Urteil des ArbG Paderborn vom 16.05.2008

ArbG Paderborn: residenzpflicht, treu und glauben, allgemeine geschäftsbedingungen, wohnsitznahme, gegen die guten sitten, mittelpunkt der lebensverhältnisse, abmahnung, gemeinde, katholische kirche

Arbeitsgericht Paderborn, 2 Ca 118/08
Datum:
16.05.2008
Gericht:
Arbeitsgericht Paderborn
Spruchkörper:
2. Kammer
Entscheidungsart:
Urteil
Aktenzeichen:
2 Ca 118/08
Nachinstanz:
Landesarbeitsgericht Hamm, 16 Sa 1045/08
Tenor:
Das beklagte Erzbistum wird verurteilt, die Abmahnung vom 19.11.2007
aus der Personalakte der Klägerin zu entfernen.
Es wird festgestellt, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, ihren
Wohnsitz in (einer) der Einsatzgemeinde(n) zu nehmen.
Das beklagte Erzbistum trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Der Streitwert wird auf 7.302,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob die Klägerin einer Residenzpflicht unterliegt.
2
Die Klägerin ist verheiratet und hat drei Söhne. Sie ist seit dem 1.2.1997 bei dem
beklagten Erzbistum zunächst als Praktikantin, dann als Gemeindeassistentin und
schließlich aufgrund Arbeitsvertrages vom 6.1.2000 (Bl. 5 ff. d.A.) seit dem 1.2.2000 als
Gemeindereferentin tätig.
3
Bei ihrer Anstellung als Gemeindeassistentin hat die Klägerin am 21.1.1998 folgende
schriftliche Erklärung (Bl. 104 d.A.) abgegeben:
4
Mit meiner Tätigkeit als Gemeindeassistent/in bzw. Gemeindereferent/in nehme
ich in besonderer Weise am Sendungsauftrag der Kirche teil. Ich verpflichte mich,
meine arbeitsvertraglichen Pflichten (in besonderem Maße) loyal zu erfüllen und
bei der Ausübung meines Dienstes die kirchlichen Vorschriften zu beachten und
zu wahren.
5
Ferner nehme ich zur Kenntnis, dass die Anlage 20 zur KAVO sowie das
Diözesane Statut für Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten im
Erzbistum P1 vom 11.9.1995 (KA 1996 Stück 3 Nr. 30) nebst Anlagen in den
6
jeweiligen Fassungen Bestandteil des Anstellungsvertrages sind.
§ 2 des Arbeitsvertrages vom 6.1.2000 sieht vor, dass die Kirchliche Arbeits- und
Vergütungsordnung (KAVO) in ihrer jeweiligen Fassung einschließlich der Anlagen
Vertragsbestandteil ist.
7
§ 11 Nr. 1 des Arbeitsvertrages vom 6.1.2000 lautet wie folgt:
8
Der Mitarbeiter ist verpflichtet, seinen Wohnsitz innerhalb der Einsatzgemeinde zu
nehmen.
9
In Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO (Bl. 49 ff.) heißt es:
10
Auf Verlangen des Dienstgebers ist der Mitarbeiter verpflichtet, seinen Wohnsitz in
der Einsatzgemeinde bzw. einer der Einsatzgemeinden oder im örtlichen
Einsatzgebiet zu nehmen.
11
In der Ausführungsverordnung zu Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO (Bl. 59 d.A.) sind "zur
Vermeidung unbilliger Härten im Einzelfall" Ausnahmen von der Wohnsitzverpflichtung
der Gemeindereferentinnen und Gemeindereferenten in der Einsatzgemeinde geregelt.
12
Als Gemeindereferentin war die Klägerin zunächst 7 Jahre im Gemeindeverbund S4-S5
tätig. Mit ihrer Familie erwarb sie dort ein Hausgrundstück. Zum 1.5.2007 wurde die
Klägerin in den Pastoralverbund P1-N2-O1 (PNO) versetzt. Ihre Einsatzorte sind seither
die katholischen Kirchengemeinden St. B3, St. H3 und St. S6. Die Klägerin ist für den
Seelsorgeunterricht in den drei Grundschulen sowie für die
Erstkommunionsvorbereitungen zuständig. Zudem verrichtet sie Büroarbeiten, führt
Team-Dienstgespräche und nimmt an Pfarrgemeinderatsterminen sowie an über den
PNO hinausgehenden Konferenzen teil. Wegen der Einzelheiten des Tätigkeitsbildes
der Klägerin wird auf deren Schriftsatz vom 1.4.2008 (Bl. 67 d.A.) verwiesen. Die
Entfernung zwischen dem Wohnsitz der Klägerin und ihrem Einsatzort / ihren
Einsatzorten beträgt ca. 8 km.
13
Über die Frage der Wohnsitznahme der Klägerin im PNO entspannte sich ein
umfangreicher vorgerichtlicher Schriftwechsel. Wegen der Einzelheiten wird verwiesen
auf:
14
- das Schreiben der Klägerin vom 12.1.2007 (Bl. 51 d.A.)
15
das Schreiben des beklagten Erzbistums vom 27.3.2007 (Bl. 53 ff. d.A.)
das Schreiben der Klägerin vom 25.4.2007 (Bl. 52 d.A.)
das Schreiben des beklagten Erzbistums vom 6.8.2007 (Bl. 8 d.A.)
das Schreiben des Ehemanns der Klägerin vom 24.10.2008 (Bl. 9 f. d.A.)
das Schreiben des beklagten Erzbistums vom 31.10.2007 (Bl. 56 d.A.)
das Schreiben des beklagten Erzbistums vom 31.10.2007 (Bl. 11 d.A.).
16
17
Ausweislich des Sitzungsprotokolls vom 30.10.2007 (Bl. 12. ff. d.A.) wurde über die
Frage der Wohnsitznahme erfolglos ein Schlichtungsverfahren nach § 47 KAVO
durchgeführt.
18
Mit Schreiben vom 19.11.2007 (Bl. 14 ff. d.A.) erteilte das beklagte Erzbistum der
Klägerin eine Abmahnung, in welcher ihr sinngemäß vorgeworfen wird, dass sie trotz
der auf ihren eigenen Wunsch erfolgten Umsetzung und trotz des erklärten
Einverständnisses mit einer Wohnsitznahme im PNO ihrer Residenzpflicht nicht
nachgekommen sei.
19
Die Klägerin nahm mit Schreiben vom 3.12.2007 (Bl. 16 ff. d.A.) zu der Abmahnung
Stellung und wies insbesondere daraufhin, dass sie zwischenzeitlich – wie per Email
vom 30.10.2007 bereits mitgeteilt – einen Zweitwohnsitz im PNO genommen habe.
20
Die Klägerin meint, die Abmahnung vom 19.11.2007 sei unwirksam und daher aus ihrer
Personalakte zu entfernen. Die Regelungen zur Residenzpflicht in § 11 Nr. 1 des
Arbeitsvertrages vom 6.1.2000 sowie in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO seien nach §
307 Abs. 1 und 2 BGB unwirksam. Zum einen seien die Regelungen intransparent, da
die verwendeten Begrifflichkeiten nach der aktuellen kirchlichen Gemeindestruktur nicht
eindeutig seien. Zum anderen seien die Regelungen materiell unangemessen
benachteiligend, da sie einen durch die Tätigkeit der Klägerin als Gemeindereferentin
nicht gerechtfertigten Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit und Freizügigkeit der
Klägerin darstellten. Jedenfalls erfülle die Klägerin die sie etwaig treffende
Residenzpflicht bereits durch ihren derzeitigen (Erst-)Wohnsitz. Dieser liege nämlich im
"örtlichen Einsatzgebiet" i.S.v. Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO. Das Pochen des
beklagten Erzbistums auf einer Wohnsitznahme im PNO sei angesichts der geringen
Entfernung und nach dem Sinn und Zweck einer Residenzpflicht eine bloße Formalie.
Die Klägerin verweist auf den wirtschaftlichen Schaden, der ihr durch einen Zwang zur
Veräußerung ihres Eigenheims entstehen würde. Außerdem müsse berücksichtigt
werden, dass die Umsetzung in den Pastoralverbund P1-N2-O1 (nur) wegen Problemen
mit dem Pastor im Gemeindeverbund S4-S5 erfolgt sei.
21
Die Klägerin beantragt,
22
1. Der Beklagte wird verpflichtet, die Abmahnung vom 19.11.2007 aus der
Personalakte der Klägerin zu entfernen.
23
2. Es wird festgestellt, dass die Klägerin nicht verpflichtet ist, der in § 11
Ziff. 1 des Arbeitsvertrages vom 6.1.2000 niedergelegten Verpflichtung,
ihren Wohnsitz innerhalb der Einsatzgemeinde zu nehmen,
nachzukommen.
24
3. Hilfsweise:
25
Es wird festgestellt, dass die Klägerin die im Arbeitsvertrag vom 6.1.2000
unter § 11 Ziff. 1 niedergelegte Verpflichtung, ihren Wohnsitz innerhalb
der Einsatzgemeinde zu nehmen, durch den derzeitigen Wohnsitz erfüllt.
26
Das beklagte Erzbistum beantragt,
27
die Klage abzuweisen.
28
Das beklagte Erzbistum meint, die Abmahnung vom 19.11.2007 sei wirksam. Die
Regelungen zur Residenzpflicht in § 11 Nr. 1 des Arbeitsvertrages vom 6.1.2000 sowie
in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO seien wirksam. Sie verstießen zum einen nicht gegen
das Transparenz- bzw. Bestimmtheitsgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB. Nr. 10 der
Anlage 20 zur KAVO trage den unterschiedlichen pastoralen Strukturen der nordrhein-
westfälischen (Erz-) Bistümer Rechnung. Der Wortlaut sei eindeutig: Bei einem Einsatz
in einer Gemeinde sei der Wohnsitz in dieser Einsatzgemeinde zu nehmen. Bei einem
Einsatz in mehreren Gemeinden sei der Wohnsitz in einer dieser Einsatzgemeinden zu
nehmen. Die Klägerin lebe danach weder in einer der Einsatzgemeinden noch im
örtlichen Einsatzgebiet. Die Residenzpflicht sei auch sachlich gerechtfertigt. Das
beklagte Erzbistum verweist insofern auf sein verfassungsrechtlich garantiertes
Selbstbestimmungsrecht. Die pastoralen Mitarbeiter – so auch Gemeindereferentinnen –
nähmen in besonderer Weise am Sendungsauftrag der Kirche teil. Der pastorale Dienst
stelle an die persönliche Lebensführung Anforderungen, die über das für einen jeden
Christen und teilweise auch sonstige kirchliche Mitarbeiter geltende Maß hinausgingen.
Ihr Wirken im Beruf müsse sich durch das Zeugnis des gesamten Lebens als glaubhaft
erweisen. Die Regelungen zur Residenzpflicht seien wirksam, weil das Leben in und
mit der Einsatzgemeinde bei Mitarbeitern im pastoralen Dienst unerlässlich sei. Da die
Residenzpflicht den von der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben Rechnung trage,
sei sie für die Arbeitsgerichte verbindlich. Insofern liege der Residenzpflicht gerade ein
durch die Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses begründetes berechtigtes Interesse
des kirchlichen Arbeitgebers zugrunde. Schließlich behauptet das beklagte Erzbistum,
die Umsetzung der Klägerin in den PNO sei auf deren eigenen Wunsch erfolgt, dem
nicht entsprochen worden wäre, wenn die Klägerin nicht – insbesondere mit Schreiben
vom 25.4.2007 (Bl. 52 d.A.) – ihr ausdrückliches Einverständnis mit der Wohnsitznahme
in dem neuen Pastoralverbund erklärt hätte. Das beklagte Erzbistum fühle sich durch
das widersprüchliche Verhalten der Klägerin getäuscht.
29
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den
vorgetragenen Inhalt der von den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen
verwiesen.
30
Entscheidungsgründe
31
Die Klage hatte Erfolg.
32
Sie ist zulässig und begründet.
33
Die Klägerin unterliegt keiner Residenzpflicht.
34
Die Regelungen in § 11 Nr. 1 des Arbeitsvertrages der Klägerin vom 6.1.2000 und in Nr.
10 der Anlage 20 zur KAVO sind unwirksam.
35
I.
36
Der im Zentrum des Rechtsstreits stehende Feststellungsantrag zu 2. ist zulässig und
begründet.
37
1.
38
1.
38
Der Feststellungsantrag zu 2. ist zulässig.
39
Die Voraussetzungen des § 256 Abs. 1 ZPO sind erfüllt. Es liegt sowohl das
erforderliche feststellungsfähige Rechtsverhältnis als auch ein besonderes
Feststellungsinteresse vor.
40
Die gebotene Auslegung des Antrages entsprechend §§ 133, 157 BGB ergibt, dass es
um die Wirksamkeit der der Klägerin arbeitsvertraglich auferlegten Residenzpflicht geht.
Insofern ist anerkannt, dass auch einzelne Pflichten aus einem Vertragsverhältnis
feststellungsfähige Rechtsverhältnisse i.S.d. § 256 Abs. 1 ZPO darstellen.
41
Die Klägerin hat auch ein besonderes Interesse an einer (alsbaldigen) Feststellung der
(Un-) Wirksamkeit der ihr arbeitsvertraglich auferlegten Residenzpflicht. Dieses
besondere Feststellungsinteresse besteht neben dem auf Entfernung der Abmahnung
vom 19.11.2007 gerichteten Leistungsantrag zu 1.
42
Die Rechtskraft des Leistungsantrages bezieht sich nur auf die Entfernung – ggf. aus
bloß formalen Gesichtspunkten – der streitgegenständlichen Abmahnung aus der
Personalakte der Klägerin. Zudem könnte sich ohne die hier begehrte Feststellung der
Streit – spätestens – bei der nächsten (Regel-)Umsetzung der Klägerin und einer daraus
etwaig resultierenden größeren Entfernung zu ihrem derzeitigen (Erst-)Wohnsitz neu
entfachen.
43
Hingegen ist der Feststellungsantrag zu 2. zur umfassenden Befriedung der Parteien
geeignet, da entgegen einer – rechtskräftigen – gerichtlichen Feststellung im Sinne der
Klägerin eine Abmahnung oder gar Kündigung nicht – zumindest nicht rechtsbeständig
– mit der Begründung ausgesprochen werden könnte, dass die Klägerin gegen eine sie
treffende Residenzpflicht verstoßen habe.
44
2.
45
Der Feststellungsantrag zu 2. ist auch begründet.
46
Die Klägerin unterliegt keiner Residenzpflicht.
47
Die Regelungen in § 11 Nr. 1 des Arbeitsvertrages der Klägerin vom 6.1.2000 bzw. in
Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO sind unwirksam.
48
Sie halten einer Inhaltskontrolle nach Maßgabe der §§ 305 ff. BGB nicht stand.
49
a)
50
Die Kammer kann offenlassen, ob die der Klägerin auferlegte Residenzpflicht sich nach
§ 11 Nr. 1 des Arbeitsvertrages vom 6.1.2000 oder nach der weiter gefassten ("auf
Verlangen des Dienstgebers", "oder im örtlichen Einsatzgebiet") Nr. 10 der Anlage 20
zur KAVO nebst den dazugehörigen Ausnahmeregelungen für Härtefälle in der
Ausführungsverordnung bestimmt. Denn in beiden Fällen ist von einer
unangemessenen Benachteiligung der Klägerin i.S.d. § 307 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 BGB
auszugehen.
51
b)
52
Der sachliche Anwendungsbereich der §§ 305 ff. BGB ist in jedem Falle eröffnet.
53
Sowohl bei dem vorformulierten Arbeitsvertrag der Klägerin vom 6.1.2000 als auch bei
der Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO handelt es sich um allgemeine
Geschäftsbedingungen i.S.d. §§ 305 ff. BGB.
54
Insbesondere ist die KAVO nebst ihrer Anlage 20 nicht als Tarifvertrag oder zumindest
tarifvertragsähnlich gem. § 310 Abs. 4 S. 1 BGB von der AGB-Kontrolle ausgenommen.
55
Bei der KAVO handelt es sich um sog. Arbeitsvertragsrichtlinien.
56
Insofern hat das BAG (v. 17.11.2005 – 6 AZR 160/05, NZA 2006, 872) für die AVR-
Caritas ausdrücklich entschieden, dass es sich um allgemeine Geschäftsbedingungen
i.S.d. § 305 ff. BGB handelt.
57
Die AVR-Caritas seien für eine Vielzahl von Verträgen formulierte
Vertragsbedingungen, welche die dem Caritasverband angeschlossenen Arbeitgeber
ihren Arbeitnehmern stellten. Es handele sich bei solchen kirchlichen
Arbeitsvertragsregelungen nicht um Tarifverträge i.S.d. TVG, weil sie nicht nach dessen
Maßgabe zustande kämen. Kirchliche Arbeitsvertragsregelungen wirkten jedenfalls
ohne eine entsprechende kirchengesetzliche Regelung und ohne eine staatliche
Verweisungsnorm – wie z.B. § 4 Abs. 1 TVG – anders als Tarifverträge, Betriebs- und
Kollektivvereinbarungen nicht normativ, sondern bedürften für ihre Geltung einer
individualrechtlichen Einbeziehung. Der Gesetzgeber habe durch die Forderung nach
der angemessenen Berücksichtigung der Besonderheiten des Arbeitsrechts gem. § 310
Abs. 4 S. 2 BGB eine Möglichkeit eröffnet, dass verfassungsrechtlich garantierte
Selbstbestimmungsrecht der Kirchen (dazu unten) bei der Anwendung der §§ 305 ff.
BGB zu gewährleisten.
58
Selbiges muss nach Auffassung der Kammer für die KAVO nebst Anlagen gelten. Denn
diese unterscheiden sich hinsichtlich ihres Zustandekommens und mithin ihrer
Rechtsnatur nicht – zumindest nicht entscheidend – von den AVR-Caritas (vgl. vor der
Schuldrechtsreform: BAG v. 28.1.1998 – 4 AZR 491/96, NZA-RR 1998, 424).
59
c)
60
Die § 305 ff. BGB sind auch in zeitlicher Hinsicht anwendbar.
61
Auf vor dem 1.1.2002 begründete Dauerschuldverhältnisse, zu welchen auch
Arbeitsverhältnisse zählen, sind ab dem 1.1.2003 die Bestimmungen der §§ 305 ff. BGB
in der Fassung des Gesetzes zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26.11.2001
anzuwenden, Art. 229 § 5 EGBGB.
62
d)
63
Die Kammer lässt offen, ob die Regelungen in § 11 Nr. 1 des Arbeitsvertrages der
Klägerin vom 6.1.2000 bzw. in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO bereits wegen
mangelnder Klarheit und Verständlichkeit nach § 307 Abs. 1 S. 1 und 2 BGB unwirksam
64
sind.
Nach § 307 Abs. 1 S. 2 BGB sind Verwender von allgemeinen Geschäftsbedingungen
entsprechend den Grundsätzen von Treu und Glauben verpflichtet, Rechte und Pflichten
ihrer Vertragspartner möglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dazu gehört auch,
dass allgemeine Geschäftsbedingungen wirtschaftliche Nachteile und Belastungen
soweit erkennen lassen, wie dies nach den Umständen gefordert werden kann. Danach
müssen die tatbestandlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen so genau beschrieben
werden, dass für den Verwender keine ungerechtfertigten Beurteilungsspielräume
entstehen. Eine Klausel genügt dem Bestimmtheitsgebot des § 307 Abs. 1 S. 2 BGB,
wenn sie im Rahmen des rechtlichen und tatsächlich Zumutbaren die Rechte und
Pflichten des Vertragspartners des Klauselverwenders so klar und präzise wie möglich
beschreibt. Sie verletzt das Bestimmtheitsgebot, wenn sie vermeidbare Unklarheiten
und Spielräume enthält (BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR 973/06, NZA 2008, 170). Es gilt
allerdings auch, dass nicht jede Regelung, die der Auslegung bedarf, intransparent
i.S.d. § 307 Abs. 1 S. 2 BGB ist.
65
Vorliegend ließe sich nach Auffassung der Kammer – mit dem beklagten Erzbistum –
durchaus vertreten, dass bereits durch § 11 Nr. 1 des Arbeitsvertrages vom 6.1.2000
hinreichend deutlich wird, dass bei einem Einsatz in einer Gemeinde der Wohnsitz eben
in dieser Einsatzgemeinde zu nehmen ist, während bei einem Einsatz in mehreren
Gemeinden der Wohnsitz in einer dieser Einsatzgemeinden genommen werden muss;
so wie dies jedenfalls in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO ausdrücklich geregelt ist.
66
Auch spricht einiges dafür, dass der Begriff des "örtlichen Einsatzgebietes" im Sinne
eines – hinreichend bestimmten – Auffangtatbestandes lediglich den unterschiedlichen
pastoralen Strukturen der nordrhein-westfälischen Erzbistümer Rechnung trägt und ihm
in der vorliegenden Konstellation keine eigenständige Bedeutung zukommt.
67
Schließlich dürfte keine weitere Konkretisierung des Begriffes des "Wohnsitzes"
erforderlich gewesen sein. Denn mit dem BAG (v. 7.6.2006 – 4 AZR 316/05, NZA 2007,
343) ist im Zweifel davon auszugehen, dass die Erfüllung der Verpflichtung zur
Wohnsitznahme sich nicht nach melderechtlichen, sondern nach bürgerlich-rechtlichen
Kriterien (vgl. § 7 BGB) richtet.
68
Fraglich wäre aus Sicht der Kammer allenfalls, ob in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO die
Kriterien hätten – hinreichend deutlich – fixiert werden müssen, nach welchen der
Dienstgeber sein Verlangen an den Mitarbeiter zur Wohnsitznahme in einer
Einsatzgemeinde zu betätigen oder von einem entsprechenden Verlangen abzusehen
hat (dazu noch unten).
69
e)
70
Die streitgegenständlichen Regelungen zur Residenzpflicht in § 11 Nr. 1 des
Arbeitsvertrages der Klägerin vom 6.1.2000 bzw. in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO sind
jedenfalls wegen materiell unangemessener Benachteiligung i.S.d. § 307 Abs. 1 Satz 1
BGB unwirksam.
71
aa)
72
Nach § 307 Abs. 1 S. 1 BGB sind Bestimmungen in allgemeinen Geschäftsbedingungen
73
unwirksam, wenn sie den Vertragspartner entgegen Treu und Glauben unangemessen
benachteiligen.
Unangemessen ist jede Beeinträchtigung eines rechtlich anerkannten Interesses des
Arbeitnehmers, die nicht durch begründete und billigenswerte Interessen des
Arbeitgebers gerechtfertigt ist oder durch gleichwertige Vorteile ausgeglichen wird. Die
Feststellung einer unangemessenen Benachteiligung setzt eine wechselseitige
Berücksichtigung und Bewertung rechtlich anzuerkennender Interessen der
Vertragspartner voraus. Bei diesem Vorgang sind auch grundrechtlich geschützte
Rechtspositionen zu beachten. Es bedarf einer umfassenden Würdigung der beiden
Positionen unter Berücksichtigung des Grundsatzes von Treu und Glauben. Dabei ist
auch die Stellung der Klausel im Gesamtvertrag zu berücksichtigen, ebenso wie
kompensierende oder summierende Effekte. Zur Beurteilung der Unangemessenheit ist
ein genereller, typisierender, vom Einzelfall losgelöster Maßstab anzulegen. Im Rahmen
der Inhaltskontrolle sind dabei Art und Gegenstand, Zweck und besondere Eigenart des
jeweiligen Geschäftes zu berücksichtigen. Zu prüfen ist, ob der Klauselinhalt bei der in
Rede stehenden Art des Rechtsgeschäftes generell unter Berücksichtigung der
typischen Interessen der beteiligten Verkehrskreise eine unangemessene
Benachteiligung des Vertragspartners ergibt. Werden allgemeine
Geschäftsbedingungen für verschiedene Arten von Geschäften oder gegenüber
verschiedenen Verkehrskreisen verwendet, deren Interessen, Verhältnisse und
Schutzbedürfnisse generell unterschiedlich gelagert sind, kann die Abwägung zu
gruppentypisch unterschiedlichen Ergebnissen führen. Sie ist in den Vertrags- oder
Fallgruppen vorzunehmen, wie sie durch die an dem Sachgegenstand orientierte
typische Interessenlage gebildet werden (BAG v. 4.3.2004 – 8 AZR 344/03, JURIS; v.
21.4.2005 – 8 AZR 424/04, NZA 2005, 1053 jeweils mit umfangreichen weiteren
Nachweisen).
74
bb)
75
Diesem Maßstab halten die streitgegenständlichen Regelungen zur Residenzpflicht
selbst bei der gebotenen angemessenen Berücksichtigung der im Arbeitsrecht
geltenden Besonderheiten gem. § 310 Abs. 4 S. 2 BGB nicht stand.
76
(1)
77
Zwar hat das BAG (v. 17.11.2005 – 6 AZR 160/05, NZA 2006, 872) betont, dass
kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien – wie die KAVO (s.o.) – anders als Tarifverträge auf
dem sog. "Dritten Weg" entstünden, dieser Unterschied gegenüber der Entstehung von
Tarifverträgen es aber nicht rechtfertige, kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien einer
grundsätzlich anderen Inhaltskontrolle zu unterziehen, als sie bei Tarifverträgen
vorzunehmen wäre.
78
Und Tarifverträge sind allein daraufhin zu untersuchen, ob sie gegen die Verfassung,
gegen anderes höherrangiges zwingendes Recht oder gegen die guten Sitten
verstoßen (BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 160/05, NZA 2006, 872).
79
Jedoch hat das BAG diese Aussage in der benannten Entscheidung mit der
Einschränkung versehen, dass der gleiche Kontrollmaßstab wie bei Tarifverträgen
jedenfalls (= nur?) insoweit gelte, als die kirchlichen Arbeitsvertragsrichtlinien
einschlägige tarifvertragliche Regelungen ganz oder mit im Wesentlichen gleichen
80
Inhalten übernehmen (BAG v. 17.11.2005 – 6 AZR 160/05, NZA 2006, 872).
Richtigerweise lässt sich nach Auffassung der Kammer die Einschränkung des
Kontrollmaßstabes nicht auf andere Konstellationen erstrecken. Denn nach dem Willen
des Gesetzgebers können kirchliche Arbeitsvertragsrichtlinien nur insoweit an dem
Tarifvertragsprivileg teilnehmen, als sie entsprechende tarifvertragliche Regelungen
abbilden. Im Übrigen unterliegen sie der – vollen – Inhaltskontrolle nach §§ 305 ff. BGB
(ebenso ausdrücklich: LAG Köln v. 27.11.2006 – 14 Sa 859/06, ZMV 2007, 157).
81
Vorliegend ist indes weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass und welche
einschlägigen tarifvertraglichen Regelungen – zumindest im Wesentlichen – durch die
Regelungen des Arbeitsvertrages der Klägerin v. 6.1.2000 bzw. die Regelungen in Nr.
10 der Anlage 20 zur KAVO zur Residenzpflicht abgebildet würden.
82
Auf tarifvertragliche Regelungen für gänzlich andere Berufsgruppen (vgl. BAG v.
7.6.2006 – 4 AZR 317/05, NZA 2007, 343 zur Residenzpflicht von Hausmeistern nach §
16 des Mantel- und Lohntarifvertrages für Arbeiter der städtischen
Wohnungsgesellschaften) kann insofern nach Auffassung der Kammer nicht abgestellt
werden. Vielmehr muss ähnliches gelten wie für die Kontrollfreiheit einbezogener
kollektiver Regelungen, bei welchen herkömmlich zwischen sog. Global-, Einzel- und
Teilverweisungen unterschieden wird und selbst für Globalverweisungen ganz
überwiegend angenommen wird, dass eine Inhaltskontrolle nur entbehrlich ist, wenn auf
den jeweils einschlägigen Tarifvertrag verwiesen wird (vgl. Erfurter Kommentar/Preis, 7.
Aufl. [2007], §§ 305-310 BGB, Rd.-Nr. 15 ff.).
83
(2)
84
Die Frage der Einschränkung des Kontrollmaßstabes mit Blick auf das sog.
Tarifvertragsprivileg kann aber auch dahinstehen. Denn die streitgegenständlichen
Wohnsitzklauseln halten nach Auffassung der Kammer selbst dem eingeschränkten
Maßstab bei der Kontrolle von Tarifverträgen nicht stand.
85
(aa)
86
Für "weltliche" Arbeitsverhältnisse hat das BAG (v. 7.6.2006 – 4 AZR 316/05, NZA
2007, 343) bereits entschieden, dass ein Tarifvertrag die Verpflichtung eines
Arbeitnehmers zur Wohnsitznahme am Ort seiner Tätigkeit nur begründen kann, wenn
dieser Verpflichtung ein durch die Besonderheiten des Arbeitsverhältnisses
begründetes berechtigtes Interesse des Arbeitgebers zugrunde liegt.
87
Das BAG hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Rechtsprechung grundsätzlich
auch bei der Anwendung tarifvertraglicher Regelungen durch die Schutzfunktion der
Grundrechte verpflichtet sei, solchen Regelungen die Durchsetzung zu verweigern, die
eine unangemessene Beschränkung eines grundrechtlichen Freiheitsrechts zur Folge
haben.
88
Art. 11 Abs. 1 GG beinhalte das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes
Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen, wobei hier die Wohnsitzbegründung gem. § 7 BGB
als ständige Niederlassung mit dem rechtsgeschäftlichen Willen zu verstehen sei, den
Ort zum ständigen Mittelpunkt der Lebensverhältnisse zu machen. Die Verpflichtung zur
Begründung eines Wohnsitzes an einem bestimmten Ort greife daher in das Recht auf
89
Freizügigkeit gem. Art. 11 Abs. 1 GG und – angesichts der Begründung eines
Lebensmittelpunktes als Ausdruck des allgemeinen Persönlichkeitsrechts – auch in das
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Derartige Beschränkungen des Privatlebens von
Arbeitnehmern durch tarifvertragliche Regelungen könnten nur dann gerechtfertigt sein,
wenn ein Bezug zu beruflichen Aufgaben bestehe. Sie müssten durch das
Arbeitsverhältnis tatsächlich geboten sein, wie etwa bei einem Lokalredakteur einer
Tageszeitung, für dessen Arbeit es unerlässlich sei, bei lokalen Ereignissen innerhalb
kurzer Zeit zur Stelle zu sein, um darüber berichten zu können (BAG v. 7.6.2006 – 4
AZR 316/05, NZA 2007, 343).
Die Verpflichtung zur Wohnsitznahme habe als sachlichen Grund gerade die
Notwendigkeit der möglichst ständigen Anwesenheit am Arbeitsort oder in dessen
Nähe. Die Verpflichtung zum Bezug einer Dienstwohnung finde sich dementsprechend
häufig bei Hausmeisterarbeitsverträgen, aber auch bei Feuerwehrmännern, Mitarbeitern
der Autobahnmeisterei oder Heimleitern (BAG v. 7.6.2006 – 4 AZR 316/05, NZA 2007,
343).
90
Es bedürfe stets der Einbeziehung der vertraglichen Arbeitsverpflichtungen im
Einzelfall. Danach sei die Verpflichtung eines Arbeitnehmers zur Begründung und
Beibehaltung eines Wohnsitzes in unmittelbarer Nähe zu seinem Arbeitsplatz unter
grundrechtlichen Aspekten (nur) dann nicht zu beanstanden, wenn der damit
verbundene Eingriff in die Grundrechte aus Art. 11 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG durch die
Notwendigkeit der Wohnsitznahme für die Erfüllung seiner Arbeitspflicht begründet ist.
Eine Tarifnorm, die bei Vorliegen einer solchen Notwendigkeit die Rechtsfolge der
Wohnsitznahmeverpflichtung ausspricht, sei wirksam. Sie sei hinreichend legitimiert, da
sie unter diesen Voraussetzungen erforderlich, geeignet und angemessen sei (BAG v.
7.6.2006 – 4 AZR 316/05, NZA 2007, 343).
91
(bb)
92
Bei uneingeschränkter Anwendung dieser für tarifvertragliche Regelungen "weltlicher"
Arbeitsverhältnisse geltenden Grundsätze folgt nach Auffassung der Kammer, dass eine
Wohnsitzklausel für Gemeindereferenten unangemessen benachteiligend i.S.d. § 307
Abs. 1 S. 1 BGB – weil nicht erforderlich, geeignet und angemessen i.S.d.
Rechtsprechung des BAG – ist.
93
Aus dem beispielhaften – richtigerweise gilt bei zur Mehrfachverwendung bestimmten
Vertragsbestimmungen ein abstrakt-genereller Prüfungsmaßstab – Tätigkeitsbild der
Klägerin (Seelsorgeunterricht in den Grundschulen des PNO,
Erstkommunionsvorbereitungen, Büroarbeiten, Besprechungen und Konferenzen) ergibt
sich nicht, dass eine Wohnsitznahme in einer der Einsatzgemeinden für die Erfüllung
ihrer arbeitsvertraglichen Pflichten als Gemeindereferentin erforderlich wäre.
94
Der Vortrag des beklagten Erzbistums zum – vermeintlichen – Erfordernis des Lebens
einer Gemeindereferentin in und mit der Gemeinde bleibt nach allgemeinen
Grundsätzen pauschal und unsubstantiiert. Es findet sich keinerlei konkreter, mit
Tatsachen untermauerter Vortrag des beklagten Erzbistums dazu, dass und wie
anderenfalls – zumal momentan bei einer Entfernung von lediglich 8 km – die
Arbeitsleistung der Klägerin beeinträchtigt würde (vgl. zum entscheidenden Erfordernis
der Beeinträchtigung der Arbeitsleistung: BAG v. 23.8.1989 – 5 AZR 569/88, NZA 1999,
191; Preis, Der Arbeitsvertrag, 2. Aufl. [2005], II D 30, Rd.-Nr. 288).
95
Eine Vergleichbarkeit mit den in der Entscheidung des BAG vom 7.6.2006 – 4 AZR
316/05, NZA 2007, 343 benannten Berufsgruppen (Hausmeister, Feuerwehrmänner,
Mitarbeiter der Autobahnmeisterei, Heimleiter, Förster im Außendienst,
Schutzpolizeibeamte, Lokalredakteure) ist für die Kammer nicht ersichtlich.
Insbesondere ist in keiner Weise erkennbar, dass die Klägerin im Rahmen ihrer
Tätigkeit als Gemeindereferentin eine jederzeitige und sofortige Erreichbarkeit für die
Gemeinde im Sinne einer Rufbereitschaft gewährleisten müsste. Insofern kann auch
kein Vergleich mit einem Pastor gezogen werden, der z.B. plötzlich – auch des Nachts –
zu einem Versehgang gerufen werden könnte.
96
(cc)
97
Ein anderes Ergebnis folgt nach Auffassung der Kammer auch nicht aus dem Verweis
des beklagten Erzbistums auf sein verfassungsrechtlich garantiertes
Selbstbestimmungsrecht.
98
Nach der vom beklagten Erzbistum in Bezug genommenen Rechtsprechung des BVerfG
können die Kirchen sich auch der Privatautonomie bedienen, um ein Arbeitsverhältnis
zu begründen und zu regeln. Auf dieses findet dann das staatliche Arbeitsrecht
Anwendung; hierbei bleibt das kirchliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG
i.V.m. Art. 137 Abs. 3 Weimarer Reichsverfassung (WRV) wesentlich. Dies ermöglicht
den Kirchen, in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes den kirchlichen Dienst
nach ihrem Selbstverständnis zu regeln und die spezifischen Obliegenheiten kirchlicher
Arbeitnehmer verbindlich zu machen. Welche kirchlichen Grundverpflichtungen als
Gegenstand des Arbeitsverhältnisses bedeutsam sein können, richtet sich nach den von
der verfassten Kirche anerkannten Maßstäben. Im Streitfall haben die Arbeitsgerichte
die vorgegebenen kirchlichen Maßstäbe für die Bewertung vertraglicher
Loyalitätspflichten zugrunde zu legen, soweit die Verfassung das Recht der Kirchen
anerkennt, hierüber selbst zu befinden. Es bleibt danach grundsätzlich den verfassten
Kirchen überlassen, verbindlich zu bestimmen, was "die Glaubwürdigkeit der Kirche und
ihrer Verkündigung erfordert", was "spezifisch kirchliche Aufgaben" sind, was "Nähe" zu
ihnen bedeutet, welches die "wesentlichen Grundsätze der Glaubenslehre und
Sittenlehre" sind und was als – ggf. schwerer – Verstoß gegen diese anzusehen ist
(BVerfG v. 4.6.1985 – 2 BvR 1703/03, 2 BvR 1718/03, 2 BvR 856/84, NJW 1986, 367).
99
Nach dem BVerfG gehört zum verfassungsrechtlichen Selbstbestimmungsrecht auch die
Befugnis der Kirche, den ihr angehörenden Arbeitnehmern die Beachtung jedenfalls der
tragenden Grundsätze der kirchlichen Glaubens- und Sittenlehre aufzuerlegen und zu
verlangen, dass sie nicht gegen fundamentale Verpflichtungen verstoßen, die sich aus
der Zugehörigkeit zur Kirche ergeben und die jedem Kirchenglied obliegen. Denn für die
Kirchen kann ihre Glaubwürdigkeit davon abhängen, dass ihre Mitglieder, die in ein
Arbeitsverhältnis zu ihnen treten, die kirchliche Ordnung – auch in ihrer Lebensführung
– respektieren. Durch all das wird – so das BVerfG – die Rechtstellung des kirchlichen
Arbeitnehmers keineswegs "klerikalisiert". Es geht vielmehr ausschließlich um den
Inhalt und Umfang seiner vertraglich begründeten Loyalitätsobliegenheiten. Dies führt
nicht dazu, dass aus dem bürgerlich- rechtlichen Arbeitsverhältnis eine Art kirchliches
Statusverhältnis wird, dass die Person total ergreift und auch ihre private Lebensführung
verfasst.
100
Soweit diese kirchlichen Vorgaben den anerkannten Maßstäben der verfassten Kirchen
101
Rechnung tragen – was in Zweifelsfällen durch entsprechende gerichtliche Rückfragen
bei den zuständigen Kirchenbehörden aufzuklären ist – sind die Arbeitsgerichte nach
der Rechtsprechung des BVerfG an sie gebunden, es sei denn, die Gerichte begäben
sich dadurch in Widerspruch zu Grundprinzipien der Rechtsordnung, wie sie im
allgemeinen Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie in dem Begriff der "guten Sitten" (§
138 Abs. 1 BGB) und des ordre public (Art. 30 EGBGB) ihren Niederschlag gefunden
haben. Es bleibt in diesem Bereich somit Aufgabe der staatlichen Gerichtsbarkeit
sicherzustellen, dass die kirchlichen Einrichtungen nicht in Einzelfällen unannehmbare
Anforderungen – insbesondere möglicherweise entgegen den Grundsätzen der eigenen
Kirche und der daraus folgenden Fürsorgepflicht – an die Loyalität ihrer Arbeitnehmer
stellen.
In den von dem beklagten Erzbistum angeführten Entscheidungen hat das BVerfG also
den Gerichten aufgegeben sicherzustellen, dass die kirchlichen Einrichtungen nicht in
Einzelfällen unannehmbare Anforderungen an die Loyalität ihrer Arbeitnehmer stellen.
So bedarf z.B. die außerordentliche Kündigung kirchlicher Mitarbeiter einer konkreten
Interessenabwägung, in die auch die nach Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubens-,
Gewissens- und Bekenntnisfreiheit des Arbeitnehmers einzubeziehen ist. Mit anderen
Worten: Für verfassungswidrig hat das BVerfG nicht bereits die Kontrolle durch eine
Interessenabwägung erachtet, sondern nur die zu geringe und damit fehlerhafte
Einschätzung der Schwere und der Tragweite des festgestellten Loyalitätsverstoßes
(Erfurter Kommentar/Müller-Glöge, 7. Aufl. [2007], § 626 BGB, Rd.-Nr. 186).
102
Obwohl also das BVerfG das Selbstbestimmungsrecht der Kirche stark betont und die
individuelle Glaubens- und Gewissensfreiheit im Kollisionsfall – wie Dietrich meint – zu
wenig berücksichtigt, wird dadurch die arbeitsgerichtliche Kontrolle nicht
gegenstandslos. Selbst wenn z.B. nach kirchlichem Verständnis eine schwere
Loyalitätspflichtverletzung vorliegt, folgt daraus allein noch nicht, dass eine deshalb
ausgesprochene Kündigung nach staatlichem Recht (§§ 1 KSchG, 626 BGB) wirksam
sein müsste. Vielmehr bedarf es auch nach dem BVerfG stets einer konkreten
Interessenabwägung, bei der nur die Abwägungsspielräume eingeschränkt sind.
Absolute Kündigungsgründe gibt es auch im kirchlichen Bereich nicht (Erfurter
Kommentar/Dietrich, 7. Aufl. [2007], Art. 4 GG, Rd.-Nr. 44).
103
Das BVerfG hat für das Kündigungsrecht nicht die Interessenabwägung selbst
beanstandet, sondern nur die Ermittlung und Gewichtung des festgestellten
Loyalitätsverstoßes. Bei der Interessenabwägung müssen durchaus auch die
Grundrechte der Arbeitnehmer beachtet und gegen die kollektive Glaubensfrage
abgewogen werden (Erfurter Kommentar/Dietrich, 7. Aufl. [2007], Art. 4 GG, Rd.-Nr. 44).
104
Dementsprechend hat auch das BVerfG in seinem Nichtannahmebeschluss vom
7.3.2002 – 1 BvR 1962/01, NZA 2002, 609 noch einmal ausdrücklich dargestellt, dass
es nicht zweifelhaft sein könne, "dass im Rahmen der Beurteilung, ob die Kündigung
eines kirchlichen Arbeitnehmers gerechtfertigt ist, neben dem Selbstbestimmungsrecht
der betreffenden Kirche als Arbeitgeber auch hiermit kollidierende
Grundrechtspositionen des Arbeitnehmers einschließlich derjenigen aus Art. 4 Abs. 1, 2
GG zu berücksichtigen sind."
105
Die vom beklagten Erzbistum angeführte Rechtsprechung des BVerfG zum
Kündigungsrecht lässt sich insofern auf den hiesigen Fall übertragen, als es hier
(unangemessene Benachteiligung nach § 307 BGB) wie dort (soziale Rechtfertigung
106
nach § 1 KSchG bzw. wichtiger Grund nach § 626 BGB) um die gerichtliche Ausfüllung
gesetzlicher Generalklauseln durch eine Abwägungsentscheidung unter
Berücksichtigung wechselseitiger Grundrechtspositionen geht.
Anders als in den zum Kündigungsrecht ergangenen Entscheidungen des BVerfG
erscheint es indes zweifelhaft, ob es im vorliegenden Zusammenhang einer
Residenzpflicht überhaupt um die dort angesprochenen Loyalitätspflichten und die
Glaubwürdigkeit der Kirche und ihres Verkündigungsauftrags geht.
107
Dem beklagten Erzbistum mag es wünschenswert erscheinen, dass seine
Gemeindereferentinnen ihren Wohnsitz innerhalb einer der Einsatzgemeinden nehmen.
Dass durch eine fehlende Wohnsitznahme innerhalb der Einsatzgemeinde(n) die
Glaubwürdigkeit der Kirche und ihrer Verkündigung erschüttert oder auch nur tangiert
würde, ist von dem beklagten Erzbistum – zumal in Zeiten von Pastoralverbünden und
verbreiteten Befreiungen von der Residenzpflicht – weder vorgetragen noch sonst
ersichtlich. Jedenfalls dürften durch die fehlende Wohnsitznahme einer
Gemeindereferentin in ihrer Einsatzgemeinde die Grundsätze der katholischen
Glaubens- und Sittenlehre und somit die Glaubwürdigkeit der Kirche deutlich weniger
berührt sein als durch die zum BVerfG gelangten Problematiken (z.B. Abtreibung,
Scheidung und Wiederheirat).
108
Für die katholische Kirche gilt seit dem 1.1.1994 eine "Grundordnung des kirchlichen
Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse". In Art. 4 und 5 dieser
Grundordnung sind die die kirchlichen Arbeitnehmer treffenden Loyalitätsobliegenheiten
und die Verstöße gegen diese geregelt. Die Residenzpflicht ist dort nicht aufgeführt.
109
Jedenfalls bleibt es nach der aufgezeigten Rechtsprechung des BVerfG dabei, dass
eine Interessenabwägung im Einzelfall unter Berücksichtigung einerseits des
verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts der Kirche und andererseits
grundrechtlicher Positionen der betreffenden Arbeitnehmer vorzunehmen ist, welche
nach Auffassung der Kammer zu Gunsten der Arbeitnehmer – hier: der Klägerin –
ausfallen muss.
110
Dabei verkennt die Kammer nicht, dass die Behauptung der Klägerin unzutreffend ist,
dass aufgrund der Residenzpflicht ein Arbeitnehmer bei Versetzung in einen anderen
Pastoralverbund verpflichtet wäre, sein etwaig vorhandenes Eigenheim zu veräußern.
Insofern weist das beklagte Erzbistum zutreffend daraufhin, dass dem betreffenden
Arbeitnehmer z.B. die Möglichkeit der Vermietung verbleibt. Auch lässt sich mit dem
LAG Niedersachsen (vom 21.9.1999 – 12 Sa 2255/98, JURIS) die Frage stellen, ob ein
Arbeitnehmer den Erwerb eines Eigentums überhaupt in die Abwägung einstellen kann.
So argumentiert das LAG Niedersachsen, dass es sich insofern um eine freiwillige und
in voller Kenntnis der Residenzpflicht getroffene Vermögensdisposition handele, welche
demzufolge nicht schutzwürdig sei.
111
Zumindest im vorliegenden Einzelfall – richtigerweise gilt ohnehin ein abstrakt-
genereller Maßstab (s.o.) – kann die Klägerin auch nicht mit dem Einwand
durchdringen, dass ein Umzug in den neuen Pastoralverbund für ihren Ehemann
unzumutbar wäre. Wollte die Klägerin dies aufgrund der bloßen Entfernung behaupten
(mehr Vortrag zur Unzumutbarkeit hat sie nicht geleistet), argumentierte sie
widersprüchlich. Denn die Residenzpflicht bezeichnet sie gerade wegen der geringen
Distanz ihres derzeitigen Wohnsitzes zum PNO als bloße Formalie.
112
Gleichwohl setzen sich bei der gebotenen abstrakt-generellen Betrachtung für die
Berufsgruppe "Gemeindereferent/in" nach Ansicht der Kammer die
Grundrechtspositionen der Arbeitnehmer gegen das ebenfalls verfassungsrechtlich
garantierte Selbstbestimmungsrecht des beklagten Erzbistums durch.
113
Insofern muss zum einen – wie bereits aufgezeigt – berücksichtigt werden, dass durch
die Frage der Residenzpflicht Loyalitätspflichten der betreffenden Mitarbeiter allenfalls
in geringe(re)m Maße und die Grundzüge der katholischen Glaubens- und Sittenlehre
überhaupt nicht berührt sein dürften. Zugespitzt: Ein vorbildliches und tadelloses Leben
als "guter Katholik" kann ein Gemeindereferent auch in einer anderem Gemeinde bzw.
einem anderen Pastoralverbund führen.
114
Zum anderen muss nach Überzeugung der Kammer der durch Art. 11 des
Grundgesetzes garantierten Freizügigkeit der betroffenen Arbeitnehmer ein hohes
Gewicht beigemessen werden.
115
So hat der BGH (v. 26.4.1972 – IV ZR 18/71, NJW 1972, 1414) eine – allerdings
erzwingbare! – Freizügigkeitsbeschränkung geschiedener Eheleute für nichtig, weil
sittenwidrig i.S.d. § 138 Abs. 1 BGB (!) befunden und ausgeführt, die Wohnsitzregelung
stehe in Widerspruch zu der Wertung, die der Verfassungsgeber dem Grundrecht der
Freizügigkeit beigemessen habe. Dieses Grundrecht beinhalte das Grundrecht jedes
Deutschen, frei zu wählen, wo er seinen Wohnsitz nehmen wolle. Ein Verzicht auf diese
Freiheit wäre nur aus sehr gewichtigen Gründen als rechtlich zulässig anzusehen.
116
Im Ergebnis muss nach Ansicht der Kammer für Gemeindereferenten und deren –
sicherlich wünschenswerte – Teilnahme am öffentlichen (hier: gemeindlichen) Leben
Ähnliches gelten wie für einen Schulleiter, für welchen das BVerwG (vom 7.3.1991 – 2 B
28/91, ZBR 1991, 180) entschieden hat, dass grundsätzlich keine Verpflichtung zur
Wohnsitznahme am Dienstort bestehe. Dies gelte selbst unter Würdigung der
besonderen Verpflichtung, die Belange der Schule im öffentlichen Leben des Schulortes
zu vertreten.
117
Das BVerwG hat insofern eine Abgrenzung von seiner ausdrücklich als veraltet
bezeichneten Entscheidung vom 18.10.1966 – VI B 39.64, BVerwGE 25, 138
vorgenommen und besonders hervorgehoben, dass die tatsächlichen Verhältnisse von
früher (z.B. Lehrer an einer Kleinstschule im ländlichen Raum) heute (sprich: 1991)
weitgehend entfallen seien. Es sei ausreichend, wenn die Wahrnehmung der
Dienstgeschäfte nicht beeinträchtigt würde.
118
Zwar mag es zutreffen, dass – wie das beklagte Erzbistum im Kammertermin
eingewandt hat – es den staatlichen Gerichten nicht zusteht, über die Zeitgemäßheit
kirchlicher Vorstellungen und Grundsätze zu befinden.
119
Jedoch muss ein Wandel der vom BVerwG angesprochenen tatsächlichen Verhältnisse
im Laufe der Zeit nach Ansicht der Kammer insofern Berücksichtigung finden, als zum
einen die Kirche sich im Rahmen der vorliegenden Abwägung an ihren eigenen
Maßstäben festhalten lassen muss und zum anderen auch kirchlichen Arbeitnehmern –
im Sinne der Rechtsprechung des BAG zur tarifvertraglichen Wohnsitzklauseln bei
"weltlichen" Arbeitsverhältnissen – nur solche Pflichten auferlegt werden dürfen, die
sich zur Zweckerreichung – hier: Teilnahme am Gemeindeleben – als geeignet,
120
erforderlich und angemessen erweisen.
Insofern muss nach Auffassung der Kammer beachtet werden, dass der
Zusammenschluss mehrerer Gemeinden zu Pastoralverbünden – insbesondere auch im
ländlichen Bereich, samt der damit verbundenen, teils beträchtlichen Entfernungen –
inzwischen an der Tagesordnung ist. Dadurch wird die – räumliche – Einbindung sogar
der Pfarrer als der "Speerspitze" der Verkündigung in ihre Einsatzgemeinde(n) erheblich
aufgeweicht.
121
Wird eine Gemeindereferentin – was ebenfalls häufig vorkommen dürfte – in einem
Pastoralverbund eingesetzt, müsste sie sich für einen Wohnsitz in einer ihrer
Einsatzgemeinden entscheiden. Allenfalls dort könnte sie "in und mit der Gemeinde"
leben. Erzwingbar im Sinne eines Eintritts in Vereine etc. erscheint dies ggü. der
Gemeindereferentin – und allemal ihrer Familie – ohnehin nicht. Nach welchen – ggf. im
hiesigen Kontext "sachfremden" Erwägungen, z.B. Wohnlage, Mietpreise etc. – Kriterien
sie sich für eine Gemeinde entscheidet, bliebe ihr überlassen.
122
Auch kann nicht außer Betracht bleiben, dass – jedenfalls vielerorts – keine Pflicht zum
Schulbesuch innerhalb der jeweiligen Gemeinde mehr besteht. Dies hat zur Folge, dass
zum einen der Gemeindereferent selbst bei einer Wohnsitznahme innerhalb einer der
Einsatzgemeinden nicht mehr gezwungen wäre, seine Kinder innerhalb dieser
Einsatzgemeinde – oder auch nur einer anderen der Einsatzgemeinden – zur Schule zu
schicken. Zum anderen bedeutet dies, dass die – z.B. von der Klägerin betreuten –
Schulen teilweise von Schülern besucht werden, die ihrerseits überhaupt nicht in (einer)
der Einsatzgemeinde(n) wohnhaft sind und deshalb überhaupt nicht oder nur in
abgeschwächtem Maß mit "ihrem" Gemeindereferenten gemeinsam am Gemeindeleben
teilhaben könnten/würden.
123
All dies macht nach Ansicht der Kammer deutlich, dass der Eingriff in ein so
bedeutsames Grundrecht wie die Freizügigkeit aus Art. 11 GG auch im Lichte des
verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmungsrechts der Kirche schon in seiner
Eignung zweifelhaft, jedenfalls aber bei heutzutage nur noch begrenzt möglicher
Zweckerreichung ("Leben in und mit der Gemeinde") nicht (mehr) angemessen ist.
124
Dies mag auch erklären, warum – wie im Kammertermin zwischen den Parteien (in den
Gründen freilich kontrovers) erörtert wurde – bei vielen anderen Gemeindereferenten
entsprechende Befreiungen von der Residenzpflicht ausgesprochen wurden/werden.
125
(dd)
126
Ein anderes Ergebnis – doch wirksame Vereinbarung einer Residenzpflicht – folgt
schließlich auch nicht aus den Ausnahmeregelungen in der Ausführungsverordnung zu
Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO.
127
Zwar hat Preis (Der Arbeitsvertrag, 2. Aufl. [2005], II D 30, Rd-Nr. 295) zutreffend darauf
hingewiesen, dass eine angemessene Vertragsgestaltung es stets erfordere, die
Wohnsitzverpflichtung unter den Vorbehalt der persönlichen Zumutbarkeit zu stellen
oder zumindest Ausnahmeregelungen zugunsten der Mitarbeiter vorzusehen.
128
Jedoch bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, dass in jedem Falle – insbes. bei jeder
Berufsgruppe – eine Wohnsitzklausel der Angemessenheitskontrolle standhält, nur weil
129
ein Zumutbarkeitsvorbehalt oder Ausnahmeregelungen vorgesehen sind.
Im Übrigen genügen die streitgegenständlichen Ausnahmebestimmungen der
Ausführungsverordnung nach Ansicht der Kammer auch deshalb nicht zur Abwendung
des Unwirksamkeitsverdiktes, weil nach ihnen von der Wohnsitzverpflichtung in der
Einsatzgemeinde nur unter vier kumulativ vorliegenden Voraussetzungen abgesehen
werden kann, zu denen u.a. ein positives Votum des zuständigen Pfarrers – welches
dieser schlicht verweigern könnte – zählt. Auch geht es nach Auffassung der Kammer zu
weit, wenn bei Gemeindereferenten/innen mit Familie sichergestellt sein muss, "dass
auch die Familienangehörigen nach Möglichkeit in der Gemeinde präsent sind, ihre
Beziehungen in die Gemeinde hinein ausrichten und die Kinder dort zur Schule gehen."
130
Nach alledem kann offen bleiben, ob die Ausnahmeregelungen nicht ohnehin in den
Arbeitsvertrag der Klägerin oder zumindest in die dort in Bezug genommene KAVO
nebst deren Anlage 20 hätten aufgenommen werden müssen, um Vertragsbestandteil
zu werden. Während der Arbeitsvertrag vom 6.1.2000 in § 11 Nr. 1 eine strikte
Residenzpflicht regelt, ist in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO zwar von einem "Verlangen
des Dienstgebers" die Rede, nicht aber von irgendwelchen Kriterien, an denen der
Dienstgeber sein Verlangen auszurichten hat.
131
f)
132
Bei Verbraucherverträgen – wie dem Arbeitsvertrag – sind gem. § 310 Abs. 3 Nr. 3 BGB
bei der Beurteilung der unangemessenen Benachteiligungen nach § 307 Abs. 1 u. 2
BGB auch die den Vertragsschluss begleitenden Umstände zu berücksichtigen.
133
Die Berücksichtigung dieser Umstände kann sowohl zur Unwirksamkeit einer nach
generell-abstrakter Betrachtung wirksamen Klausel als auch zur Wirksamkeit einer nach
typisierter Inhaltskontrolle unwirksamen Klausel führen (BAG v. 14.8.2007 – 8 AZR
973/06 – NZA 2008, 170).
134
Solche, das Ergebnis der typisierten Inhaltskontrolle verändernden Umstände bei
Vertragsschluss sind im Streitfalle indes weder von den Parteien vorgetragen noch
sonst ersichtlich. Insbesondere kommt es allein auf die Umstände des
Arbeitsvertragsabschlusses vom 6.1.2000 und nicht auf die – zwischen den Parteien
streitigen – Hintergründe der Umsetzung der Klägerin in den PNO im Jahre 2007 an.
135
g)
136
Die unangemessene Benachteiligung i.S.v. § 307 Abs. 1 S. 1 BGB führt gemäß § 306
Abs. 1 BGB zur Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Regelungen zur
Residenzpflicht.
137
Eine geltungserhaltende Reduktion kommt nach der Rechtsprechung des BAG (v.
4.3.2004 – 8 AZR 344/03, JURIS; v.14.8.2007 – 8 AZR 973/06, NZA 2008, 170) nicht in
Betracht.
138
Auch eine ergänzende Vertragsauslegung muss im Streitfalle ausscheiden. Sie kommt
weder unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes (z.B. wegen einer anders
lautenden ständigen Rechtsprechung des BAG) noch nach den sonst allgemein
anerkannten Voraussetzungen in Betracht. Insbesondere fehlt es an hinreichenden
139
Anhaltspunkten für einen eindeutigen (!) hypothetischen Parteiwillen zur Schließung der
durch das Unwirksamkeitsurteil entstandenen Vertragslücke.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BGH (v. 22.2.2002, NJW-RR 2002, 1136)
scheidet eine ergänzende Vertragsauslegung aus, wenn zur Lückenfüllung mehrere
Alternativen in Betracht kommen und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, welche
dieser Alternativen die Parteien redlicherweise gewählt hätten.
140
Insofern ist vorliegend insbesondere nicht ersichtlich, ob die Parteien, wenn sie die
Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Vereinbarungen zur Residenzpflicht erkannt
hätten, redlicherweise eine Regelung dahin getroffen hätten, dass zumindest eine
Zweitwohnsitznahme erforderlich ist oder sie z.B. eine "Umkreisregelung" (falls ja: wie
viele Kilometer?) getroffen oder andere – "großzügigere" – Ausnahmeregelungen
(welche genau?) vereinbart hätten – zumal sich auch bei solchen Regelungen wieder
die Wirksamkeitsfrage stellen würde.
141
h)
142
Halten die streitgegenständlichen Regelungen zur Residenzpflicht in § 11 Nr. 1 des
Arbeitsvertrages sowie in Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO bereits einer
Wirksamkeitskontrolle nicht stand, konnte die nachgelagerte Frage der
Ausübungskontrolle (berechtigtes Verlangen des beklagten Erzbistums zur
Wohnsitznahme im PNO gemäß Nr. 10 der Anlage 20 zur KAVO? Befreiung für die
Klägerin nach der Ausführungsverordnung?) dahinstehen.
143
i)
144
Schließlich liegt auch – worauf das beklagte Erzbistum abzuheben scheint – kein Fall
des treuwidrigen Selbstwiderspruchs i.S.d. § 242 BGB vor.
145
Insbesondere lässt sich entgegen der Auffassung des beklagten Erzbistums aus dem
Schreiben der Klägerin vom 25.4.2007 (Bl. 52 d.A.) keine ausdrückliche und
vorbehaltlose Zusage der Klägerin dahin entnehmen, dass diese die arbeitsvertraglich
vereinbarte Residenzpflicht in keiner Weise in Frage stellen wolle.
146
Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Klägerin die dort genannten Maßnahmen nur
in "Vollzug" der sie nach Auffassung des beklagten Erzbistums – vermeintlich –
treffenden Residenzpflicht in Aussicht gestellt hat. Dass die Klägerin zunächst versucht
hat, der Aufforderung des beklagten Erzbistums Folge zu leisten, nimmt ihr nicht die
Möglichkeit, die Wirksamkeit der arbeitsvertraglichen Regelungen nunmehr zur
gerichtlichen Überprüfung zu stellen. Selbiges gilt nach Auffassung der Kammer für
etwaige Erklärungen der Klägerin zu ihrer "Umzugsbereitschaft" bei Stattgabe ihres
Umsetzungsgesuchs. Auch insofern wäre die Grenze zur Treuwidrigkeit nicht erreicht.
147
II.
148
Nach Vorgesagtem ist die Abmahnung vom 19.11.2007 rechtsunwirksam und aus der
Personalakte der Klägerin zu entfernen.
149
Es fehlt an einer abmahnungsfähigen arbeitsvertraglichen Pflichtverletzung, da die
Klägerin keiner Residenzpflicht unterliegt.
150
Deshalb bedurfte es keiner Auseinandersetzung mehr mit der Frage, ob das
Abmahnungsschreiben vom 19.11.2007 den der Klägerin zur Last gelegten –
vermeintlichen – Pflichtenverstoß zutreffend wiedergibt.
151
Insofern gölte es zum einen zu beachten, dass das beklagte Erzbistum in dem
Abmahnungsschreiben die ihm bereits bekannte Zweitwohnsitznahme der Klägerin als
gleichsames "Entlastungsmoment" mit keinem Wort erwähnt. Zwar fände der
unbefangene Leser der Personalakte dort eine Stellungnahme der Klägerin mit
Anwaltsschreiben vom 3.12.2007. Jedoch wäre für ihn nicht ersichtlich, dass die
immerhin erfolgte Zweitwohnsitznahme dem beklagten Erzbistum bekannt und vor allem
zwischen den Parteien unstreitig ist/war
152
Zum anderen wäre nach Auffassung der Kammer zu beachten, dass das der Klägerin
unterstellte Einverständnis mit einer Wohnsitznahme im PNO aus ihrem Schreiben vom
25.4.2007 nicht – zumindest nicht in der vom beklagten Erzbistum unterstellten
Deutlichkeit – ersichtlich wird.
153
III.
154
Der nur hilfsweise für den Fall des Bestehens einer Residenzpflicht gestellte
Feststellungsantrag zu 3. ist nicht zur Entscheidung angefallen.
155
Nur kurz sei daher angemerkt, dass die Kammer ihn – mit dem beklagten Erzbistum – für
unbegründet erachtet hätte. Der derzeitige Erstwohnsitz der Klägerin liegt weder in
(einer) der Einsatzgemeinde(n) noch im örtlichen Einsatzgebiet.
156
IV.
157
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 2 ArbGG, 91 Abs. 1 ZPO. Als
unterlegene Partei hat das beklagte Erzbistum die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
158
V.
159
Der Streitwert war gem. § 61 Abs. 1 ArbGG im Urteil festzusetzen. Er wurde hinsichtlich
des Antrags auf Entfernung der Abmahnung zu 1. sowie des Feststellungsantrages zu 2.
jeweils mit einem Bruttomonatseinkommen der Klägerin bewertet. Der
Feststellungsantrag zu 3. ist – wie ausgeführt – nicht zur Entscheidung angefallen und
musste daher bei der Streitwertbemessung außer Betracht bleiben (vgl. § 45 Abs. 1 S. 2
GKG).
160
Dr. Niemann
161