Urteil des ArbG Karlsruhe vom 26.11.2002

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ArbG Karlsruhe Urteil vom 26.11.2002, 6 Ca 442/02
Tarifverträge im Bewachungsgewerbe in Baden-Württemberg: Auslegung; Höhe der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall: Keine Einbeziehung
von Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschlägen
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
3. Der Streitwert wird auf 143,80 EUR festgesetzt.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die zutreffende Berechnung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für zehn Tage im Juni 2002.
2
Der Kläger trat auf der Grundlage eines schriftlichen Arbeitsvertrags vom 20.02.1991 (Anlage zum Schriftsatz der Beklagten vom 22.10.2002, Abl.
38 bis 41 sowie zum Schriftsatz des Klägers vom 06.11.2002, Abl. 81 bis 84) mit Wirkung ab dem 19.02.1991 in ein Arbeitsverhältnis mit der
Firma G ein. Er ist als Revierfahrer tätig und ist Betriebsratsmitglied. Mittlerweile ist das Arbeitsverhältnis im Wege der Rechtsnachfolge auf die
Beklagte übergegangen. Der Arbeitsvertrag enthält, soweit hier von Interesse, die folgenden Regelungen:
3
" 1. Individualvereinbarungen
bezüglich:
gem. Abschnittgilt als vereinbart:
(...)
Gültiger Tarifvertrag2.3
BDWS/ÖTV
(...)
4
2. Voraussetzungen/Grundlagen
(...)
5
2.3
ÖTV und dem Bundesverband Deutscher Wach- und Sicherheitsunternehmen für das jeweilige Bundesland geschlossenen Lohn- und
Manteltarifverträge maßgebend. Die jeweils gültigen Lohn- und Manteltarifverträge werden hiermit ohne Einschränkung anerkannt.
(...)
6
6. Arbeitsentgelt/Lohnabrechnung
7
6.1 Der Lohn regelt sich nach den jeweils gültigen Tarifbestimmungen (Abschnitt 2.3). Der derzeitige Tariflohn ist im Abschnitt 1 genannt. Zu
den Tariflöhnen können außertarifliche Zulagen gewährt werden. In Anrechnung kommt jeweils die für das bestimmte Objekt / Tätigkeit
festgelegte Zulage. Die derzeitigen Zulagen sind in Abschnitt 1 genannt.
8
6.2 Bei allen übertariflichen Verdienstbestandteilen handelt es sich um freiwillige, jederzeit nach freiem Ermessen widerrufliche Leistungen,
auf die auch bei wiederholter Gewährung kein Rechtsanspruch für die Zukunft hergeleitet werden kann. Diese Leistungen können ganz oder
teilweise auch jederzeit auf tarifliche Veränderungen und tarifliche Umgruppierungen angerechnet werden.
(...)
9
6.4 Die Lohnzahlung im Krankheitsfall (Lohnfortzahlung) und im Urlaubsfall richtet sich nach den jeweils geltenden gesetzlichen
Bestimmungen bzw. Tarifbestimmungen (Abschnitt 2.3).
(...)"
10 Im bisherigen Zeitraum der Beschäftigung des Klägers galten folgende Manteltarifverträge:
11 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Bewachungsgewerbe in Baden-Württemberg vom 31.05.19921,
gültig ab 01.06.1991, nebst Ergänzung vom 25.06.1992,
gültig ab 01.06.1992
(Anlage B 3, Abl. 185 bis 198, künftig: MTV 1991),
12 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Bewachungsgewerbe in Baden-Württemberg vom 15.07.1998,
gültig ab 01.09.1998
(Anlage B 1, Abl. 16 bis 26, künftig: MTV 1998),
13 Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer im Bewachungsgewerbe in Baden-Württemberg vom 24.01.2002,
gültig ab 01.01.2002
(Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 06.11.2002, Abl. 87 bis 93, künftig: MTV 2002).
14 Die letzten, und hier interessierenden Lohntarifverträge sind der
15 Lohntarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Baden-Württemberg vom 15.07.1998,
gültig ab 01.07.1998
(Anlage B 4, Abl. 199 bis 206, künftig: LTV 1998) und der
16 Lohntarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Baden-Württemberg vom 11.03.2002,
gültig ab 01.06.2002
(Anlage zum Schriftsatz des Klägers vom 06.11.2002, Abl. 101, künftig: LTV 2002).
17 Der MTV 1991 enthielt keine Regelung über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall.
18 Der MTV 1998 und der MTV 2002 enthalten über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall jeweils in § 15 eine gleichlautende Regelung. Darin
heißt es, soweit hier von Interesse:
19
"§ 15 Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall
20
1. Der Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgeltes im Krankheitsfall regelt sich nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz mit folgenden
Abweichungen zur Höhe des fortzuzahlenden Entgelts.
21
1.1. Die Höhe der Entgeltfortzahlung beträgt 100 % des Stundengrundlohnes nach § 2 des jeweils gültigen Lohntarifvertrages einschließlich
der Lohnzulagen nach den §§ 2 und 4 des jeweils gültigen Lohntarifvertrages einschließlich der außertariflichen Zulagen, der
Mehrarbeitsstunden und der Mehrarbeitszuschläge.
22
1.2. Das fortzuzahlende Arbeitsentgelt der Arbeitnehmer berechnet sich nach der für den Arbeitnehmer durchschnittlichen Arbeitszeit der
letzten 6 Monate auf der Basis von § 15, 1.1. geteilt durch 182.
23
Das so ermittelte tägliche Arbeitsentgelt wird mit den Tagen der Arbeitsunfähigkeit multipliziert.
24
1.3. Der Arbeitgeber kann für seinen Betrieb die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall auch nach dem Lohnausfallprinzip berechnen. Die
Berechnungsgrundlage ist § 15 1.1.
(...)"
25 § 2 LTV 1998 regelt abgesehen von einer Einmalzahlung für Juli/August 1998 die Stundengrundlöhne nach Einsatzart und die Lohnzulagen für
verschiedene Spezialtätigkeiten (z. B. Kontrolleur, Springer, Hundeführer usw.). § 3 LTV 1998 regelt unter der Überschrift "Lohnzuschläge" die
Lohnzuschläge für Nachtarbeit, für Sonntagsarbeit und für Arbeit an Feiertagen. § 4 regelt Sonderzulagen für Separatwachleute bestimmter
Lohngruppen, die in bestimmten Verwendungen eingesetzt werden (z. B. Betriebssanitäter, Strahlenschutzfachkraft und ähnliches).
Entsprechende Regelungen enthalten jeweils die §§ 2, 3 und 4 des LTV 2002.
26 Sowohl der LTV 1998, als auch der LTV 2002 enthalten die Regelung
27
"§ 5 Besitzstandswahrung:
28
Bestehende günstigere Einkommensverhältnisse dürfen nicht zu Ungunsten des Arbeitnehmers verändert werden."
29 Sowohl der MTV 1998, als auch der MTV 2002 enthalten die Regelung
30
"§ 19 Besitzstandswahrung:
31
Soweit in den einzelnen Betrieben durch betriebliche Vereinbarung günstigere Arbeitsbedingungen bestehen, behalten diese weiterhin
Gültigkeit".
32 Der Kläger hat ausschließlich einen Nachtarbeitsplatz. Zwischen den Parteien ist seit mehreren Jahren streitig, ob in die Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall Nachtzuschläge, Sonntagszuschläge und Feiertagszuschläge mit einzuberechnen sind. Die Beklagte berechnet seit dem
Inkrafttreten des MTV 1998 die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall unter Bezugnahme auf § 15.1., 1.1. und 1.2. MTV auf der Basis der
durchschnittlichen Arbeitszeit der letzten sechs Monate und des dabei verdienten Lohnes, aber ohne Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschläge,
geteilt durch 182 und multipliziert mit den Tagen der Arbeitsunfähigkeit. Dies teilte die Beklagte dem Kläger bereits mit Schreiben vom
14.11.2000 mit (Schreiben vom 14.11.2000 nicht vorgelegt, aber zitiert im vorgelegten Schreiben der Beklagten vom 01.08.2002, dort Seite 1,
Anlage zur Klageschrift, Abl. 7 bis 9).
33 Im Monat Juni 2002 war der Kläger 10 Tage lang arbeitsunfähig. Würde man die Entgeltfortzahlung auf der Basis eines "Volllohnschnitts", also
unter Einschluß der Nacht-, Sonntags- und Feiertagszuschläge errechnen, ergäbe sich rechnerisch unstreitig ein um 143,80 EUR brutto höherer
Entgeltfortzahlungsanspruch für diese 10 Tage. Mit Schreiben vom 23.07.2002 teilte der Kläger der Beklagten mit, seine Lohnfortzahlung für Juni
2002 sei falsch berechnet worden, er bitte um Prüfung (Anlage zur Klageschrift, Abl. 6). Mit Schreiben seines jetzigen Prozeßbevollmächtigten
vom 01.08.2002 erläuterte der Kläger seine Forderung und forderte die Beklagte auf, den Betrag von 143,80 EUR brutto abzurechnen und an
den Kläger auszubezahlen (Anlage zur Klageschrift, Abl. 7 bis 9). Wann dieses Schreiben der Beklagten zuging, haben die Parteien nicht
mitgeteilt. Jedenfalls nahm die Beklagte mit Schreiben vom 05.08.2002 zu diesem Schreiben Stellung und lehnte im Hinblick auf ihre bisherige
Handhabung und die tarifvertraglichen Bestimmungen die Zahlung ab (Anlage zur Klageschrift, Abl. 10 bis 11).
34 § 18 MTV 2002 lautet:
35
"§ 18 Ausschlußfrist
36
Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und solche, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, wenn sie
nicht innerhalb von 3 Monaten nach Zusendung der Entgeltabrechnung, bei der sie hätten angerechnet werden müssen, gegenüber der
anderen Vertragspartei schriftlich erhoben werden. Die Zusendung der Entgeltabrechnung kann an die letzte, vom Arbeitnehmer
angegebene Anschrift erfolgen. Nach Ablauf dieser Frist ist ein Geltendmachen von Ansprüchen ausgeschlossen.
37
Lehnt die Gegenpartei den Anspruch ab oder erklärt sie sich nicht innerhalb von 2 Wochen nach der Geltendmachung des Anspruchs, so
verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von 3 Monaten nach der Ablehnung oder dem Fristverlauf gerichtlich geltend gemacht wird (§ 4 Ziff. 4
Tarifvertragsgesetz)."
38 Mit der vorliegenden Klage vom 03.09.2002, die am 04.09.2002 beim Arbeitsgericht Karlsruhe einging und der Beklagten am 07.09.2002
zugestellt wurde, verfolgt der Kläger seinen Anspruch gerichtlich.
39 Der Kläger vertritt die Auffassung, die Formulierung des § 15.1.1 MTV 1998 und § 15.1.1 MTV 2002 sei so auszulegen, daß nicht nur auf die §§ 2
und 4 des jeweiligen Lohn- und Gehaltstarifvertrags verwiesen werde, sondern auch auf § 3. Der abweichende Wortlaut sei ein
Redaktionsversehen. Richtigerweise müsse es heißen: "§§ 2 bis 4 des jeweils gültigen Lohn- und Gehaltstarifvertrags." Diese Auslegung sei
gerechtfertigt, weil nach dem Lohnausfallprinzip den Arbeitnehmern kein Nachteil durch die Arbeitsunfähigkeit entstehen dürfe.
40 Darüber hinaus ergebe sich der Anspruch des Klägers aus dem Gesichtspunkt der Besitzstandswahrung, §§ 19 MTV 1998/2002 und § 5 LTV
1998/2002. Aus den (in Kopie vorgelegten) Lohn- und Gehaltsabrechnungen des Klägers für den Zeitraum März 1991 bis Dezember 1995
ergebe sich, daß die damalige Arbeitgeberin des Klägers bei der Berechnung der Lohnfortzahlung den Volllohnschnitt unter Berücksichtigung
der steuerfreien Zuschläge ermittelt habe. In der Zeit ab 1996 habe der Kläger in folgenden Monaten Lohnfortzahlung nach dem Volllohnschnitt
erhalten: August 1996 und Juni 1998 (zu den diesbezüglichen Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 06.11.2002, dort Seiten 1 bis 3 sowie
auf die Anlagen Bezug genommen).
41 Der Kläger beantragt:
42
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 143,80 EUR brutto nebst 5 % Zins über dem Basiszinssatz seit 01.07.2002 zu bezahlen.
43 Die Beklagte beantragt,
44
die Klage abzuweisen.
45 Die Beklagte vertritt die Auffassung, ihre Berechnung der Lohnfortzahlung entspreche den tarifvertraglichen Regelungen. § 15.1.1. MTV 2002
enthalte kein Redaktionsversehen. Die Tarifvertragsparteien hätten die im MTV 1998 schon enthaltene Regelung auch bei der Neufassung des
MTV 2002 nicht korrigiert, also bewußt beibehalten.
46 Auch der Gesichtspunkt der Besitzstandswahrung begründe den Anspruch des Klägers nicht. Soweit der Kläger sich auf Zeiträume beziehe, in
denen noch der MTV 1991 gegolten habe, begründe dies seinen Anspruch nicht, da der MTV 1991 keine Regelung zur Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall getroffen habe, also das damals geltende Gesetz angewandt worden sei. Weder § 5 LTV 2002, noch § 19 MTV 2002 begründeten
einen Anspruch auf Berechnung der Entgeltfortzahlung wie vom Kläger beansprucht. § 5 LTV 2002 gewähre dem Arbeitnehmer nur 6 Ca 442/02
-9 eine Besitzstandswahrung im Hinblick auf die Lohnhöhe bzw. die Höhe der Lohnzuschläge. § 5 LTV 2002 betreffe nicht die Regelung des
Manteltarifvertrags, aus der sich ergebe, welche Lohnbestandteile in die Lohnfortzahlung miteinzubeziehen seien. § 19 MTV regele nur eine
Besitzstandswahrung im Hinblick auf günstigere Arbeitsbedingungen. Dazu gehöre die Entgeltfortzahlung nicht. Eine andere Auslegung würde
dazu führen, daß jeder Arbeitnehmer Entgeltfortzahlung nach den alten Regeln beanspruchen könne. Das dadurch verursachte Leerlaufen des §
15 MTV könne weder aus dem Wortlaut, noch aus dem Sinn und Zweck der Besitzstandswahrungsvorschriften der Tarifverträge hergeleitet
werden.
47 Zu den weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst der Anlagen sowie auf die Protokolle
über den Gütetermin vom 17.10.2002 und über den Kammertermin vom 26.11.2002 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
48 Die zulässige Klage ist unbegründet.
A.
49 Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf höhere Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nicht zu. Der Anspruch folgt weder aus § 15
MTV 2002, noch aus dem Gesichtspunkt der Besitzstandswahrung.
I.
50 1. Die Höhe der Entgeltfortzahlung richtet sich im Arbeitsverhältnis der Parteien für die hier streitgegenständlichen Tage aus dem Monat Juni
2002 nach den Bestimmungen des MTV 2002 und des LTV 2002. Unabhängig von den arbeitsvertraglichen Verweisungen auf die jeweils
gültigen Lohn- und Manteltarifverträge (Nr. 2.3, 6.1 und 6.4 des Arbeitsvertrags) finden diese Tarifverträge kraft Allgemeinverbindlichkeit gem. § 5
Abs. 4 TVG auf das Arbeitsverhältnis Anwendung. Das ist zwischen den Parteien auch nicht streitig.
51 2. Die die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall regelnde Tarifnorm des § 15 MTV 2002 rechtfertigt den Anspruch des Klägers nicht. Denn gem. §
15.1.1. MTV 2002 beträgt die Höhe der Entgeltfortzahlung 100 % des Stundengrundlohnes nach § 2 des jeweils gültigen Lohntarifvertrags
einschließlich der Lohnzulagen nach den §§ 2 und 4 des jeweils gültigen Lohntarifvertrags einschließlich der außertariflichen Zulagen, der
Mehrarbeitsstunden und der Mehrarbeitszuschläge. Die Auslegung dieser Tarifnorm in Verbindung mit der Auslegung der Bestimmungen des
LTV 2002 ergibt, daß in die Entgeltfortzahlung zwar die Lohnzulagen nach den §§ 2 und 4 LTV 2002, nicht jedoch die "Lohnzuschläge"
einzurechnen sind, die in § 3 LTV 2002 geregelt sind.
52 a) Die Tarifauslegung hat zunächst von dem Tarifwortlaut auszugehen. Dabei ist jedoch über den reinen Tarifwortlaut hinaus der wirkliche Wille
der Tarifvertragsparteien und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnormen mitzuberücksichtigen, sofern und soweit sie in
den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Hierzu ist auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, der häufig
schon deswegen mitberücksichtigt werden muß, weil nur daraus und nicht aus der einzelnen Tarifnorm auf den wirklichen Willen der
Tarifvertragsparteien geschlossen und so nur bei Mitberücksichtigung des tariflichen Gesamtzusammenhangs der Sinn und Zweck der
Tarifnormen zutreffend ermittelt werden kann. Verbleiben im Einzelfalle noch Zweifel, so kann zur Ermittlung des wirklichen Willens der
Tarifvertragsparteien auf weitere Kriterien wie die Tarifgeschichte, die praktische Tarifübung und die Entstehungsgeschichte des jeweiligen
Tarifvertrags zurückgegriffen werden (BAG 12.09.1984 - 4 AZR 636/82 - AP TVG § 1 Auslegung Nr. 135).
53 b) Der Wortlaut des § 15.1.1 MTV 2002 ist eindeutig. Danach sind die Lohnzulagen nach den §§ 2 "und" 4 des Lohntarifvertrags einzubeziehen.
Hätten die Tarifvertragsparteien auch die in § 3 des Lohntarifvertrags geregelten Lohnzuschläge einbeziehen wollen, hätten sie statt des Worts
"und" nach dem allgemeinen Sprachgebrauch das Wort "bis" gewählt. Es gibt keine Hinweise darauf, daß die Wortwahl auf einem
Redaktionsversehen beruht. Vielmehr weist die Beklagte zu Recht darauf hin, daß die Tarifvertragsparteien bei der Vereinbarung des MTV 2002
die bereits im MTV 1998 enthaltene Formulierung unverändert beibehalten haben. Daß das vermeintliche Redaktionsversehen jahrelang nicht
bemerkt worden wäre und dann erneut in den Tarifvertragstext aufgenommen worden wäre, ist so unwahrscheinlich, daß es ausgeschlossen
werden kann. Ein zusätzliches Indiz dafür, daß die Bezugnahme auf § 3 des Lohntarifvertrags nicht einfach vergessen wurde, sondern bewußt
unterlassen wurde, läßt sich daraus herleiten, daß § 15.1.1. MTV 2002 auf die "Lohnzulagen" nach den §§ 2 und 4 des jeweils gültigen
Lohntarifvertrages Bezug nimmt. Als "Lohnzulagen" bezeichnen auch §§ 2 und 4 LTV 2002 die in diesen Normen jeweils geregelten Zulagen.
Demgegenüber lautet bei § 3 LTV 2002 bereits die Überschrift "Lohnzuschläge", und auch der Text des § 3 spricht nur von Zuschlägen, nicht von
Zulagen.
54 3. Diese tarifliche Regelung verstößt nicht gegen höherrangiges Recht. Zwar gilt - mit der hier nicht interessierenden Einschränkung des § 4 Abs.
1 a EFZG - gem. § 4 Abs. 1 EFZG für die Höhe der Entgeltfortzahlung grundsätzlich das Lohnausfallprinzip. Zu dem danach fortzuzahlenden
Entgelt können auch Nachtschichtzulagen oder Nachtarbeitszuschläge gehören (Kunz/Wedde EFZR § 4 EFZG Rn. 18 Schmitt
Entgeltfortzahlungsgesetz 4. Aufl. § 4 EFZG Rn. 73) sowie Zuschläge für Sonn- und Feiertagsarbeit (BAG 16.07.1997 -5 AZR 780/96 -n. v., zitiert
nach juris, zu 2 b der Gründe). Doch kann gem. § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG durch Tarifvertrag eine von den Absätzen 1, 1 a und 3 des § 4 EFZG
abweichende Bemessungsgrundlage des fortzuzahlenden Arbeitsentgelts festgelegt werden (vgl. dazu - noch nach der früheren Rechtslage und
deshalb abweichend: BAG 16.07.1997 - 5 AZR 780/96 - a. a. O.). Das ist durch den MTV 1998 und den MTV 2002 geschehen.
II.
55 Dem so gefundenen Ergebnis steht der Gesichtspunkt der Besitzstandswahrung nicht entgegen.
56 1. Die Ablösung des bisherigen Rechtszustands durch den MTV 1998 war rechtlich zulässig. Im Verhältnis von zwei zeitlich
aufeinanderfolgenden Normen des gleichen Normgebers (hier: MTV 1991 und MTV 1998) gilt, soweit dies beabsichtigt ist, das Ablösungsprinzip.
Die Tarifvertragsparteien können danach jederzeit einen von ihnen selbst früher vereinbarten Tarifvertrag abändern, einschränken oder
aufheben. Die Tarifvertragsparteien können die Ablösung ausdrücklich normieren. Im übrigen ergibt die Auslegung des neuen Tarifvertrags,
inwieweit der bisher geltende Tarifvertrag durch seinen Nachfolger ersetzt werden soll (Wiedemann-Wank Tarifvertragsgesetz 6. Aufl. § 4 Rn.
261; Däubler Tarifvertragsrecht 3. Aufl. Rn. 1471). Im Verhältnis zeitlich aufeinander folgender Tarifverträge gilt insbesondere kein
Günstigkeitsprinzip (Wiedemann-Wank a. a. O. § 4 Rn. 262; Däubler a. a. O. Rn. 1472). Deshalb kann ein neuer Tarifvertrag aus
Arbeitnehmersicht deutlich schlechtere Bedingungen als der alte enthalten (BAG 09.12.1957 - 1 AZR 534/56 - AP TVG § 9 Nr. 5).
57 Der MTV 1998 hätte somit sogar eine ausdrückliche günstigere Regelung des MTV 1991 zur Höhe des Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall für
die Arbeitnehmer verschlechtern können. Erst recht durften die Tarifvertragsparteien eine diesbezügliche erstmalige ausdrückliche Regelung in
den Tarifvertrag aufnehmen, die unter Umständen zu einer geringeren Entgeltfortzahlung als bisher führen würde.
58 2. Der vom Kläger erstrebte Anspruch auf "Bestandsschutz" läßt sich auch nicht aus § 19 MTV 1998 bzw. § 19 MTV 2002 oder aus § 5 LTV 1998
bzw. § 5 LTV 2002 herleiten.
59 a) § 19 MTV 1998 bzw. § 19 MTV 2002 geben Bestandsschutz für günstigere Arbeitsbedingungen, die durch "betriebliche Vereinbarung"
bestehen. An einer betrieblichen Vereinbarung als Grundlage der günstigeren Arbeitsbedingungen fehlt es hier. Vor dem Inkrafttreten des MTV
1998 zahlten die Arbeitgeberinnen des Klägers diesem sowie dessen Kollegen Entgeltfortzahlung nach Maßgabe des
Entgeltfortzahlungsgesetzes in der damals geltenden Fassung, weil der Tarifvertrag keine Sonderregelung vorsah. Eine "betriebliche
Vereinbarung" lag darin nicht. Zwar ist davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien mit dem Begriff der betrieblichen Vereinbarung i. S. d. §
19 MTV 1998/2002 nicht nur Betriebsvereinbarungen im engeren Sinne gemeint haben. Vielmehr spricht einiges für die Annahme, daß davon
auch eine betriebliche Übung erfaßt sein kann. Jedoch muß es sich um eine über das nach Gesetz und Tarifvertrag Geschuldete hinausgehende
Leistung oder sonstige günstige Arbeitsbedingung handeln, die im Betrieb einvernehmlich ständig gewährt bzw. praktiziert wird. In der bloßen
Anwendung von Gesetz und Tarifvertrag liegt keine betriebliche Vereinbarung. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die vom
Kläger zur Veranschaulichung der früheren, für ihn günstigeren Handhabung herangezogenen Monate ausnahmslos vor dem Zeitpunkt des
Inkrafttretens des MTV 1998 (01.09.1998) liegen. Der jüngste Monat, auf den sich der Kläger bezieht, ist der Juni 1998.
60 b) § 5 LTV 1998 bzw. § 5 LTV 2002 betrifft entgegen der Auffassung des Klägers nicht die Berechnungsgrundlagen für die Entgeltfortzahlung im
Krankheitsfall. Das folgt aus dem systematischen Standort der Norm im Lohntarifvertrag. Dessen Regelungsgegenstand ist die Höhe des
Monatsgrundlohns und der verschiedenen Zulagen und Zuschläge, nicht aber deren Einbeziehung oder Nichteinbeziehung in die
Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsvergütung und ähnliches. Systematischer Standort dieser Fragen ist ausschließlich der
Manteltarifvertrag.
B.
I.
61 Der Kläger trägt als unterlegene Partei gem. § 91 ZPO die Kosten des Rechtsstreits.
II.
62 Die Streitwertfestsetzung beruht dem Grunde nach auf § 61 Abs. 1 ArbGG. Die Höhe entspricht dem Wert des beziffert eingeklagten
Hauptforderungsbetrags gem. §§ 3, 4 ZPO.
III.
63 Die Kammer hat die Berufung gem. § 64 Abs. 3 Nr. 2 Buchst. b ArbGG zugelassen. Denn die Kammer hat §§ 15 und 19 MTV 2002 sowie § 5 LTV
2002 abstrakt und fallübergreifend ausgelegt. Der Geltungsbereich des MTV 2002 und des LTV 2002 erstreckt sich jeweils über den Bezirk des
Arbeitsgerichts Karlsruhe hinaus. Die Auslegungsfrage war entscheidungserheblich, da der Anspruch nicht aus anderen Gründen abgewiesen
werden konnte. Insbesondere hielt der Kläger mit dem spätestens am 05.08.2002 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben seines jetzigen
Prozeßbevollmächtigten vom 01.08.2002 die erste Stufe der Ausschlußfrist des § 18 MTV und mit der vorliegenden Klage die zweite Stufe dieser
Ausschlußfrist ein.