Urteil des ArbG Lörrach vom 06.02.2009

ArbG Lörrach: urlaub, europäisches recht, europarechtskonforme auslegung, krankheit, arbeitsunfähigkeit, eugh, arbeitsgericht, entstehung, gewalt, prozess

ArbG Lörrach Urteil vom 6.2.2009, 3 Ca 161/08
Kein Verfall des im Jahr der Entstehung wegen Arbeitsunfähigkeit nicht genommenen und auf das Nachjahr übertragenen Erholungsurlaubs
Leitsätze
Wegen Krankheit im Jahr der Entstehung nicht genommener und auf das Nachjahr übertragener Erholungsurlaub verfällt nicht mit dem 31. März. § 7
Abs. 3 Satz 3 BUrlG erfasst - bei europarechtskonformer Auslegung - diese Fälle nicht.
Tenor
1.
2.
3.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger noch Anspruch auf Gewährung von Erholungs- und Zusatzurlaub gem. § 125 SGB IX, der im
Kalenderjahr 2007 entstanden war, hat.
2
Der 47 Jahre alte, schwer behinderte (GdB 50) Kläger ist seit 1979 im Betrieb der Beklagten als gewerblicher Arbeitnehmer tätig. Zuletzt belief
sich das Monatsbruttogehalt des Klägers auf etwa 2.700.- EUR.
3
Von Mitte Juli 2007 bis Mitte Mai 2008 war der Kläger durchgehend arbeitsunfähig krank; seitdem arbeitet er wieder. In der „persönlichen
Monatsübersicht“ für den Kläger vom 12.02.08 wies das „Urlaubskonto“ noch „alten Urlaub 2007“ von 25 Tagen aus. Zwischen den Parteien ist
unstreitig, dass es sich hierbei um 20 Tage Erholungsurlaub und 5 Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen handelte. In der
„Monatsübersicht“ vom 4.4.2008 ist dieser „Alturlaub“ nicht mehr ausgewiesen.
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Der Kläger ist der Ansicht, ihm stehe der restliche Urlaub aus 2007 nach wie vor zu. Dieser Anspruch sei aus Rechtsgründen nicht verfallen.
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Der Kläger beantragt (Eingang der Klage beim Arbeitsgericht per Fax am 21.05.2008):
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Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger für 2007 25 Urlaubstage zu gewähren.
7
Die Beklagte beantragt
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Klagabweisung.
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Die Beklagte ist der Ansicht, der hier interessierende Urlaubsanspruch sei mit Ablauf des Übertragungszeitraums des § 7 Abs. 3 BUrlG, also am
31.03.2008 erloschen. Diese Regelung verstoße nicht gegen europäisches Recht. Wegen des klaren Wortlauts der nationalen gesetzlichen
Bestimmung führe auch eine etwaige „europarechtskonforme“ Auslegung dieser Bestimmung nicht zu dem vom Kläger gewünschten Ergebnis.
10 Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens und der von den Parteien geäußerten Rechtsansichten wird auf die gewechselten Schriftsätze
mitsamt Anlagen Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
11 Die zulässige Klage ist vollumfänglich begründet. Der „Alturlaub aus 2007“, den der Kläger wegen seiner krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit
nicht bis 31.3.2008 in natur nehmen konnte, ist nicht verfallen.
I.
12 Die Klage ist zulässig, insbesondere hinreichend bestimmt im Sinne von § 253 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Es handelt sich um eine Klage auf
Urlaubsgewährung ohne bestimmte Zeitangabe. Solche Klagen sind nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts statthaft, da der
Arbeitgeber die Befugnis hat, letztlich die zeitliche Lage des Urlaubs zu konkretisieren (Dörner in ErfKomm, 9. Aufl. 2009, Nr. 250 BUrlG § 7 Rn
30 mit Hinweis auf BAG 5.9.2002 AP Nr. 2 zu SonderurlG SL § 1 und BAG 21.02.1995 AP Nr. 7 zu § 47 SchwbG 1986). Dem schließt sich das
erkennende Gericht an.
II.
13 Der Kläger hat Anspruch auf (Gewährung von) insgesamt noch 25 Tage Urlaub, der aus dem Kalenderjahr 2007 stammt.
14
1.
zwischen den Parteien unstreitig. Es handelt sich um 20 Tage restlichen Erholungsurlaub und 5 Tage Zusatzurlaub für schwerbehinderte
Menschen. Die Übertragungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG lagen ebenfalls - unstreitig - vor. Der Kläger war von Juli 2007 bis Mai
2008 ununterbrochen arbeitsunfähig krank. Von daher konnte Urlaub nicht in natur gewährt werden.
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2.
fort.
16
a)
Bestimmung des § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG, wonach der Urlaub auch im Falle der Übertragung in den ersten drei Monaten des folgenden
Kalenderjahres gewährt und genommen werden muss, nicht den Fall, dass der Urlaub wegen Krankheit im laufenden Kalenderjahr nicht
genommen werden konnte (BAG 13.11.1969 - 5 AZR 82/69 - AP Nr. 2 zu § 7 BUrlG Übertragung). Die gesetzliche Übertragungsregelung, so das
Bundesarbeitsgericht damals, gehe von dem Normalfall aus, dass die Urlaubsverwirklichung in der Zeit bis zum 31.März des Nachjahres an sich
rechtlich möglich sei, regele aber nicht den Fall, dass die Verwirklichung des Urlaubs im Kalenderjahr oder im Übertragungszeitraum wegen der
Krankheit und damit aus nicht zu behebenden Gründen unmöglich gewesen sei. Dabei vollziehe sich nicht im Sinne des § 7 Abs. 3 BUrlG eine
von bestimmten Erklärungen oder vom Verhalten der Beteiligten abhängige Übertragung des Urlaubs auf das erste Vierteljahr des Folgejahres,
sondern kraft der gegebenen Umstände unvermeidbar und damit automatisch der Übergang des Urlaubs auf einen späteren Zeitraum, welcher
aber nicht auf die ersten drei Monate im Folgejahr beschränkt sein könne (nahezu wörtlich aus BAG aaO. unter 2. der Gründe).
17 Nach der „neuen“ Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Urlaubsrecht, beginnend mit dem Übergang der Zuständigkeit vom 5. auf den
6. Senat des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 1978, soll der Urlaubsanspruch nach §§ 1 und 7 Abs. 3 BUrlG dagegen in allen Fällen bis
längstens 31.3. des jeweiligen Folgejahres befristet sein (grundlegend BAG 13.05.1982 - 6 AZR 360/80 - AP Nr. 4 zu § 7 BUrlG Übertragung; s.
auch BAG 21.06.2005 - 9 AZR 200/04 - AP Nr. 11 zu § 55 InsO). Dies widerspreche auch nicht den Regelungen des ILO-Übereinkommens Nr.
132; diese verlangten nicht eine Auslegung des Bundesurlaubsgesetzes dahin, dass der Urlaubsanspruch nicht am Ende des Urlaubsjahres
oder eines Übertragungszeitraums verfalle, insbesondere auch nicht in den Fällen, in denen Arbeitnehmer wegen Krankheit nicht in der Lage
sind, den Urlaub zu nehmen (BAG 7.12.1993 - 9 AZR 683/92 - AP Nr. 15 zu § 7 BUrlG).
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b)
Richtlinie 2003/88 sei dahin auszulegen, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegenstehe, nach denen der
Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums
auch dann erlischt, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben war und er
deshalb seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte, weil er im „Krankheitsurlaub“ nicht berechtigt ist, bezahlten
Jahresurlaub zu nehmen.
19
c)
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. § 7 Abs. 3 S. 2 und 3 BUrlG lassen eine richtlinienkonforme Auslegung im Sinne der
Rechtsprechung des EuGH zu. Unter Berücksichtigung der in der Entscheidung des EuGH vom 5.10.2004 (C-397/01 Pfeiffer - auf Vorlage der
erkennenden Kammer erfolgt) präzisierten Grundsätze zum Gebot einer richtlinienkonformen Auslegung kann das erkennende Gericht der
„neuen“ Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht (mehr) folgen. Kann der Urlaub im laufenden Kalenderjahr oder innerhalb der ersten
drei Monate des Folgejahres nicht gewährt und genommen werden, weil der Arbeitnehmer arbeitsunfähig krank ist, so erlischt der Anspruch
nicht.
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aa)
sich vielmehr an die Mitgliedsstaaten und muss von diesen umgesetzt werden. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können sich in einem
arbeitsgerichtlichen Prozess daher nicht unmittelbar auf eine Richtlinie berufen (BAG 23.03.2006 - 2 AZR 343/05 - AP Nr. 21 zu § 17 KSchG
1969, juris Rn 23 mit weiteren Nachweisen). Die Umsetzungsverpflichtung trifft aber nicht nur den Gesetzgeber, sondern alle staatliche Gewalt
und von daher auch die Rechtsprechung. Das europäische Recht verlangt vom innerstaatlichen Gericht, das nationale Gesetz soweit wie
möglich richtlinienkonform auszulegen. Das setzt voraus, dass die nationale Regelung einen Auslegungsspielraum hat, der erkennbare Wille
des nationalen Gesetzgebers darf dabei nicht verändert werden, der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung darf nicht zu einer
„Auslegung contra legem“ führen (Alles aus BAG aaO., dort mit weiteren Nachweisen; zur richtlinienkonformen Auslegung s. auch Pfeiffer NJW
2009, Heft 7, S. 412).
21
bb)
dem Erlass der RL 2003/88 nicht geändert. Ein bewusstes Abrücken von den Vorgaben der Richtlinie kann hierin aber nicht gesehen werden,
der nationale Gesetzgeber hat vielmehr keinen Willen insoweit kundgetan.
22
cc)
eines Erlöschens des Urlaubsanspruchs ist dort nicht ausdrücklich genannt (so auch Kloppenburg in jurisPR-ArbR 5/2009 Anm. 1; LAG
Düsseldorf 02.02.09 - 12 Sa 486/06- unter B.II.2.a. der Gründe). Das Bundesarbeitsgericht erkennt dies ebenso, hält aber eine ausdrückliche
Regelung für entbehrlich, da der Urlaubsanspruch von vornherein auf das Urlaubsjahr befristet sei (BAG 13.05.1982 - 6 AZR 360/80 - AP Nr. 4 zu
§ 7 BUrlG Übertragung, juris Rn 16). Gesetzessystematik sowie Sinn und Zweck der Vorschriften des Bundesurlaubsgesetzes stehen einer
richtlinienkonformen Auslegung nicht entgegen. Die Annahme, § 7 Abs. 3 BUrlG regele alle denkbaren Fälle nicht genommenen Urlaubs
abschließend, ist nicht zwingend, nicht einmal geboten. So geht das Bundesarbeitsgericht in anderen Fällen, nämlich der Nichtgewährung
beantragten Urlaubs davon aus, dass verfallener Urlaub im Wege der Naturalrestitution als Schadensersatzanspruch geltend gemacht werden
kann (Nachweise bei Leinemann/Linck Urlaubsrecht, 2. Aufl. 2001, BUrlG § 7 Rn 163 ff.).
23 Damit ist der Weg zur richtlinienkonformen Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG eröffnet. Wie die Norm richtlinienkonform auszulegen ist, ergibt sich
aus der genannten Entscheidung des EuGH vom 20.01.09. Der Urlaubsanspruch erlischt nicht mit Ablauf des 31.3. des jeweiligen Folgejahres,
wenn der Arbeitnehmer den Urlaub im laufenden Kalenderjahr nicht nehmen konnte, weil er während des gesamten Jahres oder eines Teils
davon und während des ersten Quartals im Folgejahr krankheitsbedingt arbeitsunfähig war.
24
3.
Wegen der von Juli 2007 bis Mai 2008 durchgehend bestehenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit konnte der Kläger den Urlaub nicht
nehmen. Nicht nur der gesetzliche Mindesturlaub (aus 2007) ist nicht am 31.3.2008 erloschen. Gleiches gilt auch hinsichtlich eines etwaigen
vertraglich geregelten Mehrurlaubs aus 2007. Denn nach dem Vorbringen der Parteien ist nicht ersichtlich, dass diesbezüglich etwa eine andere
Abrede getroffen worden sei. Schließlich gilt dasselbe Ergebnis auch im Hinblick auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen nach §
125 Abs. 1 SGB IX, denn die urlaubsrechtliche Vorschrift des § 7 BUrlG gilt auch für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen (BAG
25.06.1996 - 9 AZR 182/95- AP Nr. 11 zu § 47 SchwbG 1986, juris Rn 17; LAG Düsseldorf 2.2.2009 - 12 Sa 486/06- über www.lag-
duesseldorf.nrw.de/ abfragbar).
III.
25 Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 61 Abs. 1 ArbGG, 3 ff. ZPO. Das Gericht hat die Vergütung
des Klägers für die begehrten 25 Tage angesetzt (2.700.- EUR brutto/Monat x 3 Monate: 65 Arbeitstage x 25 Urlaubstage).