedürftigen in Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung kein Arbeitsverhältnis begründen.
Das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 99 Abs. 1 BetrVG dient vornehmlich den Interessen der
schon vorhandenen Belegschaft. Deren mögliche Gefährdung beruht auf der tatsächlichen Eingliederung eines
neuen Mitarbeiters und hängt nicht davon ab, auf welcher Rechtsgrundlage dieser tätig werden soll (vgl. BAG
AP Nr.43 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung). Entscheidend ist, dass die Ein-Euro-Jobber wie Arbeitnehmer
eingesetzt werden, weisungsgebunden sind und in die betriebliche Arbeitsorganisation eingegliedert werden
(vgl. FESTL, BetrVG, 23.Aufl., § 99 Rdnr. 51 a; DKK-Kittner, 9.Aufl., § 99 Rdnrn.13, 39; Zwanziger, AuR 2005,
8 <14>; Engels, NZA 2007, 8 <11>). Insoweit ist auch zwischen den Beteiligten nicht streitig, dass Ein-Euro-
Jobber mit dem angestellten Personal unmittelbar zusammenarbeiten, in den Arbeitsablauf integriert sind und
die vom Arbeitgeber zur Ausführung ihrer Arbeit erforderlichen Weisungen erhalten. Überwiegend werden sie für
Fahrtätigkeiten und für Hilfstätigkeiten im Pflege- und Betreuungsbereich eingesetzt und dienen damit dem
Betriebszweck. Sie werden beschäftigt, um den arbeitstechnischen Zweck gemeinsam mit den anderen im
Betrieb des Arbeitgebers beschäftigten Arbeitnehmern zu verwirklichen. Ihrer Eingliederung in die betriebliche
Arbeitsorganisation steht entgegen der Ansicht des Arbeitgebers die zeitliche Begrenzung der Zuweisung durch
den Grundsicherungsträger nicht entgegen, weil dem Begriff der "Einstellung" kein zeitlicher Aspekt innewohnt.
17 Der Betriebsrat hat nach § 99 BetrVG bei einer Einstellung unabhängig davon mitzubestimmen, in welchem
zeitlichen Umfang der Einzustellende tätig werden soll. Anders als § 95 Abs.3 BetrVG für die Versetzung
enthält § 99 BetrVG für die Einstellung keine zeitliche Mindestgrenze. Es bedürfen daher auch Einstellungen
für eine kurze Zeit der Zustimmung des Betriebsrats (vgl. BAG AP Nr. 40 zu § 99 BetrVG 1972). Soweit der
Arbeitgeber darauf hinweist, dass sich Rechte und Pflichten der Ein-Euro-Jobber aus sozialrechtlichen Regeln
entsprechend der mit dem Grundsicherungsträger geschlossenen Eingliederungsvereinbarung (§ 15 Abs.1 S.1
SGB II) oder einem eine Vereinbarung ersetzenden Verwaltungsakt (§ 15 Abs.1 S.6 SGB II) ergeben, steht
auch dieser Gesichtspunkt dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nicht entgegen. Der konkrete Einsatz
eines oder mehrerer Ein-Euro-Jobber unterliegt gleichwohl dem Weisungsrecht des Arbeitgebers. Der
Arbeitgeber bleibt auch in seiner Entscheidung frei, mit welchem "zugewiesenen" Ein-Euro-Jobber er ein
Beschäftigungsverhältnis begründen will. So ist auch im Streitfall zwischen den Beteiligten unstreitig, dass der
Arbeitgeber vor der Beschäftigung von Ein-Euro-Jobbern Vorstellungsgespräche führt und auf diese Weise die
Möglichkeit zur Personalauswahl hat. Diese vom Arbeitgeber vorgenommene Personalauswahl betrifft aber die
Interessen der im Betrieb vorhandenen Arbeitnehmer, deren Schutz das Mitbestimmungsrecht nach § 99
BetrVG dient, wie sich aus § 99 Abs. 2 Nr. 3 und 6 BetrVG ergibt. Nach § 99 Abs.1 S.1 BetrVG hat der
Arbeitgeber gegenüber dem Betriebsrat die vorgeschriebenen Informations- und Auskunftspflichten betreffend
die Person eines jeden Ein-Euro-Jobbers zu erfüllen sowie unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen in jedem
Einzelfall Auskunft über die Auswirkungen der Beschäftigung von Ein-Euro-Jobbern auf Betrieb und
Belegschaft zu geben hat. Dem Mitbestimmungsrecht steht daher auch nicht entgegen, dass der Betriebsrat
sich mit der Beschäftigung von Ein-Euro-Jobbern grundsätzlich einverstanden erklärt hat und eine
entsprechende positive Stellungnahme gegenüber dem Arbeitgeber zur Vorlage beim Grundsicherungsträger
abgegeben hat (Engels, NZA 2007, 8 <11>).
18 c. Soweit abweichend von der hier vertretenen Ansicht für den öffentlichen Bereich ein Mitbestimmungsrecht
bei der Besetzung von Arbeitsgelegenheiten gemäß § 16 Abs.3 S.2 SGB II verneint wird (vgl. OVG Rheinland-
Pfalz v.17.05.2006 - 5 A 11752/05 - PersVG 2006,458 m.w.N.), ist darauf hinzuweisen, dass die
Mitbestimmung nach dem BetrVG und dem Personalvertretungsrecht unterschiedliche Ansatzpunkte hat und
die Einstellung im betriebsverfassungsrechtlichen und im personalvertretungsrechtlichen Sinne nicht
deckungsgleich verstanden werden müssen. Die für den personalvertretungsrechtlichen Einstellungsbegriff
geforderten Voraussetzungen sind für den Einstellungsbegriff des Betriebsverfassungsrechts nicht maßgeblich
(vgl. BAG AP Nr.18 zu § 99 BetrVG 1972 Einstellung).
19 3. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen; die Entscheidung ergeht gemäß § 2 Abs. 2 GKG
gerichtskostenfrei.